Ortsbesuch in der AKW-Stadt Lingen: Es ist schön hier
Der Betrieb des Atomkraftwerks Emsland in Lingen wird bis Mitte April 2023 verlängert. Wie kommt das vor Ort an? Ein Stimmungstest.
Aber da sind die RWE-Fahnen. Und da ist die Terrasse, für den Blick auf die nukleare Festung gegenüber, mit Reaktorkuppel, Schornstein und Kühlturm, alles in fahlem Grau. Hinter einem Wassergraben eine Mauer. Abweisend wirkt das, das „Herzlich willkommen“-Schild am Tor hilft da nicht wirklich.
Im Besucherzentrum lernen wir, wie ein Castorbehälter V/19 aussieht und ein Brennelement Typ 18-24, lesen Sätze wie „Strom ist Leben“. Man kann, per Fahrradelektrizität, Rennwagen über eine Carrerabahn jagen. Ach ja, und die ungesunde Strahlenbelastung: Atomtechnische Anlagen, erfahren wir, sind ein Witz gegen das Zigarettenrauchen und gegen manch ärztliche Diagnosetechnik erst recht.
Vor allem aber lesen wir hier Worte wie: Stilllegung. Rückbau. Dass Kanzler Scholz zwei Tage zuvor kurzerhand Paragraf 7 des Atomgesetzes ausgehebelt hat, das für den betagten 1.400-Megawatt-Druckwasserreaktor ein Ende zum 31. Dezember 2022 vorschreibt, steht hier noch nirgendwo. Bis Mitte April 2023 könnte das Kraftwerk jetzt weiterlaufen, im Streckbetrieb. Stellung nehmen möchte dazu hier niemand.
Das Besucherzentrum ist menschenleer an diesem Mittwochmorgen. Ein starker Kontrast zu der hitzigen Diskussion, die um die Zukunft des Atomkraftwerks Emsland in den letzten Monaten in Politik und Medien geführt worden ist. Vor Ort: nichts.
Auch in Lingens Innenstadt ist es ruhig. Gutgekleidete Menschen, viele Familien darunter, schlendern von Geschäft zu Geschäft, über rotes Pflaster, vorbei an viel Grün und hübschen Fassaden. Nichts deutet darauf hin, dass eine Viertelstunde weiter südlich ein Atomkraftwerk mit Uran hantiert. Gut, manch seltsam geformte Wolkenbank erinnert daran, was aus dem 152 Meter hohen Kühlturm aufsteigt, aber das war’s dann auch. Keine „Atomkraft? Nein, danke!“-Plakate in den Fenstern, keine Sticker an den Laternenpfählen. Die Nuklearanlage an der Ems ist hier unsichtbar.
Vor drei Wochen war das anders. Knapp 300 AKW-Gegner zogen am 1. Oktober vom Bahnhof durch die City zum Marktplatz, auf Einladung von rund zwei Dutzend Organisationen, vom Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz bis zum Linken-Kreisverband Emsland. Eine der Forderungen auf der Demo: „Keine AKW-Laufzeitverlängerungen!“
Femke Gödeker vom Elternverein Restrisiko Emsland war bei den Protesten eine der Rednerinnen. Sie findet den Weiterbetrieb des Meilers „unerklärlich“, sagt sie der taz. Das sei „reine Symbolpolitik entgegen der Faktenlage und mit erhöhtem Sicherheitsrisiko“. Der Beitrag des AKWs zum Jahresenergieverbrauch in Deutschland sei verschwindend gering, eine Strommangellage im Windenergieland Niedersachsen nicht zu erwarten. „Das AKW läuft bereits seit drei Jahren mit verschleppter Sicherheitsüberprüfung“, mahnt sie. Zudem seien die Dampferzeugerheizrohre, in denen Risse festgestellt wurden, bei den letzten Revisionen nicht wieder untersucht worden. Trotzdem soll es nun weiterlaufen. „Die populistische Angstpolitik hat bei der Bevölkerung Wirkung gezeigt“, sagt Gödeker.
300 AKW-Gegner in einer Stadt mit 55.000 Einwohnern? Das ist nicht viel. Zumal manche von ihnen aus dem Umland kamen, einige sogar aus den Niederlanden. Gödeker wundert das nicht: „Die Mehrheitsmeinung hier ist ganz klar gegen uns. Sowohl politisch als auch in der Stadtgemeinschaft.“ Auf 48,2 Prozent kam die Lingener CDU 2021; von 43 Stadtratssitzen belegt sie 20. Sie ist klar atomkraftfreundlich.
Versammlungsleiter und Moderator der Demo war Alexander Vent vom Bündnis Atomkraftgegner_innen im Emsland (AgiEL). Eine wirkliche Überraschung war die Laufzeitverlängerung für die AKW-Gegner vor Ort nicht, sagt er. „Dass es Gegenwehr der Wirtschaft und der Lobbyisten geben würde, war uns klar.“ Sie hätten aber nicht geahnt, dass die Begründung der Verlängerung so wenig nachvollziehbar sein würde. Vent kündigt an, Anfang November „den Protest erneut auf die Straße zu tragen“.
Das Problem: Auch die rührigsten Aktivisten ermüden irgendwann – und sind die Gleichgültigkeit und Abwehr vieler Passanten Leid. Die Proteste gegen den Atomstandort Lingen sind schon viele Jahre alt. Umweltorganisationen wie Robin Wood und Greenpeace haben sich an ihnen beteiligt; es gab Sitzblockaden, Baumkletteraktionen mit Großtransparenten.
Aber viele Lingener arbeiten in der Atomindustrie. Und die weiß, wie sie das Wohlwollen auch anderer Menschen gewinnt: Ohne den Kühlungsbedarf des Kraftwerks gäbe es das Speicherbecken Geeste nicht, 12 Kilometer nördlich. Der 180 Hektar große künstliche See dient nicht nur dem Nukleargeschäft, er ist für seinen Badestrand und seine Gastronomie bekannt, hier kann man segeln, tauchen und windsurfen, zelten und spazieren gehen, es gibt Festivals und ein 50 Hektar großes Feuchtbiotop für Vögel.
AKW-Rückbau-Diskussionen sind die Lingener im Übrigen gewöhnt. Schließlich gibt es in ihrer Stadt, unweit des heute noch aktiven Meilers, seit 1964 das Atomkraftwerk Lingen, einen 1979 stillgelegten Siedewasserreaktor, der noch Jahre der Demontage erfordert. Schon bei dessen Bau sei die Stimmung in der Bevölkerung „eher positiv-abwartend“ gewesen, ist auf der Website des Heimatvereins Lingen zu lesen. Die örtliche Politik habe die Atomwirtschaft begrüßt, nicht zuletzt wegen der Steuereinnahmen. Das scheint teils noch heute so. Die Stadt Lingen ist auch Standort von Deutschlands einziger Brennelementefabrik.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Dass sich Proteste gegen das AKW in Grenzen halten, überrascht also nicht. Grüne Hochburgen wie Hannover und Oldenburg sind weit weg. Gorleben im Wendland ist noch weiter, nicht nur geografisch.
Spricht man Menschen auf der Straße auf das Kraftwerk an, gehen die Meinungen auseinander. Rabea Klaas arbeitet in der Lingener Innenstadt. Sie ist nicht generell gegen Atomkraft, sagt sie. Die habe schließlich Arbeitsplätze in die Region gebracht. Die Laufzeitverlängerung findet sie jedoch „erschütternd“, weil das Unsicherheit in der Bevölkerung schüre. „Erst hieß es, das geht technisch nicht, und jetzt geht es plötzlich doch?“ Falsch findet sie auch, dass „dafür Windräder abgestellt werden“.
„Atomkraft? Gute Sache!“, sagt Zdenek Josefik, der an diesem Mittwoch ein paar Straßenecken entfernt Flöte spielt, vor sich einen Becher mit Münzen. Neben ihm lehnt sein Gepäck, spielt sein Hund. „Ich komme aus Tschechien. Da sind wir mit solchen Kraftwerken aufgewachsen. Lieber ein paar von denen als überall diese Windräder.“
Eine Schülerin, ganz in Schwarz gekleidet, sieht das anders. „Wenn das Ding noch länger läuft, passiert vielleicht irgendwann eine Katastrophe“, sagt sie. Viele, die sie kenne, hätten bei der Landtagswahl ihren Stimmzettel ungültig gemacht. „Wir haben kein Vertrauen mehr in die Politik. Wir sind doch machtlos.“
Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen versteht das gut. Auch er war am 1. Oktober unter den Demorednern. Die Folge der Verlängerung sei totaler Vertrauensverlust, sagt er. „Wenn selbst Gesetze nicht mehr bindend sind, was denn dann?“ Es sei „Wahnsinn, so kurz vor der Deadline alles wieder zu kippen“. Eickhoff fürchtet, dass der Streckbetrieb „der Türöffner ist, den Atomausstieg generell in Frage zu stellen“. Außerdem sei das Kraftwerk technisch gar nicht fit genug. „Das ist sinnlos. Die Brennelemente sind ausgelutscht. Da ist nicht mehr genug Leistung im Reaktor.“
Das sieht auch Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD) so, aber das zählt offenbar nicht. Das Bürgerbüro der Lingener SPD hat an diesem Mittwochmorgen übrigens geschlossen. Es ist vielleicht besser so.
Und Lingens parteiloser Oberbürgermeister Dieter Krone? Er wolle sich zur Laufzeitverlängerung „nicht äußern“, teilt Stadt-Sprecherin Nina Kleene mit. Man bitte „um Verständnis“.
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