Nachruf auf Jenny De La Torre: Die Pionierin
Die Berliner Ärztin Jenny De la Torre engagierte sich unermüdlich für obdachlose Menschen. Ihre Stiftung und ein Gesundheitszentrum helfen, wenn alle Stricke reißen.
Fast jeder, der in Berlin obdachlos ist oder war, kennt diesen Namen: Jenny De la Torre. Sie ist eine Institution. Sie ist der Anker in der Not. Wenn alle Stricke reißen, wenn nichts mehr geht, dann ist da noch Jenny De la Torre. Egal ob ungewaschen oder verlaust, die Obdachlosenärztin ist vorbereitet. Mitsamt ihres ganzen Teams in einem großen Haus mit Garten in der Pflugstraße in Berlin-Mitte.
Das zumindest galt bis zum 10. Juni 2025. An diesem Dienstag ist Jenny De la Torre in Berlin gestorben. Sie wurde 71 Jahre alt. Seit den 90er Jahren leistete sie Pionierarbeit für arme, unversicherte, süchtige und obdachlose Menschen.
Ihre Hilfe organisierte sie in der Jenny De la Torre Stiftung und einem Gesundheitszentrum in der Berliner Pflugstraße. Am Mittwoch teilte die Stiftung mit: „Wir sind in tiefer Trauer verbunden – und in der Verantwortung, ihr Lebenswerk fortzuführen.“ Damit ist klar, dass die Angebote für die Ärmsten der Gesellschaft bestehen bleiben. Auch ein Arzt ist für die hauseigene Praxis des Zentrums bereits gefunden.
Das Haus bleibt so eine Anlaufstelle nicht nur für medizinische Behandlungen, sondern auch für zahnärztliche, psychologische, soziale und rechtliche Hilfe. Mit den Worten der Stiftung finden Menschen dort, was sie sonst oft nicht mehr haben: einen Ort, an dem sie gesehen und ernst genommen werden.
Denn für Jenny De la Torre waren die Obdachlosen nicht das Problem, sondern Symptom einer kranken Gesellschaft. So half sie den Schwächsten von ihren Rechten und Möglichkeiten zu erfahren und gab ihnen damit ihre Autonomie zurück. Ihren Patienten dankte sie, weil „sie mich nicht zur Verzweiflung gebracht haben, sondern die Kraft und die Überzeugung, dass es sich lohnt, für sie und unsere Gesellschaft zu kämpfen.“
Genau diese Haltung machten sie und ihre Arbeit so besonders. Zur taz sagte sie einmal: „Wenn man den Menschen nicht in seiner Gesamtheit wahrnimmt, dann können wir ihm kaum helfen. Ich kann zwar immer wieder seine Wunden heilen, seine Krankheiten behandeln, die er von der Straße mitbringt, aber oberstes Ziel unserer Arbeit hier ist die Reintegration. Ich will, dass die Leute weg von der Straße kommen!“
Aus Peru zum Berliner Ostbahnhof
In die Arbeit mit den Ärmsten stolperte De la Torre, während sie obdachlose Schwangere in Berlin behandelte. Die Frauen kamen manchmal sogar „ohne Schuhe“, wie sie später sagte.
Die Ärztin kam gebürtig aus Peru, sie wuchs in den Anden auf. Erste Erfahrungen mit sehr armen Menschen und deren Krankheiten sammelte sie schon in ihrer Heimat. Sie beschloss, Ärztin zu werden. Mit einem Stipendium kam sie 1976 in die DDR und studierte Medizin in Leipzig. Ihre Fachärztinausbildung absolvierte sie an der Berliner Charité zur Kinderchirurgin, die sie 1990 erfolgreich abschloss. Damals hatte sie noch nicht geplant, Obdachlose in Berlin zu versorgen. Sie zog nach Peru, doch ihre deutsche Ausbildung wurde dort nicht anerkannt. Also kam sie wieder zurück und blieb.
Erschüttert über die große Not und den schlechten Allgemeinzustand der Obdachlosen, bot sie ab 1994 Hilfe in einer Obdachlosenpraxis an, aus einem fensterlosen Raum im Keller am Ostbahnhof. Einmal beschrieb sie das so: „Zwölf Quadratmeter, ohne Fenster, ohne Telefon. (…) Wir hatten keine Medikamente, keine Binden, keine Pflaster, nichts.“ Sie habe Albträume erlitten, weil sie sich hilflos fühlte, ob des Ausmaßes an Verwahrlosung und Elend der Menschen, die zu ihr kamen. Doch Jenny De la Torre kämpfte sich durch, half, wo sie konnte. Sie entwickelte Ideen, schmiedete Pläne, wie sie ihre Arbeit verstetigen und verbessern konnte.
„Das mache ich nicht mit!“
In den folgenden Jahren erfuhr sie Rückschläge. Sie musste wegen Modernisierungsarbeiten umziehen. Unerwartet wurde ihre Stelle von 40 auf 25 Stunden gekürzt. Jenny De la Torre ließ das nicht zu: „Nicht mit mir. Und nicht mit unseren Obdachlosen! Wir haben die Praxis für sie aufgebaut, ich kann es nicht verantworten, ich kann meine Patienten nicht in 25 Stunden adäquat betreuen, das mache ich nicht mit!“, sagte sie damals. Daraufhin kündigte sie aus Protest.
Ermutigt durch ihre Nahestehenden erwuchs aus diesem Protest die Stiftung und letztendlich auch das Gesundheitszentrum in Berlin-Mitte.
Mit diesem Zentrum setzte Jenny De la Torre Maßstäbe. Sie realisierte darin, was vorher nicht einmal denkbar war. Das Bezirksamt stellte mietfrei ein Gebäude zur Verfügung. Nach den Umbauten folgte 2006 die Eröffnung. Mit Spenden finanziert und zu großen Teilen durch Ehrenamt ermöglicht, helfen die Ärztin und ihr Team seitdem sofort, vorurteilsfrei und unbürokratisch.
Nicht selten war die Ärztin in ihrer Arbeit mit den grundlegendsten menschlichen Bedürfnissen konfrontiert. Viele ihrer Patienten waren jahrelang nicht beim Arzt, grundsätzlich misstrauisch und „nicht wartezimmerfähig“, wie es eine Mitarbeiterin mal formulierte. Das Personal musste einen Umgang finden, neue Wege bahnen, für die es noch keine Vorlage gab. Manchmal geht es um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Motive zu finden, warum es sich lohnt, weiterzumachen, nicht aufzugeben, auch dafür ist die Stiftung da. Jenny De la Torre hat immer wieder den Mut bewiesen, sich diesen Fragen gemeinsam mit ihren Patienten zu stellen.
Sie handelte, wo andere aufgaben
Sie sprengte die Grenzen des vermeintlich Möglichen und handelte, wo andere resignierten. Gleichzeitig arbeitete sie konventionell und strukturiert. Sie trug stets einen weißen Kittel in der Praxis, sie siezte ihre Patienten und Patientinnen und wer schon einmal in der Pflugstraße zu Besuch war, weiß, wie tadellos sauber und gepflegt die Räume dort sind.
Für Jenny De la Torre waren Obdachlose keine Taugenichtse oder bloß Opfer: „Ich sage, das sind Bürger, genau wie jeder andere. Nur: Sie haben viel mehr Probleme als andere. Und sie haben ein Recht darauf, diese Probleme lösen zu können.“ Sie nahm sich und ihre Arbeit ernst und gab damit auch ihren Schützlingen das Gefühl, wertvoll und würdig zu sein.
In der Zeit von 9 bis 15 Uhr konnte und kann dort jeder und jede im Haus in der Pflugstraße klopfen, behandelt werden, essen, sich neu einkleiden und sogar eine rechtliche oder psychologische Beratung bekommen.
Das ist ihr Erbe.
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