Polizeigewalt in Hamburg: Ein Irrtum mit Folgen
Der Altenpfleger John H. ist grundlos ins Visier von Hamburger Zivilfahndern geraten. Die Folgen der Verletzungen begleiten ihn bis heute.
A n der Ampel bleibt John H. stehen. „Genau hier ist es passiert“, sagt er. John H. schaut weg. Das Stück groben Asphalts gegenüber der Bushaltestelle Veilchenweg weckt Erinnerungen. Es fällt ihm schwer, über das zu sprechen, was er am 18. April erlebt hat.
John H. war auf seinem E-Bike unterwegs, wie jeden Tag. Mitten in Hamburg, im Stadtteil Eimsbüttel. Dort lebt er, dort arbeitet er als Altenpfleger bei einem Pflegedienst. Mit 15 Jahren ist John H. aus Ghana nach Deutschland gekommen. Seitdem ist Hamburg sein Zuhause. Täglich besucht der 31-Jährige bis zu 25 Patient*innen und legt dabei mehr als 30 Kilometer mit dem Rad zurück. Er bringt ihnen Medikamente und schaut, wie es ihnen geht. Während der Coronapandemie muss er sich vorsehen, dass er keine Infektionen weiterträgt, auch wenn er für jeden Einzelnen nur wenig Zeit hat. „Es ist ein schönes Gefühl, Menschen helfen zu können“, sagt John H. Er spricht leise. „Ich hab viel Geduld – und die braucht man in diesem Job.“
Am 18. April 2020 besucht er etwa zehn Patienten. Dabei fällt ihm auf, dass ihm ein Mann mit roter Baseballkappe hinterherradelt. Doch er denkt sich nichts dabei. Gegen 16 Uhr fährt er zu einem Diabetespatienten. Er spritzt dem älteren Mann Insulin. Nach ein paar Minuten muss er weiter. John H. steigt wieder aufs Rad. Nach 300 Metern reißen ihn drei Männer vom Rad, stürzen sich auf ihn und fixieren ihn am Boden. Einer von ihnen ist der mit der roten Kappe. Sie greifen in seine Hosentaschen. „Ich dachte, die wollen mich ausrauben“, sagt John H. Sie biegen ihm die Arme auf den Rücken, legen ihm Handschellen an. Erst als Passanten vorbeilaufen, sagt einer der Männer: „Alles gut, wir sind von der Polizei.“ Es sind Zivilfahnder.
John H. über die Zivilfahnder der Polizei
Sie fragen John H., was er gerade tut, und verlangen seinen Ausweis. John H. erklärt, dass er für einen Pflegedienst arbeitet, und zeigt ihnen, wo sie in seiner Tasche Arbeitspläne finden. Daraufhin nehmen die Beamten ihm die Handschellen ab und sagen ihm, dass sie ihn für einen Drogenkurier gehalten hätten. Sie hätten einen „Tipp“ bekommen. John H. habe sich auffällig verhalten, sagen sie. Schließlich entschuldigen sich die Polizisten bei ihm. Einer fragt noch: „Wir sind doch jetzt cool miteinander, oder?“
John H. steht unter Schock. Er nickt. Sie gehen, John H. bleibt zurück. Sein E-Bike lässt sich nicht mehr fahren, der Ständer ist abgebrochen. Das Handydisplay ist gesprungen, es bleibt schwarz. Seine Uhr funktioniert auch nicht mehr. Seine Kleidung ist verdreckt. Sein Ellenbogen aufgeschürft. Und im Fuß hat er Schmerzen.
Nach zwei Wochen macht John H. den Vorfall öffentlich
Erst zwei Wochen danach hat John H. den Vorfall in einem langen Text auf Instagram gepostet, weiße Lettern auf schwarzem Grund. Er wollte zeigen, „wie Schwarze Menschen hier in Deutschland“ behandelt werden. Aber er brauchte Zeit dafür. „Ich habe in dem Moment gar nicht verstanden, was mir da passiert ist“, erinnert sich John H. „Ich wollte einfach nur weg.“
Er hatte damals, am 18. April 2020, sein Rad nach Hause geschoben und sich umgezogen. „Alles war voller Staub und Dreck“, erzählt John H. Dann ging er zum Pflegedienst. Dort sprachen die drei Zivilpolizisten gerade mit seinem Chef. „Ich wollte die nicht noch mal sehen“, sagt John H. Sie wollten seine Angaben überprüfen. Und sie entschuldigten sich auch bei John H.s Chef. „Sie schilderten ihm, dass das alles nur ein Missverständnis war“, sagt John H. Sein Chef unterstützte ihn und begleitete ihn auf die Polizeiwache in der Sedanstraße, um sich zu beschweren. Der Polizeibeamte, der dort John H.s Angaben aufnahm, rief die Zivilfahnder an. Die versicherten, dass alles bereits geklärt sei. „Es ist alles cool“, sagte der eine erneut.
John H.s Schwester hat ihn ermutigt, das Erlebnis zu veröffentlichen und sich Hilfe zu suchen. Sein Posting haben inzwischen Tausende gelesen und geteilt. In der Kommentarspalte häufen sich Solidaritätsbekundungen. Ähnliche Erfahrungen werden ausgetauscht. Viele werfen der Polizei Rassismus vor.
Die Hamburger Polizei veröffentlicht daraufhin auf ihrem Instagram-Account eine Antwort auf John H.s Posting – unter den „Highlights“. Sie liest sich wie eine Rechtfertigung. John H.s Verhalten sei „typisch für den Handel mit Drogen gewesen“, heißt es da, weil er mehrere Häuser für kurze Zeit betreten habe. Betäubungsmittelhändler zeigten erfahrungsgemäß ein „ausgeprägtes Fluchtverhalten“. Deshalb hätten die Fahnder zugegriffen. Man habe sich für die „Unannehmlichkeiten des dynamischen Einschreitens“ entschuldigt.
Die Anwältin erstattet Anzeige
John H.s Anwältin Petra Dervishaj hat Anzeige erstattet, wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung im Amt. Zusätzlich, sagt sie, habe sie Anzeige erstattet, da die Zivilfahnder mitten in der Coronapandemie weder Masken noch Handschuhe getragen hätten. Die Polizisten hätten ihrem verwirrten Mandanten zum Abschied sogar die Hände geschüttelt.
Mit der öffentlichen Entschuldigung habe die Polizei ihre Schuld eingestanden, meint Dervishaj. In der Regel erstatte die Polizei in solchen Fällen Strafanzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, das sei aber bislang nicht geschehen. Es gehe daher bei der Anzeige nicht mehr um die Frage, ob der Vorfall passiert ist, sondern wie er strafrechtlich zu bewerten ist. Ihre Erfahrung zeige, dass die Strafverfolgungsbehörden wenig Interesse hätten, Fälle von Polizeigewalt und strukturellem Rassismus öffentlich zu verhandeln.
Den entstandenen Sachschaden hat die Polizei bereits ersetzt. 309,99 Euro hat John H. für sein Handy bekommen, 134,95 Euro für seine Uhr. Für die Reparatur des E-Bikes hat die Polizei nochmal rund 300 Euro an den Pflegedienst gezahlt. Die Leiterin des zuständigen Polizeikommissariats 17 hat John H.s Chef bei einem Besuch mitgeteilt, dass die drei verantwortlichen Zivilpolizisten suspendiert worden seien. Auf Anfrage der taz sagte ein Polizeisprecher dagegen, „erst nach Abschluss der geführten strafrechtlichen Ermittlungen“ werde über „etwaige disziplinarische Folgen“ entschieden.
Gegen die Gewalt der drei Polizisten kann John H. juristisch vorgehen. Aber er fühlt sich auch rassistisch diskriminiert. Er glaubt: Es hat ihn getroffen, weil er Schwarz ist. „Das, was John passiert ist, ist ein Paradebeispiel für Racial Profiling“, sagt die Anwältin Dervishaj. Damit ist gemeint, dass Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder angenommenen ethnischen Herkunft ins Visier der Polizei geraten.
Für das Dezernat Interne Ermittlungen, das die Ermittlungen gegen die Zivilpolizisten führt, spielt das keine Rolle. Die Dienststelle verweist darauf, dass Motivforschung lediglich „Gegenstand kriminalpolizeilicher Ermittlungen“ sei. Dabei sind gerade die Beweggründe für das Eingreifen der Zivilfahnder entscheidend: Hätten sie mit ähnlicher Härte zugegriffen, wenn es sich um eine weiße Kollegin von John H. gehandelt hätte? Hätten sie – oder hätte der angebliche „Tippgeber“ – einen solchen Verdacht dann überhaupt geschöpft?
„Die sehen nur meine Hautfarbe und meine Dreadlocks“
Es ist ja nicht nur dieses eine Erlebnis, das ihn beschäftigt. Auch alltägliche Begegnungen hinterlassen Spuren. John H. erzählt, er werde bei Kontrollen am Flughafen oft rausgewinkt. Misstrauische Blicke, wenn er in den reichen Gegenden des benachbarten Stadtteils Eppendorf sein Fahrrad anschließt, gehören zu seinem Alltag. „Die sehen nur meine Hautfarbe und meine Dreadlocks und denken, dass ich das Fahrrad klaue“, ist John H. überzeugt.
Pressestelle der Polizei Hamburg über John H.
Auch bei der Hamburger Polizei herrschen klare Vorstellungen. Seit Jahren führt sie vor allem auf St. Pauli einen für alle Seiten zermürbenden Kleinkrieg gegen den Drogenhandel. Oder besser: gegen das, was sie davon zu sehen bekommt. Die Hintermänner kriegt sie fast nie zu fassen. Die Straßenhändler schon eher. Viele von ihnen sind Geflüchtete aus afrikanischen Ländern, die sich mit dem Dealen irgendwie über Wasser halten. Die „Erfolge“ sind bescheiden. Mal erwischen die Fahnder jemanden mit ein, zwei Gramm, mal auch nur mit einem halben Joint. Die anlassunabhängigen Kontrollen treffen oft Schwarze. Es gibt auf St. Pauli Schwarze Anwohner, die nach Jahren noch fast täglich kontrolliert werden, von den immer gleichen Polizeibeamten.
Aber im bürgerlich-alternativen Eimsbüttel? Die Polizei begründet ihren Einsatz mit John H.s vermeintlich auffälligem Verhalten. Seine Hautfarbe habe keine Rolle gespielt. „Im konkreten Fall ist der Mann den eingesetzten Zivilfahndern im Rahmen eines Einsatzes zur Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Drogenkriminalität aufgefallen“, schreibt die Pressestelle. Hat die Polizei ein Wahrnehmungsproblem? Denken Polizeibeamte, alle Schwarzen seien Dealer?
Unterricht soll Polizisten sensibilisieren
Polizeisprecher Holger Vehren sagt, in der Aus- und Fortbildung der Polizei Hamburg gebe es „eine Vielzahl von Lehr- und Unterrichtsinhalten zur Vorbeugung gegen Diskriminierung und Racial Profiling“. Man vermittle den Auszubildenden in Polizeiberufskunde unter anderem „die Besonderheiten im Umgang mit Menschen nationaler und ethnischer Minderheiten“. Auch mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz setze man sich auseinander – „im Rahmen eines Vortrages mit anschließender Nachbereitung im Unterricht durch die Gleichstellungsbeauftragte der Hamburger Polizei“. Auch der Politikunterricht gehe auf den Gleichheitsgrundsatz ein, wenn das Grundgesetz vermittelt werde.
Zweihundert Seiten hat der „Berufsbildungsplan für die Ausbildung zum Laufbahnabschnitt I“. Die Worte „Diskriminierung“, „Racial Profiling“, „Rassismus“ oder „Minderheiten“ kommen darin nicht vor.
Konkreter wird es im Studium für den Gehobenen Dienst. Dort setzten sich die Studierenden im Block „Ethik“ 30 Stunden lang „intensiv mit Fragen der polizeilichen Handlungsethik und mit den Menschenrechten“ auseinander, erklärt Vehren. Dabei spiele Racial Profiling „eine prominente Rolle“. Im Umfang von sechs Stunden beschäftige man sich außerdem mit Polizeikultur, Diversität und „Gewalt von und an der Polizei“.
„Es macht einen großen Unterschied, ob man das Grundgesetz behandelt oder ob man sich aktiv mit der Kritik an polizeilicher Arbeit beschäftigt“, sagt Rafael Behr, Professor an der Polizeiakademie Hamburg. „Wir vermitteln keine rassistischen oder diskriminierenden Inhalte, aber wir haben auch keine Strategie, um Diskriminierung in der Polizeipraxis zu verhindern“, so Behr (siehe Interview).
Dabei gibt es in Hamburg seit 2016 das bundesweit einzigartige Institut für transkulturelle Kompetenzen. Es ist Teil der Polizeiakademie und bietet Workshops und Fortbildungen an. Der Leiter ist der Ethnologe Wulf-Dietrich Köpke, früher Direktor des Völkerkundemuseums.
„Verstehen schafft Verständnis“, sagt er. Es sei wichtig, dass sich Polizist*innen mit der kulturellen Vielfalt der Gesellschaft vertraut machen. Die Veranstaltungen seien immer mit Menschen aus anderen Kulturkreisen gemeinsam konzipiert. „Wir haben es mit der Frage zu tun, wie Polizist*innen sich verhalten müssen, um beim Gegenüber den im Alltag durchaus entstehenden Eindruck von Racial Profiling zu vermeiden“, sagt Köpke. Im vergangenen Jahr habe es eine mehrtägige Veranstaltung zu dem Thema für leitende Polizeibeamt*innen gegeben. Das Institut sei intern „mittlerweile gut bekannt“.
John H. nimmt nun einen Umweg auf dem Weg zur Arbeit, damit er nicht ständig an der Ampel am Veilchenweg vorbeifahren muss. „Ich habe Angst, dass ich wieder aus dem Nichts angegriffen werde“, sagt er. Auch das Sprechen über die Tat belastet ihn. „Ich fühle mich einfach nicht gut und denke viel über das nach, was passiert ist.“ Wenn er aufs Fahrrad steigt, lassen ihn die Erinnerungen nicht mehr los.
John H. holt sich Hilfe bei der Beratungsstelle Empower
Um seine Erfahrung zu verarbeiten, hat sich John H. an die Hamburger Beratungsstelle Empower für Opfer rassistischer Gewalt gewandt. „Es tut gut, mit jemandem zu sprechen, der mir auch helfen kann“, sagt John H. nach den ersten Gesprächen. Die Leiterin Nissar Gardi erklärt, dass Betroffene von Polizeigewalt eine „massive Ohnmacht“ erleben, die zu einer Traumatisierung führen könne. Es entstehe ein „Bruch“ in ihrem Weltbild, bei dem sie wahrnehmen würden, dass Teile der Gesellschaft sie nicht als Gleichwertige betrachteten. „Die Verantwortung für eine gründliche und öffentliche Aufklärung liegt bei der Gesellschaft und der Polizei, nicht bei den Betroffenen“, betont Nissar Gardi. Dafür brauche es bei der Polizei unabhängige Stellen, um sich zu beschweren.
Eine solche Stelle wird es in Hamburg auch künftig nicht geben. Die Grünen konnten sie in den gerade beendeten Koalitionsverhandlungen nicht gegen die mit ihnen regierende SPD durchsetzen. Beschwerden über die Polizei wird also weiterhin die Beschwerdestelle entgegennehmen, die dem Polizeipräsidium untersteht.
John H. steht mit dem Rücken zum Fahrradweg am Veilchenweg. „Ich möchte einfach, dass endlich etwas passiert“, sagt er. Er will, dass die nächste Generation nicht mehr unter der Diskriminierung leiden muss, die er erfahren hat. „Menschen in Deutschland müssen erkennen, dass es Polizeigewalt gegen Schwarze nicht nur in den USA gibt“, sagt er.
John H. unterstützt die Proteste nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in Minneapolis vor einem Monat. Er merkt aber, dass er selbst noch Zeit braucht, um seine Erlebnisse zu verarbeiten. Deswegen ist er nicht zur Black-Lives-Matter-Demo gegangen. Aber er schöpft Hoffnung aus den Protesten: „Es ist krass, wie viel plötzlich über Rassismus und Polizeigewalt geredet wird. Wenn sich etwas ändern kann, dann jetzt.“
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