Mord an UnitedHealthcare-CEO: Gewalt erzeugt Gewalt
UnitedHealthcare-Geschäftsführer Brian Thompson erzeugte Gewalt und wurde ermordet. Doch strukturelle Probleme können nur strukturell bekämpft werden.
M an freut sich nicht über einen Mord. Eine Binse, möchte man meinen. Doch seit dem Brian Thompson, CEO der größten US-amerikanischen Krankenversicherung UnitedHealthcare, Anfang Dezember auf Manhattans Straßen erschossen wurde, scheint diese Binse infrage gestellt.
Denn statt mit Mitleid und Blumenkränzen reagieren Tausende mit Häme und Härte auf den Tod des 50-jährigen Vaters und Konzernchefs. Seinen mutmaßlichen Mörder Luigi Mangione feiern sie dagegen wie einen Helden. Einen, der bereit ist, ins Gefängnis zu gehen, um sich für die vielen zu rächen, denen von der Versicherung medizinische Hilfe verweigert wurde.
Dass Mangione ein sehr attraktiver Ivy-League-Absolvent ist, sein unentwegtes Lächeln und seine Festnahme bei McDonalds tragen dazu bei, dass er schnell zum Meme wurde. Im Netz wimmelt es jetzt schon von Merch zu dem Mordfall.
Bei Amazon und Ebay gab es Hoodies und Teebecher mit den Worten „deny, defend, depose“ zu kaufen. Die drei Worte standen auch auf den Patronen, mit denen auf Thompson geschossen wurde. Sie sind eine Anspielung auf den in der Versicherungsbranche verbreiteten Slogan: „delay, deny, defend“ (verzögern, verweigern, verteidigen). In der Kryptowelt wird munter mit Meme-Coins wie „Free Luigi Mangione“ gehandelt und auf den Straßen wird seine Tat mit Luigi-Graffiti gefeiert.
Witzen versteckt sich etwas Ernstes
Doch das Meme-Potenzial allein erklärt nicht, wieso der Fall so viele Menschen bewegt. In den USA erschießt ständig eine_r den anderen: Die Polizei tötet aus rassistischen Motiven, ein Mann seine Ehefrau aus misogynen, ein Autofahrer einen anderen aus Wut. Und egal wie dramatisch die Todesfälle, es gibt immer Trolle im Netz, die Witze darüber machen.
Es ist das Normal, doch in diesem Fall geht die Häme weit über das Normal hinaus. Nicht nur im Hinblick auf das Ausmaß – es ist wahrlich Flut von Kommentaren, Likes und Memes – sondern auch im Hinblick auf den Ton. Denn hinter den Witzen versteckt sich etwas Ernstes. Die Menschen fragen sich: Wieso darf ich auf Gewalt nicht mit Gewalt antworten?
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen am Bett ihres sterbenden Freunds, dabei könnte eine Operation sein Leben retten. Stellen Sie sich vor, Sie sehen Ihr Kind leiden, dabei könnte eine Therapie seine Schmerzen lindern. Doch die Krankenversicherung lehnt das ab. Und der Mann, der diese Entscheidungen zu verantworten hat, streicht sich jedes Jahr privat Millionen ein.
Der Unterschied zwischen den vielen Morden und dem an Thompson ist, dass viele das Motiv verstehen. Es ist die Wut auf Krankenversicherungen, Wut auf ein System, in dem einer sich stark bereichert, während viele Menschen sterben, deren Leben gerettet hätte werden können. Es ist die Wut, dass aus Profit getötet wird.
Demonstrationen haben nichts gebracht
Doch so groß das Verständnis auf der einen Seite, so groß ist auch das Entsetzen auf anderen. In langen Essays zeigen Journalist_innen sich empört und schockiert über die Häme und die fehlende Empathie. Sie sehen ein gespaltenes Amerika, das sich in der sozialen Verrohung vereinigt. Sie analysieren jedes Detail, das über den mutmaßlichen Mörder bekannt ist: von seiner Goodreads-Leseliste über seinen Studienverlauf bis zu seinen Wohnortwechseln. Was genau diese Recherchen bringen sollen, bleibt unklar. Denn die Frage, die jetzt im Vordergrund stehen sollte, ist nicht: Wieso hat einer in seiner Wut zur Waffe gegriffen? Sondern: Wie lässt sich die Wut der vielen besänftigen?
Denn in erster Linie offenbart sowohl die Häme nach dem Mord an Thompson wie auch die Empörung über die Häme eines: das Unwissen, wie wir als Gesellschaft auf strukturelle Gewalt reagieren können. Denn moralisch legitime Mittel wie Beschwerden und Demonstrationen vor dem Firmensitz von UnitedHealthcare gab es längst. Gebracht haben sie nichts.
Die Frage, ob direkte Gewalt als Antwort auf strukturelle Gewalt in Ordnung ist, ist keine neue. Auch nach den Morden der RAF beschäftigte sie Millionen. Doch auch wenn ein Großteil der Gesellschaft die Frage mit einem „Nein“ beantwortet, sollten die „Ja“-Sager nicht aus dem Blick verloren gehen. Denn so falsch ihr mörderischer Akt ist, so falsch sind auch die Verhältnisse, die ihn hervorrufen.
Der Fall Luigi Mangione und Brian Thompson wird in die popkulturelle Geschichte der USA eingehen, so viel steht fest. Aber er sollte auch als eine Warnung in die politische Geschichte eingehen. Eine Warnung dafür, dass strukturelle Probleme nur strukturell bekämpft werden können. Denn ein Mord an einem Konzernchef wird das Problem nicht lösen, ein neuer Kopf wird das gleiche System fortschreiben. Die Vorstellung, wohin sowohl die gesellschaftlichen Verhältnisse als auch die Wut und Häme führen können, ist eine gruselige.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos