Politologe zu Armut in Deutschland: „Der Bericht wird missbraucht“
Für den Politologen Butterwegge ist der Armuts- und Reichtumsbericht zu unspezifisch: Reichtum würde darin nur sehr ungenau erfasst – weil es nicht gewollt sei.
taz: Herr Butterwegge, an diesem Mittwoch will die Bundesregierung im Kabinett den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht beschließen. Sie waren Mitglied im wissenschaftlichen Gutachtergremium für den Bericht. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Christoph Butterwegge: Ich habe den Entstehungsprozess des Berichts kritisch begleitet, ohne dass meine Ratschläge befolgt worden wären. Positiv ist auf jeden Fall, dass nun eine Untersuchung der Lebenslagen statt einer Betrachtung der Lebensphasen im Mittelpunkt steht. Hierdurch entgeht man der Gefahr einer Individualisierung des Problems und einer Verabsolutierung des Alterseffekts. Es wird deutlicher, dass die Mittelschicht unter Druck geraten und dafür die Ränder am oberen und unteren Ende der Verteilung gewachsen sind. Und es zeigt sich auch, wie verfestigt Armut und Reichtum sind.
Was sehen Sie kritisch?
Ein zentrales Problem des weit über 500 Seiten starken Armuts- und Reichtumsberichts besteht darin, ein riesiges Datengrab zu sein. So viel statistisches Material in einem Dokument zu finden ist schön, man droht aber den Blick für die wesentlichen Punkte und die eigentlichen Problemlagen zu verlieren. Möglicherweise ist die dadurch erzeugte Unschärfe gewollt. Vor allem aber fehlt eine Analyse des strukturellen Zusammenhangs zwischen Armut und Reichtum.
Wie meinen Sie das?
Bertolt Brecht hat schon in den 1930er Jahren die Begegnung eines armen und eines reichen Mannes beschrieben. Da sagt der eine zu dem anderen: „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Dieser Blick auf den Kausalzusammenhang zwischen niedrigen Löhnen und hohen Gewinnen fehlt im Bericht komplett.
Das müssen Sie genauer erklären.
Wer wenig Geld hat, wie eine Kurzarbeiterin, geht zum Discounter, um Geld zu sparen, oder muss in den Dispo bei der Bank. Damit macht sie die Familien, denen Ketten wie Aldi oder Lidl gehören, noch reicher. Diese sehr kleine Gruppe von extrem Vermögenden taucht im Bericht ebenso wenig auf wie die Großaktionäre der Industriekonzerne und Finanzkonglomerate wie Blackrock. Die Bundesregierung hinkt weit hinter der Einsicht her, dass ein kapitalistisches Wirtschaftssystem auf sozialer Ungleichheit basiert, die sich durch eine neoliberale Politik weiter verschärft. Dazu haben die Demontage des Sozialstaates und eine Steuerpolitik, die Gutverdienende und Vermögende enorm entlastet, beigetragen.
70, hat bis 2016 Politikwissenschaften an der Universität zu Köln gelehrt.
Allerdings wird Reichtum im neuen Bericht detaillierter analysiert?
Ja, und das ist eine Verbesserung gegenüber früheren Berichten. Erstmals hat das DIW Hochvermögende über eine repräsentative Zusatzstichprobe genauer unter die Lupe genommen. Und die Ergebnisse sind erschreckend, tauchen im Bericht allerdings nur abgeschwächt und verklausuliert auf. Später verschwinden die Reichen dann ganz von der Bildfläche des Regierungsberichts.
Wie geht das denn?
Im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung hat man die Bevölkerung acht sozialen Lagen zugeordnet. Die oberste wird aber nicht etwa Reichtum, sondern „Wohlhabenheit“ genannt. Was ist denn das bitte? Ausgerechnet im neuen Armuts- und Reichtumsbericht benennt man Reichtum auf einmal nicht mehr als solchen? Dazu passt, dass diese Kategorie viel zu breit ist und dadurch das Ausmaß der extremen Vermögensungleichheit in Deutschland verschleiert wird. Von Dieter Schwarz, dem als Eigentümer von Lidl und Kaufland mit 41,8 Milliarden Euro Privatvermögen reichsten Deutschen, bis hin zum Stadtbewohner mit Eigentumswohnung und zum Gutverdiener mit einem Nettoeinkommen von 3.900 Euro monatlich fallen alle in dieselbe Kategorie.
In der Vergangenheit gab es immer wieder Kritik daran, dass die Bundesregierung die Berichte schönt.
Ja, die Bundesregierung missbraucht den Bericht stets als Vehikel, um die Erfolge ihrer Politik zu „verkaufen“. Armut und der Reichtum werden hingegen – wo immer möglich – relativiert. Die Einkommensungleichheit soll ausgerechnet seit 2005, als Hartz IV in Kraft trat und der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer mit 42 Prozent auf den niedrigsten Stand seit 1949 sank, nicht mehr zugenommen haben. Geht es um den Anstieg der Armuts(risiko)quote, wird angefügt, dass dieser ja gar nicht so klar ersichtlich sei, und betont, dass alle von der guten wirtschaftlichen Entwicklung profitiert haben.
Sie bestreiten das?
Zieht man den Mikrozensus als größte und aussagekräftigste Sozialstatistik der Bundesrepublik heran, sieht man, dass die Armut und die Einkommensungleichheit gestiegen sind, auch und gerade in den vergangenen Jahren. Von der guten Wirtschaftsentwicklung bis zur Covid-19-Pandemie haben nun wirklich nicht alle Menschen gleichermaßen profitiert.
Die Bundesregierung stellt sich im Bericht selbst ein gutes Zeugnis im Kampf gegen Armut aus.
Ja, der Bericht fungiert als politischer Persilschein. Unter der Rubrik „Zusammenfassung und Maßnahmen“ listet die Bundesregierung alles auf, was sie unternommen hat, und feiert das als Erfolg. Sogar die geringe, gesetzlich vorgeschriebene Anpassung der Hartz-IV-Regelbedarfe und das Baukindergeld, das sogar eher für mehr Ungleichheit gesorgt hat, müssen als Maßnahmen dagegen herhalten. Welch ein Irrwitz!
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