Politische Philosophie der Einwanderung: „Ein milder Nationalismus ist nötig“
Welche legitimen Forderungen hat jemand, der kein Flüchtling ist, aber ein besseres Leben will? David Miller über Moral und Migrationspolitik.
taz: Herr Miller, wir treffen uns hier in Frankfurt, der Stadt, die sich auf den Zuzug von vielen Bankern im Zuge des Brexits vorbereitet. Einwohner fürchten das Steigen der Mietpreise. Angenommen, Bürger würden eine restriktive Visa-Politik für britische Banker fordern: Fänden Sie das moralisch legitim?
David Miller: Menschen haben einigen Anspruch darauf, dass sich ihre Umwelt nicht allzu rasch gegen ihre Wünsche verändert. In London werden daher nicht alle traurig sein, wenn wir einige Banker verlieren. Dort konnten wir die Effekte beobachten, wenn große Mengen von Fremdkapital angelegt werden, was die Wohnkosten in die Höhe treibt und die Londoner aus ihren angestammten Quartieren. Natürlich gibt es immer Veränderungen – das Problem entsteht, wenn sie zu schnell geschehen.
Einer der Gründe für viele Briten mit geringem Einkommen, für den Brexit zu stimmen, waren osteuropäische Migranten im Niedriglohnsektor. Halten Sie das auch für gerechtfertigt?
Es gibt zwei Fragen bezüglich Migranten, die im Niedriglohnsektor arbeiten wollen. Eine ist, ob es zu Lohndumping und damit zu Auswirkungen auf das Lohnniveau der arbeitenden Bevölkerung kommt. Das ist umstritten. Ich halte den sozialen Effekt für bedeutender. Wenn eine hohe Zahl von Menschen aus dem Ausland in die Nachbarschaft zieht, kann das Probleme schaffen – auch wenn es sich um europäische Ausländer handelt, die kulturell möglicherweise gar nicht so verschieden sind. Auch hier gilt: Die Menschen fühlen sich gestört, je schneller die Veränderung geschieht.
Sie gelten als jemand, der einen sozialdemokratischen Blick auf die Gesellschaft hat. Was ist denn das Sozialdemokratische an Ihren Positionen?
In deutschen Begrifflichkeiten könnte man mich als Sozialdemokraten bezeichnen. Aber mein philosophischer Standpunkt ist, dass eine Gesellschaft für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ein gewisses Maß von Gemeinsamkeiten braucht. Deshalb werde ich manchmal als liberaler Nationalist bezeichnet. Aber ich finde: Eine milde Form des Nationalismus ist nötig, um sozialdemokratische Politik umzusetzen.
Sie sprechen sich aber auch für einen, wenn auch schwachen, Kosmopolitismus aus. Wie passt liberaler Nationalismus zum Kosmopolitismus?
Das kann man durchaus verbinden. Als liberaler Nationalist muss man auch über Verantwortung für Menschen jenseits der eigenen Grenzen nachdenken. Hier kommt der Kosmopolitanismus ins Spiel, weil der Staat im Ausland Dinge tun kann, die wir als moralisch inakzeptabel ansehen würden. Ein offensichtlicher Fall: Die Umwelt einer anderen Gesellschaft zu verschmutzen, ist moralisch nicht zu vertreten. Die schwierigere Frage ist: Welche Art von positiven Verpflichtungen haben wir gegenüber Leute jenseits unserer Grenzen?
David Miller, 71, ist Professor für Politische Theorie am Nuffield College in Oxford. Der Suhrkamp Verlag hat vor Kurzem sein Buch „Fremde in unserer Mitte. Politische Philosophie der Einwanderung“ (32 Euro) veröffentlicht.
Welche haben wir?
Die vorrangige Verpflichtung erklärt sich am besten in Begriffen der Menschenrechte. Menschen können Menschenrechte ungeachtet der Zugehörigkeit zu irgendeiner Nation einfordern. Staaten haben auch eine Verantwortung gegenüber Menschen, deren Lebensbedingungen es nicht zulassen, dass Menschenrechte erfüllt werden können: solchen, die in tiefster Armut leben oder in Bürgerkriegsgebieten. Umstritten ist, wie viel Staaten in solchen Fällen tun müssen.
Was muss ein Staat für Flüchtlinge tun? 2015 war die Bundesregierung zunächst der Meinung, dass Deutschland moralisch verpflichtet sei, alle syrischen Flüchtlinge aufzunehmen, die an den Grenzen ankommen.
Das war keine weise Entscheidung und gewiss keine, die moralisch erforderlich war. Aus mehreren Gründen: Erstens hätte die Reaktion auf die Flüchtlingskrise eine koordinierte europäische Antwort sein müssen, nicht eine einseitige Entscheidung eines einzelnen Staates. Was in Deutschland geschah, hat es viel schwieriger gemacht, eine gemeinsame europäische Antwort zu finden. Zweitens hat die Entscheidung, Flüchtlinge aus Syrien regelrecht einzuladen, die langfristigen Auswirkungen nicht bedacht. Nämlich die möglichen Anreize, die das für Menschen schafft, die in einem der Nachbarstaaten Syriens Zuflucht gefunden hatten.
Hätte Deutschland 2015 eine Alternative gehabt?
Lassen Sie uns über eine ideale Antwort auf eine solche Krise nachdenken. Zuerst sollten wir zwischen denjenigen unterscheiden, die nur zeitweise Flüchtlinge sein werden, und denen, für die es keine Rückkehr geben wird und die deshalb in einer westlichen Gesellschaft aufgenommen werden müssten. An letztere könnte man Visa verteilen, indem man etwa in den Flüchtlingscamps diejenigen identifiziert, die eine dauerhafte Umsiedlung am dringendsten brauchen.
Die Bedingungen in diesen Camps waren für fast alle ziemlich schrecklich.
In einigen war das vielleicht der Fall, aber nicht immer. Wenn Sie auf die relativen Kosten schauen, die es verursacht, jemand in einem Camp zu unterstützen im Vergleich dazu, ihn als künftigen Bürger eines Landes wie Deutschland aufzunehmen, dann betragen sie einen winzigen Teil gegenüber der zweiten Variante. Mit begrenzten Mitteln im Verhältnis zu einer riesigen Zahl von Flüchtlingen ist es am effektivsten, zuerst dafür zu sorgen, dass sie vernünftig versorgt werden in den Ländern, wo sie jetzt leben – und dann kann man anfangen, bestimmte Leute zur Umsiedlung nach Europa auszuwählen. So gehen Länder wie Kanada oder Australien damit um.
Kanada nimmt im Vergleich zu Deutschland nur sehr wenige Flüchtlinge auf.
Ja. Aber die Frage ist: Wie viele Flüchtlinge müssen tatsächlich dauerhaft in eine westliche Gesellschaft umgesiedelt werden? In Syrien wird der Bürgerkrieg irgendwann enden. Dann werden viele Menschen zurückkehren und damit beginnen, Syrien wiederaufzubauen.
Sie haben neben dem schwachen Kosmopolitanismus, ein weiteres Prinzip, die nationale Selbstbestimmung. Was heißt das?
Wir müssen das Flüchtlingsproblem zunächst von der Immigration im weiteren Sinne trennen, weil die Staaten bezüglich der Immigration einen sehr weiten Spielraum haben, welche Einwanderungspolitik sie verfolgen wollen. Das reicht von klassischen Einwandererländern wie den USA oder Kanada, wo schon immer viele Menschen ankamen und mehr oder weniger erfolgreich integriert wurden, bis hin zu Ländern, die immer schon eine geringe Zuwanderung akzeptierten wie Japan oder einige europäische Länder. Das ist eine Frage der nationalen Selbstbestimmung – eine demokratische Entscheidung, welche Art von Einwanderungspolitik man haben will.
Gesellschaften verändern sich doch ohnehin, mit jeder neuen Generation kommen neue Ideen. Welchen Unterschied macht es, ob die neue Ideen von einer neuen Generation kommen oder von Migranten aus anderen Ländern kommen?
Sicher, Gesellschaften sind nie statisch. Aber bei Einwanderung verläuft die Veränderung oft viel schneller. Wie kulturell divers möchten wir unsere Gesellschaft haben? Manche bevorzugen eine Art von Kaleidoskop von verschiedenen Kulturen, andere eine mehr Mainstream-orientierte Kultur mit einem kleinen Anteil von Minderheiten am Rande. Besonders in europäischen Gesellschaften mit ihren langen geschichtlichen Erinnerungen schätzen es Menschen im Allgemeinen, das zu bewahren, was sie als ihre historisch dominante Kultur ansehen.
Ihr neues Buch „Fremde in unserer Mitte“ ist eine Antwort auf Joseph Carens, der in seinem Band „The Ethics of Immigration“ für offene Grenzen plädiert. Er vergleicht das Privileg, in einem westlichen Land geboren zu sein, mit den Privilegien von Feudalherrn im Mittelalter. Was ist daran falsch?
Das ist eine farbenfrohe Analogie. Aber im Feudalismus waren die Bauern und Leibeigenen den Gesetzen unterworfen. Man konnte ihnen vorschreiben, was sie tun sollten. Heute gibt es zwar viele Ungleichheiten, aber im Allgemeinen ist es nicht der Fall, dass Deutsche Indonesiern sagen, was sie tun sollen. Wer sagt, es sei ungerecht, in ein ärmeres Land hineingeboren zu sein, greift oft ein besonders armes Land wie Somalia heraus und vergleicht es mit zum Beispiel Deutschland. Aber wenn man Ungleichheit zwischen Ländern für das zentrale Problem hält, sollte man über Portugal diskutieren.
Ein Portugiese hat aber das Recht, nach Deutschland zu kommen, ein Somalier nicht.
Ja. Dennoch ist das Hauptproblem nicht die Existenz globaler Ungleichheit, sondern globale Armut. Was ist die Antwort des Westens darauf? Ist es die Aufnahme vieler Migranten – oder zielt unsere Politik darauf ab, arme Gesellschaften bei der Entwicklung zu unterstützen? Die Antwort ist nicht einfach, weil die, die in einer solchen Situation auswandern, bessere Lebenschancen haben als die, die bleiben. Aber wenn viele Leute auswandern, sind die Zurückbleibenden möglicherweise wegen denen, die gegangen sind, schlechter dran. Der Braindrain ist eine sehr ernste Sache für arme Länder.
Welche moralischen Argumente haben wir, jemand den Zugang zu verweigern, der sich ein besseres Leben wünscht?
Nehmen wir an, Sie möchten einen Job haben und sagen dem Chef: Geben Sie mir die Stelle. Und der Chef sagt: Nein, wir brauchen Sie nicht, Sie können die Stelle nicht bekommen. Ihr Job bei uns wäre nicht zu unserem Vorteil, deshalb haben wir das Recht, Ihnen den zu verweigern. Ich möchte Ihre Frage umkehren: Welche legitimen Forderungen hat jemand, der kein Flüchtling ist, aber ein besseres Leben will? Wenn eine Einwanderungspolitik wie in den meisten demokratischen Staaten viele Menschen ausschließt, hat der Staat die Verpflichtung, den Leuten, denen er den Zugang verwehrt, die Gründe zu erklären. Die Antwort ist: Wir haben eine Einwanderungsgrenze, wir haben ein Punktesystem – und ich fürchte, Sie haben leider nicht genug Punkte. Wir haben die Quote für dieses Jahr erreicht.
Die Bewegung für offene Grenzen hat derzeit viel Unterstützung. Wie erklären Sie sich das?
Viele Befürworter sind sehr idealistisch. Liberale und Intellektuelle sorgen sich über Ungleichheiten und das Schicksal von Menschen außerhalb des eigenen Landes. Sie denken, dass Öffnen der Grenzen sei die Lösung. Auf der anderen Seite denken Kapitalisten, das Öffnen der Grenzen sei nützlich, um an billige Arbeiter zu kommen und die Gewerkschaften zu umgehen. Es gibt in dieser Frage eine Koalition zwischen links und rechts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren