Polizei-Erhebungen in Stuttgart: „Ein rassistisches Narrativ“
Nach der Stuttgarter Krawallnacht will die Polizei die Herkunft der Tatverdächtigten klären. Kriminologe Tobias Singelnstein findet das bedenklich.
Zuvor hatte die Meldung für Empörung gesorgt, die Stuttgarter Polizei wolle unter den meist jugendlichen deutschen Tatverdächtigen „Stammbaumforschung“ betreiben. Die Behörde weist diese Wortwahl zurück. Ein Sprecher der Stadt Stuttgart soll sich den Tonmittschnitt der Gemeinderatssitzung angehört und bestätigt haben, dass Polizeipräsident Frank Lutz den Begriff nicht gebrauchte.
„Ich habe mir erlaubt, den Ausführungen von Lutz einen Namen zu geben und das zugegebenermaßen etwas zugespitzt“, erklärte am Montagnachmittag der Stuttgarter Stadtrat Marcel Roth (Grüne), über dessen Facebookeintrag das Wort „Stammbaumforschung“ in Umlauf geraten war. Ihm gehe es aber „um die Sache und nicht um den Begriff“. Polizeipräsident Frank Lutz habe in seiner Rede „einen eindeutigen Fokus auf Nationalität und Herkunft gelegt“, so Roth. Das in der Ermittlung zu tun sei eine „Form von Rassismus“.
In einer Pressemitteilung der Polizei heißt es, Lutz habe von „bundesweiten Recherchen bei Standesämtern“ gesprochen, „da bei elf deutschen Tatverdächtigen ein Migrationshintergrund noch nicht gesichert ist“. Die Bundesregierung verteidigte das Vorgehen am Montag: Man forsche das „Phänomen“ unter allen möglichen Perspektiven aus, erklärte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums.
„Nur als ein Detail von vielen“
Gerade bei Jugendlichen sei die Prävention besonders wichtig und das soziologische Umfeld deswegen Teil der Ermittlungen. Es mache einen Unterschied, ob jemand erst seit Kurzem im Land sei oder hier geboren und eine „starke Bindung an die Gesellschaft“ habe.
Wenn die Zuwanderungsgeschichte sich auf die Lebensumstände auswirke, könne ihre Erhebung im Jugendstrafverfahren in der Tat „zur Vervollständigung des Bildes“ sinnvoll sein, sagte Singelnstein – „als ein Detail von vielen“. Wenn aber dem Migrationshintergrund selbst eine Bedeutung zugeschrieben und dieser systematisch erhoben werde, „dann wäre das äußerst problematisch“.
In Singelnsteins Augen ist letztlich nicht der Begriff „Stammbaumforschung“ entscheidend – sondern das Handeln der Polizei. Ihm sei nicht klar, welche Schlussfolgerungen aus der Erhebung des Migrationshintergrunds gezogen werden sollen, so der Kriminologe.
Sensibler Umgang angebracht
Öffentlich entstehe durch die Äußerungen der Stuttgarter Polizei der Eindruck, Staatsangehörigkeit oder Migrationshintergrund hätten einen Einfluss auf die Straffälligkeit. „Wir wissen aus der kriminologischen Forschung, dass das nicht stimmt.“ Vielmehr komme es auf die Lebensumstände und soziale Aspekte an, vielleicht noch auf psychische Faktoren.
Akteure wie die AfD seien „sehr bemüht“, Migration und Kriminalität in Zusammenhang zu bringen. Das sei ein „klassisches rechtes und rassistisches Narrativ“. Gerade deshalb sei die Polizei „aufgefordert, in der öffentlichen Debatte sehr sensibel mit diesen Themen umzugehen – statt den Eindruck zu erwecken, es gebe solche Zusammenhänge tatsächlich“, so Singelnstein.
Welche Daten bei wem und zu welchem Zweck erhoben werden sollen, konnte die Pressestelle der Stuttgarter Polizei bis Redaktionsschluss nicht beantworten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien