Pro und Contra Biontech ab 12: Soll man Kinder impfen lassen?
Europaweit ist die Impfung zugelassen, in Deutschland gibt die Stiko keine allgemeine Impfempfehlung. Nun stecken Eltern erst recht im Dilemma.
N EIN!
Schon vor Monaten schrieben wir in der taz über die Frage, wann denn endlich Kinder und Jugendliche geimpft werden können. Es erschien so logisch: Diese Altersgruppen haben normalerweise viel Kontakt, sie sollen und müssen ihn auch haben. Eine Impfung würde ihnen daher nicht nur die dringend notwendige Rückgabe von Freiheitsrechten ermöglichen, sondern auch die gesamte Gesellschaft schützen. Und schließlich stehen uns Impfstoffe zur Verfügung, die außergewöhnlich gut helfen und offenbar kaum Nebenwirkungen haben.
Monate später ist der erste Impfstoff (Biontech/Pfizer) für die Altersgruppe ab 12 zugelassen, für den zweiten (Moderna) sind die Aussichten gut. Und dennoch: Es ist alles andere als logisch, alle Kinder und Jugendlichen ab 12 so schnell wie möglich zu impfen. Vier wesentliche Gründe dafür sollen hier genannt werden.
Erstens: Kinder und Jugendliche erkranken nur in Einzelfällen ernsthaft an Covid-19 – circa 0,01 Prozent der bekannten Infizierten in der Altersgruppe von 12 bis 17 Jahren musste bislang hierzulande intensivmedizinisch behandelt werden. Es gab insgesamt 2 Todesfälle (0,001 Prozent), beide Betroffenen waren schon vor ihrer Covid-19-Infektion schwer krank. Das schmälert natürlich nicht den Verlust, ist aber ins Verhältnis zu setzen zu einer Sterblichkeit von rund 2 Prozent bei den Infizierten aller Altersgruppen. Folgeerkrankungen wie das Multisystemische Entzündungssyndrom PIMS sind sehr selten und ebenfalls vor allem für Kinder und Jugendliche mit Vorerkrankungen gefährlich. Über Long-Covid-Verläufe bei Kindern und Jugendlichen ist derzeit noch viel zu wenig bekannt, um ein Risiko zu beziffern. Unklar ist ebenfalls, ob eine Impfung vor diesen Folgeerkrankungen überhaupt schützt.
Zweitens: Der bereits zugelassene Impfstoff für Kinder ist nur an rund 1.100 Proband*innen der Altersgruppe systematisch getestet worden, der Nachbeobachtungszeitraum lag bei 2 bis 3 Monaten. Wir wissen – aus vergangenen und der aktuellen Impfkampagne –, dass die Wahrscheinlichkeit sehr seltener Nebenwirkungen erst in der breiten Anwendung und mit ausreichend zeitlichem Abstand beurteilt werden kann. Das ist ein Risiko, das wir für die Erwachsenen eingehen können und müssen – einfach, weil diese deutlich gefährdeter sind, an Covid-19 schwer zu erkranken oder zu versterben. Bei heranwachsenden Menschen, die durch eine Infektion nach bisherigen Erkenntnissen kaum gefährdet sind (siehe Punkt 1), ist die Anwendung einer völlig neuen Impftechnologie, wie sie die mRNA-Impfstoffe nun einmal sind, dagegen besonders sorgsam zu prüfen.
Drittens: Liegt es nicht auch im Gesundheitsinteresse der Kinder und Jugendlichen, endlich wieder ohne Beschränkungen zur Schule oder zum Sport zu gehen und Freund*innen zu sehen? Natürlich. Aber die Wiedererlangung dieser Freiheiten an den Impfstatus zu knüpfen, wäre falsch. Nicht nur, weil ohnehin alle Kinder unter 12 noch deutlich länger auf die Möglichkeit einer Impfung warten müssen. Sondern auch, weil es die Daten zum Infektionsgeschehen unter Kindern und Jugendlichen – von denen es viel zu wenige aus Deutschland gibt – nicht hergeben, etwa die Schulen als besondere Infektionsherde zu betrachten.
Das leitet direkt über zu Punkt vier: der Schutz der Gesellschaft. Noch immer ist Impfstoff knapp. Das heißt, eine Impfung für ein gesundes, kaum gefährdetes Kind ist eine Impfung weniger für einen potenziell deutlich gefährdeteren Erwachsenen. Der wiederum schützt mit einer Impfung nicht nur seine Gesundheit, sondern auch die Kinder in seinem Umfeld vor Infektionen. Denn die raren Studien legen nahe, dass Infektionen vor allem aus den Familien in die Schulen und Kitas getragen werden und nicht andersherum.
Es gibt besondere Familienkonstellationen – zum Beispiel mit vorerkrankten Kindern – in denen die Risiko-Nutzen-Abwägung auch jetzt schon zugunsten einer Impfung der Heranwachsenden ausfallen kann. Letztlich hat das jede Familie individuell zu entscheiden. Aber ein allgemeines „Und jetzt alle ab 12 zur Impfung“ – das kann es auf Grundlage der bisherigen Daten nicht geben. Manuela Heim
JA!
Viele Eltern fragen sich: Was, wenn die Corona-Impfung von Biontech/Pfizer bei Kindern seltene, aber schwere Spätfolgen hervorruft, die jetzt noch nicht sichtbar sind? Ich frage: Was, wenn eine Corona-Infektion bei Kindern schwere Spätfolgen auslöst und die vielleicht gar nicht mal so selten sind?
Schon jetzt ist bekannt, dass auch viele der ganz Jungen an Long-Covid leiden. Dem Virologen Christian Drosten zufolge haben etwa 4,5 Prozent der infizierten Kinder selbst bei einem milden Verlauf nach einem Monat noch Symptome wie Geruchsverlust, Geschmacksverlust und dauerhafte Müdigkeit. „Will man das für sein Kind?“, fragt er in einem Interview mit dem Schweizer Online-Magazin Republik. „Vier Prozent sind nicht wenig.“ Das andere sei das sogenannte Multisystemische Entzündungssyndrom PIMS, das bei einem von ein paar tausend Kindern auftrete – eine schwere Erkrankung, die bis zu sechs Monate dauern kann. Drosten würde sein Kind impfen lassen, und ich sehe es genauso.
Die ständige Impfkommission (Stiko) argumentiert, dass bei der Studie für die Zulassung des Biontech-Impfstoffs nur 1.131 Kinder im Alter von 12 bis 16 Jahren geimpft wurden. Das ist richtig. Doch eine Studie ist letztlich nur eine Simulation des wirklichen Lebens, und im wirklichen Leben sieht es so aus: Allein in den USA wurden bereits bis zur ersten Juniwoche 6,5 Millionen Kinder dieser Altersgruppe mindestens einmal geimpft.
Von schwerwiegenden Nebenwirkungen ist bisher nichts bekannt. Die Stiko berücksichtigt dies nicht und fürchtet sich davor, wie sie selbst hervorhebt, dass es kommen könnte wie bei dem Impfstoff für Schweinegrippe, wo zwei bis drei Jahre später die Schlafkrankheit (Narkolepsie) als Nebenwirkung entdeckt wurde.
Allerdings: Es war keine Spätfolge. Die Narkolepsie ist nur so selten, dass sie zuerst nicht mit der Impfung in Zusammenhang gebracht wurde. Aufgetreten ist sie jedoch schon in den ersten Wochen. „In der Geschichte der Impfstoffe hat es nie echte Langzeitwirkungen gegeben“, sagt Alena Buyx, Vorsitzender des Ethikrats und Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin.
Die Stiko möchte vor einer allgemeinen Impfempfehlung dennoch lieber weiter abwarten, bis die Impfkampagnen bei Kindern in anderen Ländern gelaufen und deren Daten wissenschaftlich ausgewertet sind. Man könnte es vorsichtig nennen. Doch meiner Ansicht nach steckt hinter dieser Herangehensweise gleichzeitig eine sehr problematische Haltung: Testet den Impfstoff doch bitte erstmal an anderen Kindern in anderen Ländern, bevor wir ihn unseren wertvollen deutschen Kindern verabreichen. Das wirkt egoistisch und überheblich.
Schlussendlich geht es bei meinem Ja zur Impfung auch um die Kinder selbst und ihre Wünsche. Über ein Jahr lang haben sie nichts anderes gehört, als dass das Virus gefährlich ist, und deshalb musste ihr gesamtes Leben auf den Kopf gestellt werden. Maske, Abstand, Mundschutz, monatelang Unterricht am zugigen Fenster oder gar keine Schule, keine Freunde, keine Gemeinschaft, keine normale Entwicklung. Viele mögen theoretisch wissen, dass sie als Kinder oder Jugendliche keinen schweren Verlauf zu erwarten haben, haben aber dennoch Angst vor der Pandemie. Sie möchten, genau wie die Erwachsenen, endlich wieder entspannter durchs Leben gehen, ohne Angst vor einer Infektion. So ist jedenfalls meine Erfahrung.
Deshalb würde ich mein Kind nicht nur impfen lassen, sondern es wurde vor drei Tagen bereits geimpft. Die Erleichterung ist groß. Schließlich weiß niemand, ob eine der zukünftigen Mutationen nicht doch auch Kinder schwer erkranken lässt. Silke Mertins
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