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Präsidentschaftswahlen in ArgentinienVotum der Verzweiflung

Jürgen Vogt
Kommentar von Jürgen Vogt

Javier Milei wird Präsident. Die Argentinier haben den Peronismus satt – und wählten einen „Anarcho-Kapitalisten“ als vermeintlich kleineres Übel.

Populist und „Anarcho-Kapitalist“: Javier Milei Foto: Augustin Marcarian/reuters

A rgentinien ist gesprungen. Der selbsterklärte Anarcho-Kapitalist Javier Milei hat die Stichwahl um die Präsidentschaft deutlich gewonnen. Laut Verlierer Sergio Massa bedeutet dies einen Sprung in den Abgrund: Mehr Armut, mehr Arbeitslosigkeit und einen massiven Abbau des Staates und seiner Sozialleistungen würde das bedeuten. Doch die Mehrheit der 35,4 Millionen Wahlberechtigten hat Politiker wie Massa, den amtierenden Präsidenten Alberto Fernández oder Vizepräsidentin Cristina Kirchner so satt, dass sie am Sonntag die Angst vor dem Sprung verloren hatte.

Die Wahl zwischen Milei oder Massa war die Wahl zwischen einem freien Fall und einem kontrollierten Absturz. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung leben bereits in Armut. Die Jahresinflation galoppiert in Richtung 180 Prozent. Die Staatsschulden sind untilgbar, die Kassen leer. Die Zentralbank ist pleite, und die Privatwirtschaft schiebt gut 40 Milliarden Dollarschulden vor sich her, weil sie zwar in immer wertloseren Pesos schwimmt, diese aber nicht in eben nicht vorhandene Dollar eintauschen kann, um die notwendigen Importe zu bezahlen.

Mileis Triumph hat mehrere Väter und Mütter. Einer davon ist der ehemalige konservative Präsident Mauricio Macri. Kaum war seine Kandidatin Patricia Bullrich in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl ausgeschieden, begann er Wahlkampf für Milei zu machen. Seine zentrale Botschaft? Er würde dafür sorgen, dass der dialog- und kritikunfähige Choleriker Milei nicht aus dem Ruder läuft. Dazu kommt ihm mehr als gelegen, dass der politische Neuling Milei nur ein Bruchteil der geschätzten 5.000 Funktionäre stellen kann, die er als Präsident braucht, um die entscheidenden Stellen im Staatsapparat zu besetzen. Hier wird Macri helfend und kontrollierend eingreifen.

Peronisten in der Opposition

Das Wahlversprechen von Milei, dem Kirchnerismus ein Ende zu setzen, wird sich nicht erfüllen. Im Gegenteil: Die politische Polarisierung wird zunehmen. Mileis angekündigte Kahlschlagpolitik wird zu heftigen sozialen Auseinandersetzungen und Abwehrkämpfen der sich zukünftig in der Oppositionsrolle wiederfindenden Peronisten führen. Allen voran Cristina Kirchner, die in der mit weitem Abstand bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires eine mächtige Hochburg hat und dort den Gouverneur stellt.

In der Außenpolitik wird sich einiges ändern. Milei hat angekündigt, dass er fest zu den USA und Israel stehen wird. Den Unternehmern hat er erklärt, dass sie weiterhin mit China und Brasilien Geschäfte machen können, dass er sich aber nicht mit Kommunisten wie Xi Jinping oder Lula da Silva an einen Tisch setzen wird. Als Marktradikaler und Klimawandelleugner wird er für die Ausplünderung und den Export der natürlichen Ressourcen keine umweltschützenden Hürden aufstellen.

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Jürgen Vogt
Korrespondent Südamerika
Kommt aus Karlsruhe. Studierte Politische Wissenschaft in Hamburg und Berlin und arbeitete zwölf Jahre als Redakteur und Geschäftsführer der Lateinamerika Nachrichten in Berlin. Seit 2005 lebt er in Buenos Aires. Er ist Autor des Reisehandbuchs “Argentinien”, 2024, Reise Know-How Verlag.
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30 Kommentare

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  • Das Kernproblem Argentiniens ist, schon seit Jahrzehnten, daß sich dort eine extrem "Reiche" Elite konsequent vom Rest der Bevölkerung abschirrmt..und dabei so korrupt ist, daß für die einfachen Menschen gerade noch genug bleibt..aber sich die Wirtschaft samt Finanzsektor permanent auf "Schleuderkurs" befindet.

    Das erklärt zumindest z.T. den "Erfolg" eines Rechtspopulistischen Aussenseiters.

    Allerdings erscheint es dann doch höchst zweifelhaft, daß dieser Mann das korrupte System aufbrechen wird.

    Wohl eher im Gegenteil..die Menschen in Argentinien tun mir jetzt schon leid..

    Für alle anderen Gesellschaften, die mit Rechspopulisten zu tun haben, könnten die kommenden Ereignisse in Argentina dagegen sehr aufschlussreich werden.

    • @Wunderwelt:

      Die Logik eschließt sich mir nicht. 57% der Argentinier haben ihn gewählt, nicht eine Elite.



      von den 57% geht es den meisten schlecht und sie wollen Veränderung.

      • @Michael Renper:

        Zur Elite gehört dazu, sehr viel Geld für Kampagnearbeit und Lobbyismus auszugeben u.a. durch das konservative und offen rassistisch-afd-affine Kamapgnenetzwerk X, ehemals Twitter.



        Im Internet gilt, wie häufig auch in der Welt sonst, nicht etwa ein Mensch = eine Stimme sondern viel mehr ein Dollar = eine Stimme.



        So erschließt es sich für mich sehr wohl, dass es den Eliten gelungen ist Argentinien mit den üblichen identitären Spaltthemen für sich zu kapern - was in Brasilien, Chile und Columbien neuerdings missling.



        Schauen wir, dass wir in Europa die Klans der superreichen und Oligarchen schön im Schach halten - und ihre Steuer zahlen lassen. Argentinien werden sie jetzt fressen. Die Menschen werden dafür zahlen.

  • In der Le Monde Diplomatique aus dem Oktober ist die Wirtschaftsgeschichte Argentiniens der letzten 30 Jahre dargelegt. Es wird deutlich, dass schon sehr viele Versuche unternommen wurden, der Wirtschaftskrise Herr zu werden. Keiner hat mittelfristig gewirkt. Es konnten sich dort verschiedene (kapitalistische) Wirtschaftskonzepte austoben, keines war erfolgreich. Jetzt kommt eben ein schräger Außenseiter ans Ruder. Was ich von hier nicht verstehe und was auch die LMD sowie der TAZ-Beitrag hier nicht klärt, ist, warum die Argentinier nach dem fortwährenden Desaster weiter Politikern glaubt, die mit kapitalistischen Rezepten ankommen. Was ich zweitens nicht ganz (etwas schon, man braucht ja Expertise um die Krise zu überwinden) verstehe, ist, dass sie ausgerechnet Ökonomen aufs höchste Amt wählen. Wenn die verschiedenen Rezepte bisher nicht fruchteten, muss man vielleicht ganz andere Stellschrauben drehen? Ich hoffe trotzdem (auch wenn ich es nicht glaube), dass der schräge Typ Erfolg hat, denn in Argentinien gibt es ziemlich schlimme Armut.

    • @JK83:

      Schräger Außenseiter?



      Er ist doch wie ein rechtskonservativer Standardprodukt.



      Der reiht sich wie per copy and paste in die Reihe sexistisch patriarchale rechtskonservative Frontfiguren wie Tump, Bolsonaro, Orban, Putin, Asad, Johnsson, Erdogan, Le Pen, Meloni usw usw usw.



      Das dies Leute auch von Menschen, die keine Milliardäre sind, gewählt werden, wundert auch mich sehr. Vielleicht stimmt es, dass Geld regiert die Welt.

    • @JK83:

      Vielleicht sollten Sie den Artkel nochmal lesen.



      Argentinien hat seit 90 Jahren Peronismus. Dieser zeichnet sich gerade durch sozialistische (und antionalistische) Ansätze aus.



      Sauberen Kapitalismus hatte Argentinien zuletzt in den 1920ern.

      • @Michael Renper:

        1) Nein, sie sollten sich die Wahlergebnisse Agrentiniens seit den 90er Jahren durchlesen. Dort gab es ganz verschiedene zugegeben kreative wirtschaftspolitische Versuche, aber alle fussten auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln. Wir hatten dort neoliberale und linke Peronisten, wir hatten von 2015 - 2019 den Austerität und Freihandel begrüßenden Macri als Präsidenten. Der letzte nachfolgende Präsident Fernandez bezeichnete sich als "Linksliberal", hat aber auch einen Sparkurs für IWF-Kredite mitgetragen. Unter dem Strich wurde in Argentinien in der >3 Jahrzehnte dauernden Krise allerhand probiert, ohne den Besitz an den Produktionsmitteln anzutasten. Das ist die eine Sache, die man sicher einfach erklären kann; was man schwerer erklären kann, ist dass man mit diesen Erfahrungen neue wirtschaftspolitische Heilsbringer erhofft (Milei), die ultrakapitalistisch wenn auch mit ganz spezieller Nuancierung sind.



        2) Ja, der ist ein schräger Außenseiter. Ist auch dem LMD- Artikel zu entnehmen. Was Milei zum Beispiel von dem Expräsidenten Brasiliens unterscheidet, ist eine ausgeprägte Staatsfeindlichkeit (gut: Nachtwächterstaat). Das ist absolut nicht "klassisch" für Rechtspopulisten und für typische sonstige Rechte.

        Insofern: Vielleicht kann ich den Ratschlag, den Artikel nochmal zu lesen dadurch erwidern, dass man vielleicht mal etwas genauer sowohl die argentinische GEschichte als auch die aktuellen Politiker betrachtet.

        Guten Abend.

      • @Michael Renper:

        Und wie würden Sie Menem einordnen? Als Sozialisten?!

      • @Michael Renper:

        Was ist "sauberen Kapitalismus"?

  • Das kommt dabei heraus, wenn auch sonst nur schlechte Kandidaten zur Wahl stehen.

    Das sollte den USA aber auch unserer Elite eine Warnung sein. Bernd H. freut sich schon.

    • @Sonntagssegler:

      Die Anbindung an den Dollar hat in Argentinien das Rentensystem kollabieren lassen, alle Rentner enteignet und zur Milliardenverschuldung geführt. Mehr vom Gleichen?

  • Eine Anbindung an den Dollar könnte wirklich etwas bringen wenn sonst die Rahmenbedingungen für eine liberale Wirtschaftspolitik gegeben sind.

    • @Timelot:

      genau diese Anbindung an den Dollar ist der Grund für die jetzige Misere...

      • @nutzer:

        Nein, es gibt zur Zeit keine Dollarisierung der Wirtschaft.



        Zur Zeit gibt es einen künstlich gestützten Wechselkusr mit mehreren staatlich dirigierte Wechselkuren die planwirtschaftlich gestuert werden.

  • Das Problem ist halt das das Massa für ein mehr vom Alten stand was einfach gescheitert ist. Keynes hatte ein tolle Idee, in schlechten Zeiten Geld ausgeben und in guten die Schulden zurückzahlen bzw. Guthaben anlegen, das Problem ist aber halt das linkspopulistische Politiker immer noch einen Grund finden warum man weiter Geld ausgeben muss - noch mehr Grundsicherung, noch mehr Bildung, noch mehr Rente etc. ist zwar nobel aber in einer Welt der begrenzten Ressourcen nicht nachhaltig und machbar. Tritt dann eine Wirtschaftskrise auf trifft sie um so härter und dem Staat fehlen dann die Mittel. Ist Milei die Lösung? Vermutlich nicht, aber die Peronisten sind es definitiv nicht. Die Finanzen müssen in Ordnung gebracht werden, ja das bedeutet Leid für jene die vom Staat abhängig sind, aber es führt kein Weg daran vorbei, wie der Artikel so schön sagt ist nicht nur der Staat sondern auch die Wirtschaft hoch verschuldet, d.h. es ist kein Geld da. Es ist nobel jeden versorgen zu wollen, aber wenn kein Brot da ist und der Herrgott kein Mana vom Himmel regnen lässt ist halt nichts möglich.

    • @Machiavelli:

      "Brot" ist genügend da. Auch ein argentinischer Sozialstaat wäre (mit kleinen Abstrichen) finanzierbar, jedoch nur wenn die oberen 10 Prozent einen höheren Anteil zahlen würden.



      Das größte Problem bei fast allen Sozialstaten ist, dass er im Kern von der unteren bis oberen Mittelschicht finanziert wird.

    • @Machiavelli:

      Gilt übrigens auch für konservative Politiker die dann gerne irgendwelche Steuersenkungen oder Prestigeprojekte durchsetzen anstatt Geld zu sparen wenn die Zeiten gut sind.

  • Und was daran hat jetzt irgendwas mit Anarchie zu tun?

    • @Hannes Hegel:

      Anarchisten lehnen den Staat ab.

      "Anarchokapitalismus" heisst, dass der Staat auf jegliche Regulation des Kapitals verzichtet, also völlig ungezügelter Kapitalismus.

      • @Uns Uwe:

        Nein, 'Anarchie' ist Abwesenheit von Herrschaft.

        de.m.wikipedia.org/wiki/Anarchie

        Ziemlich unvereinbar mit kapitalistischen Vorstellungen, würde ich sagen.

        • @Hannes Hegel:

          Doch, Anarchokapitalismus gibt es schon länger und ist ein fester Bestandteil des Anarchie-Spektrums, der entsprechende Wikipedia-Artikel ist diesbezüglich recht interessant, vor allem auch was die Schriften von Murray Rothbard betrifft…im Anarchokapitalismus finden sich einige interessante Ansätze für eine herrschaftsfreie Gesellschaft und auch recht progressive Standpunkte bezüglich Abtreibung und Drogenkonsum.

          • @Saile:

            Also laut erwähntem Wiki ist selbst Rothbard der Ansicht, es bestehe kein Zusammenhang mit Anarchismus...



            Es handelt sich hier m.E. eher um den Versuch einer Aufwertung dieses ideologisch doch recht zweifelhaften Konstruktes. Eine schwarz-gelbe Flagge macht eine Ideologie nicht emanzipatorisch; daher würden wohl tendenziell alle Vertreter:innen der sonstigen Bestandteile des Spektrums dem Anarcho-Kapitalismus die Zugehörigkeit absprechen.

  • Wie kommt es, dass das Land so arm ist? Gibt es dort keine Rohstoffe?

    • @Patricia Winter:

      die marktgläubige Kopplung des Peso an den Dollar war`s, nach dem die wirtschaftl. Entwicklung Argentiniens nicht mehr mit dem Dolarkurs vereinbar war wurde die Kopplung aufgehoben, der Peso stürzte ab und stürzt noch immer, die Schulden sind aber nach wie vor in Dollar, das war ja defakto das Zahlungsmittel in Argentinien, lediglich mit anderen Geldscheinen.



      Dieser Schuldenberg wächst immer weiter, weil der Peso weiter abstürzt. Die Schulden sind nicht mehr zu bedienen. Rohstoffe hin oder her Argentinien steckt in einer Falle.

      • @nutzer:

        Danke. Sowas hatte ich befürchtet.

    • @Patricia Winter:

      Argentinien produziert Lebensmittel zur Versorgung von 400 Millionen Menschen, die jedoch exportiert werden.

      • @Linnemice:

        Danke. Auch nicht schön. Rindfleisch?

  • Für Argentinien wird es jetzt noch steiler abwärts gehen. Ein paar Monate oder ein Jahr kann er sein Volk blenden, dann hilft ihm nur noch Lüge und Gewalt um an der Macht zu bleiben.

  • Anarcho-Kapitalist ?



    Für jede idiotische Idee gibt es auf dieser Welt einen der sie umsetzt....



    Als nächstes kann dann nur noch eine faschistische Diktatur, am wahrscheinlichsten in Form eines Militärputsches kommen. Nach diesem Nackenschlag und der absoluten Aufgabe jeglicher staatlicher Kontrollen wird der Wunsch nach einem der richtig aufräumt unausweichlich sein.



    Dass Milei Erfolg haben wird, ist ausgeschlossen, erfolgreich wird er nur darin sein, den Besitzenden mehr Gewinn zuzuschanzen, inklusive sich selbst....

    • @nutzer:

      Na ja, sich in die eigene Tasche zu wirtschaften haben die Peronisten und der Kirchner-Clan auch ganz gut geschafft. Frau Kirchner wurde ja sogar zu Knast verurteilt deswegen, aber muss nicht rein, weil... weil das halt nicht geht in Peronistan....

      Einige Meilen weiter westlich in Chile haben semi-Anarcochokapitalsten, genannt Chicago-Boys, es geschafft, Chile vom ärmsten Land Südamerikas zum reichsten zu machen (neben Costa Rica). Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben. ;-)