Nachruf auf Antje Vollmer: Streitbare Pazifistin
Sie setzte das Feminat in der Grünenfraktion durch und war die erste Grüne im Bundestagspräsidium. Jetzt ist Antje Vollmer mit 79 Jahren gestorben.
Keine Frage, für Vollmer war der verbrecherische Krieg Putins in der Ukraine eine Katastrophe, politisch, vor allem persönlich: Gerade sie hatte sich immer für Verständigung, für Aussöhnung, für die Wahl friedlicher Mittel zur Konfliktlösung eingesetzt. Und hierin wusste sie sich einig mit ihrer Partei, zu deren Einflussgrößten sie über die meisten Jahre des grünen Anfangs zählte. Dass sich die Grünen für Waffenlieferungen an die wehrhaften Menschen in der Ukraine einsetzen, war dabei ein Weg, dem sie nicht mehr folgen konnte.
Antje Vollmer, 1943 in Lübbecke, Westfalen, geboren, christlich geprägt, mit einem starken Hauch von moralischer Strenge, studierte Theologie, war Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Sie arbeitete in verschiedenen evangelischen Einrichtungen und war nicht nur nebenher in der „Liga gegen den Imperialismus“ aktiv, einem Verein im Umfeld der maoistischen KPD/AO, der wohl bürgerlichsten K-Gruppe im Spektrum der linksradikalen Szenen.
Zu Beginn der achtziger Jahre näherte sich Vollmer, wie viele einstige Genoss*innen, den frisch zur politischen Welt gekommenen Grünen an, 1983 zog sie gar, zunächst als Parteilose, erstmals für sie in den Bundestag ein. In der Grünenfraktion war sie es wesentlich, die 1984 das erste Feminat durchsetzte: Alle Leitungsposten wurden ausschließlich von Frauen besetzt. Sie, die schon damals sendungsbewusste Jungpolitikerin, mittendrin.
Für eine Welt der Abrüstung
Antje Vollmer verstand sich immer als Kritikerin der bis dahin existierenden „Systeme“. Im Privaten mochte ihr intensiver Zug ins Antikommerzielle, in heftigem Widerwillen gegen jedes Unterhaltsame auffällig sein, auch ihr kühler Blick auf die angeblichen Errungenschaften des realen Sozialismus sowjetischer Prägung darf nicht unerwähnt bleiben.
Sie wollte eine Welt der Abrüstung, des Verzichts auf Feindstiftungen. Sie stand für den unbedingten Willen zum Gespräch, zur Vermittlung, zur Berücksichtigung, wenn man so will, für die Nutzung aller Versöhnungschancen. Lieber eine weitere Wange dem Schläger hinhalten, darauf vertrauend, dass allzu heftige Gegenwehr nur noch wehrloser mache – und dass es Friedensoptionen gibt.
Sie hat früh das politische Gespräch auch mit Leuten aus der Union gesucht, denn es seien Parlamentskolleg:innen, keine Feinde, so Vollmer. Rot-Grün war ihr allenfalls eine Option, habituell standen ihr Liberale und Liberalkonservative durchaus näher – Menschen, die die Blicke des Gegenübers mit einbrachten. Vollmer wurde, auch im Unionslager anerkannt, 1994 zur ersten grünen Bundestagsvizepräsidentin.
Kurzzeit-taz-Redakteurin
Als die bundesdeutschen Grünen 1990 bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen aus dem Bundestag flogen, fand Antje Vollmer einige Monate berufstätiges Exil in der taz – als Inlandsredakteurin. Im taz-Archiv sind eine Fülle ihrer Texte gerade aus jener Zeit zu finden. Erkennbar wird bei der nochmaligen Lektüre: Vollmers politische Interventionen sind kaum zu zählen.
Gegen die Schwarze Pädagogik der Heimerziehung in der Bundesrepublik bis in die siebziger Jahre – und für ihre Aufarbeitung in einer Sonderkommission; für den Kampf gegen die Diabolisierung des politischen Terrorismus – und für einen Dialog mit den inhaftierten Mitgliedern der RAF zur Beendigung terroristischer Gewalt.
Ihre Helden: Václav Havel, der tschechoslowakische Bürgerrechtler und spätere Präsident der Tschechischen Republik, vor allem aber Michail Gorbatschow, der Kommunist, der seine Sowjetunion, ökonomisch und moralisch in jeder Hinsicht vor dem Bankrott, mit zur Implosion brachte.
Diasporische Figur im grünen Umfeld
Generell lautete ihr Credo: Man müsse die Gründe für alles menschliche Tun verstehen – und das schaffe man nicht, wenn man nur in den Freund-Feind-Modus schalte. Ihre womöglich größte Ehre war der 2003 durch Vaclav Havel verliehene Tomáš-Garrigue-Masaryk-Orden der Tschechischen Republik für ihre Verdienste um die Aussöhnung mit diesem Nachbarland. Das letzte Interview mit ihr in der taz erschien 2015: Es war ein flammender Appell für einen besseren deutschen Umgang mit Griechenland.
Sie war eine strikte Pazifistin, wandte sich gegen den Nato-Krieg gegen das restjugoslawische Milošević-Regime wie auch gegen den Afghanistankrieg. Zuletzt gehörte sie zu den Erstunterzeichner*innen von Sahra Wagenknechts und Alice Schwarzers „Manifest für Frieden“. Mit anderen Worten: Sie war in ihren beiden letzten Lebensjahrzehnten mehr und mehr zu einer diasporischen Figur in ihrem grünen Umfeld geworden.
Ihre Partei hat ihr sehr viel zu verdanken – und sei es Vollmers Leistung, den einstigen Schmuddelkindern der Politik zu einer gewissen Respektabilität in der politischen Arena verholfen zu haben. Sie verdient einen sehr prominenten Platz in der Hall of Fame der grünen Bewegung. Am Mittwoch ist sie im Alter von 79 Jahren gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung