Nach dem Tod von Alexei Nawalny: Leichnam scheint unauffindbar zu sein
Nawalnys Mutter und seinem Anwalt ist es bisher nicht gelungen, den Toten zu sehen. Trotz Repressionen äußern Menschen in russischen Städten spontan ihre Trauer.
Wie Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch am Samstag auf der Plattform X (vormals Twitter) berichtete, konnten Nawalnys Mutter und dessen Anwalt im Leichenschauhaus der Stadt Salechard, knapp 50 Kilometer vom Straflager Charp im Norden Russlands, keine Spur vom Leichnam entdecken. Das Leichenschauhaus sei geschlossen, und über die am Eingang ausgehängte Kontakt-Telefonnummer sei der Anwalt auch nicht zu einer zufriedenstellenden Antwort gekommen. „Ihm wurde gesagt, dass er bereits der siebte Anrufer an diesem Tag sei“, schrieb Jarmysch. „Und der Leichnam Alexeis befinde sich nicht bei ihnen im Leichenschauhaus.“
Ein Mitarbeiter des Straflagers jenseits des Polarkreises habe zuvor mitgeteilt, dass sich Nawalnys Leichnam in der Stadt Salechard zur Untersuchung befinde, teilte Jarmysch mit. Demnach konnte die Mutter die Leiche zunächst nicht identifizieren.
Nawalnys Mutter Ljudmila Nawalnaja war in das Straflager im Norden Russlands gereist und habe dort die Todesnachricht erhalten. Der Tod des 47-Jährigen soll demnach am 16. Februar um 14.17 Uhr Ortszeit (10.17 Uhr MEZ) eingetreten sein. Zuvor hatte bereits der russische Strafvollzug über Nawalnys Tod informiert, der seit 2021 inhaftiert war.
Scherbakowa: „Es gibt absolut keinen Ersatz“
In Moskau und anderen Städten räumten Männer in Zivil oder Mitarbeiter der Stadtreinigung spontan errichtete Erinnerungsstätten für den 47-Jährigen. Sie packten Blumen in Mülltüten, sammelten Kerzen und Bilder ein. Medien in vielen Teilen Russlands berichteten am Samstag, dass trotzdem weiter frische Blumen niedergelegt, Kerzen angezündet und Bilder zur Erinnerung an Nawalny aufgestellt wurden.
Nach Informationen von Menschenrechtlern gab es landesweit mehr als 100 Festnahmen. Das Internetportal ovd.info berichtete am Samstagmorgen, dass allein in St. Petersburg mehr als 60 Menschen festgenommen worden seien. Festnahmen gab es demnach in zehn Städten, darunter auch in Moskau, Brjansk und Krasnodar. Die Bürgerrechtler gaben auch juristische Hinweise für das Niederlegen von Blumen und veröffentlichten die Nummer einer Telefon-Hotline für anwaltliche Hilfe. Viele Russen hatten nach dem Tod Nawalnys öffentlich ihre Wut geäußert.
„Wie groß doch selbst die Angst des Machtapparates vor einem Toten ist, wenn sogar das Ablegen von Blumen zu seinem Andenken als Verbrechen angesehen wird“, schrieb der russische Friedensnobelpreisträger und Gründer der kremlkritischen Zeitung Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow, am Samstag im Nachrichtenkanal Telegram.
Die Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa bezeichnete den Tod des russischen Regimekritikers Alexei Nawalny als großen Verlust für die Opposition in ihrem Heimatland. „Es gibt absolut keinen Ersatz, was Charisma betrifft und Stärke“, sagte sie am Samstag im RBB-Inforadio. Figuren wie er seien ohnehin selten in der Politik. Der Verlust treffe auch die Menschen, die für ein freies Russland ohne Präsident Wladimir Putin kämpfen und dort leben wollten.
Für die Mitgründerin der von den russischen Behörden verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial ist der Tod des Regimekritikers die „stärkste politische Geste, die man machen konnte.“ Jetzt sei Nawalny ein Sinnbild für einen Menschen, der „für seine Sache auch bereit ist zu sterben“. Dennoch habe er sich nie als Märtyrer inszeniert, sondern vielmehr Witze gemacht. Selbst bei seiner Verhaftung oder im Gericht sei er nicht mit ernsthafter, tragischer Miene aufgetreten, sondern mit Humor.
Als Mann großen Mutes gewürdigt
Unterdessen hat Großbritannien nach dem Tod von Alexei Nawalny Konsequenzen in Aussicht gestellt und einen Vertreter der russischen Botschaft vorgeladen. „Es sollte Konsequenzen haben, wenn solche furchtbaren Menschenrechtsverletzungen stattfinden“, sagte Außenminister David Cameron nach Angaben des Senders Sky News am Samstag. Geprüft werde, ob es einzelne Verantwortliche gebe und einzelne Maßnahmen, die ergriffen werden könnten. „Wir kündigen sie nicht im Voraus an, daher kann ich nicht mehr sagen als das.“
Natürlich hätten sie auch bereits den Botschafter einbestellt. „Wir haben unsere Sicht auf dieses schreckliche Ereignis und die Art, wie dieser Mensch behandelt wurde, klargemacht“, sagte Cameron am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. In München werde er sich auch mit Kollegen der G7-Staaten treffen.
Das Außenministerium in London hatte am Freitagabend mitgeteilt, Nawalnys Tod müsse vollumfänglich und transparent untersucht werden. Das Ministerium habe „die russische Botschaft einbestellt, um klarzumachen, dass wir die russischen Behörden in vollem Umfang verantwortlich machen“. Der Nachrichtenagentur PA zufolge sollen Beamte informiert worden sein, dass der Botschafter krank sei, es sei ein Vertreter geschickt worden.
Das britische Ministerium würdigte Nawalny als Mann großen Mutes und eisernen Willens, der selbst aus dem Gefängnis weiter für die Rechte des russischen Volks gekämpft habe. Sein Einsatz für Menschenrechte und für die Aufklärung von Korruption sei eine Inspiration für Millionen. „Die Ideale, für die er stand und starb, werden ewig weiterleben.“
Der nach vielen Tagen in immer wieder angesetzter Einzelhaft körperlich geschwächte Nawalny war nach russischen Behördenangaben am Freitag bei einem Hofgang im Straflager bei eisigen Temperaturen zusammengebrochen. Wiederbelebungsversuche waren nach Angaben des Strafvollzugs erfolglos. Menschenrechtler werfen dem russischen Machtapparat Mord vor. Nach Angaben von Nawalnys Team ist ein Anwalt auf dem Weg zum Straflager nördlich des Polarkreises. Demnach gingen auch die Mitarbeiter des prominenten Anti-Korruptionskämpfers davon aus, dass Nawalny gezielt getötet wurde.
Russlands Machtapparat geht immer wieder mit Gewalt gegen Andersdenkende vor. Proteste werden in dem Land schon seit Jahren nicht erlaubt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen