Martin Schulz über Rechtsextreme: „Sie sind aggressiver geworden“
Dem ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz macht der Wandel rechter Parteien Sorgen. Er warnt davor, sie machtpolitisch zu integrieren.
taz: Herr Schulz, die EU hat das Image, ein ferner Apparat zu sein. Das ist ein Grund für die Erfolge der rechten Nationalisten. Was wäre nötig, um die EU schnell demokratisch zugänglicher zu machen?
Martin Schulz: Wie viel Seiten räumt die taz diesem Interview denn ein?
Nur eine.
Erst mal: Die EU ist nicht der Grund für die Erfolge der Rechtsextremen. Die sind erfolgreich, weil diese immer komplexere Welt voller Interdependenzen mit ihrer Unberechenbarkeit und Volatilität Ängste und Verunsicherung bei den Bürgerinnen und Bürgern hervorruft. Das nutzen Rechtsextreme dann schamlos aus. Die EU braucht eine neue Kompetenzordnung. Wir müssen präzise formulieren, was die EU machen und auch was sie nicht machen soll. Kompetenzen sollten dort angesiedelt werden, wo die Lösungen am effizientesten umsetzbar sind.
Martin Schulz, 68, ist gelernter Buchhändler. Von 1994 bis 2017 war der SPD-Politiker Mitglied des EU-Parlaments, von 2012 bis 2017 dessen Präsident. Von 2017 bis 2018 war Schulz SPD-Parteichef. Seit 2020 ist er Vorsitzender der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung.
Zum Beispiel?
Warum muss ein Bezirksbürgermeister in Berlin, der in Grundschulen neue Fenster einbauen lassen will, eine europaweite Ausschreibung machen? Und auf der anderen Seite: Das Abgeordnetenhaus von Berlin kann zum Klimawandel beschließen, was es will. Nur mit der EU und ihrem Green Deal wird der Klimawandel effizient bekämpft werden können. Die EU muss sich um Migration, Klimawandel, internationale Steuerpolitik, Finanzströme, Bekämpfung organisierter Kriminalität, auch Sicherheit nach außen kümmern. Alltagsregulierungen aber kann man zurückübertragen.
Rückübertragung auf die lokale Ebene ist für den Ex-Präsidenten des Europaparlaments eine ungewöhnliche Forderung. Das wollen die Rechten doch auch.
Das fordere ich bereits seit 20 Jahren. Die Rechtsextremen wollen die EU zerschlagen. Ich will sie mit einer neuen Kompetenzordnung so effizient wie möglich machen. Das habe ich schon 2013 in dem Buch „Der gefesselte Riese“ angeregt.
Bei der Europawahl wird die nationalistische Rechte stärker werden. Kann die Rechte die EU lahmlegen?
Die rechtsextremistischen Ultranationalisten sind unfähig, eine Internationale Union der Ultranationalisten zu bilden. Marine Le Pen will nicht mit der so genannte Alternative für Deutschland, dieser Schande für unsere Nation, zusammenarbeiten, weil die ihr zu rechts ist. Le Pen und Melonis Fratelli d'Italia sind sich zwar einig, dass es zu viel Migration gebe. Aber bei den Lösungen sind sie über Kreuz, weil Italien die Flüchtlinge nach Frankreich durchwinkt. Die Rechten werden im Europaparlament stärker werden. Aber sie werden es nicht lahmlegen können.
Hilft eine Brandmauer gegen Rechtsextreme in der EU?
Wenn keine demokratische Partei mit denen im Parlament zusammenarbeitet, werden sie auch für die Wählerinnen und Wähler unattraktiv. Daraus wird aber nichts, wenn sich Ursula von der Leyen auch von Rechtsextremen zur Kommissionspräsidentin wählen lassen will. Das widerspricht übrigens dem Kurs der CDU im Bund, die eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließt. Hier sind die CDU und Frau von der Leyen nicht glaubwürdig.
Die Postfaschistin Meloni tritt in der EU gemäßigt auf und trifft sich öfter mit Olaf Scholz als mit Viktor Orbán. Macht die Macht die Rechten moderater?
Italien braucht die Europäische Union. Das weiß auch Meloni. Italien ist die drittgrößte Industrienation in der EU. Die Regierung in Rom muss unabhängig von der ideologischen Ausrichtung im Alltagsgeschäft mit Macron und Scholz reden. Zweitens: Meloni scheint die traditionelle, christdemokratisch-bürgerliche Wählerschaft zu umwerben, die spätestens seit dem Tod von Berlusconi heimatlos ist. Meloni scheint eine Art Sammlungsbewegung Mitte-rechts schaffen zu wollen, so wie Le Pen in Frankreich, die um traditionelle Wähler der Gaullisten wirbt.
Die Rechten in Europa sind gespalten in ihrer Haltung zu Putin. Die polnische Rechte bekämpft ihn scharf, Orbán nicht. Wird die Rechte also mächtiger und ohnmächtiger zugleich?
Moment: Ob sie mächtiger wird, ist offen. Für die Niederlande stimmt das, aber in Schweden, Finnland, Dänemark ist die Sozialdemokratie nach wie vor die stärkste Kraft. In Stockholm und Helsinki sind Christdemokraten mit Hilfe der Rechten an der Macht. Dieser Versuch ist in Spanien aber gescheitert, auch in Portugal gibt es keine Rechtsextremen in der Regierung. In Polen hat eine Bürgerbewegung die PiS besiegt. Das Bild ist heterogen. Ob es wirklich einen europäischen Durchmarsch der Rechten gibt, ist offen.
In Polen haben viele Linksliberale prognostiziert, dass die PiS die Demokratie zerstört und Machtwechsel faktisch unmöglich werden. Die Wahl gewann das Oppositionsbündnis. Waren die Befürchtungen übertrieben?
Nein. Die PiS hat acht Jahre an der Macht ihre rechte Ideologie durchgesetzt. Die lautet: Wir haben die Mehrheit, der Staat gehört jetzt uns. Die Mehrheit legitimiert uns, den Staat so zu gestalten, wie wir es wollen, und unsere Ideologie eins zu eins auf allen institutionellen Ebenen durchzusetzen. Donald Tusk steht jetzt vor der Herausforderung, das bei Medien und Justiz wieder rückgängig zu machen und die Institutionen zu redemokratisieren. In Ungarn ist das faktisch nicht mehr möglich. Deshalb ist in Deutschland übrigens ein neues Verfassungsgericht-Gesetz so nötig, das nur mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag geändert werden kann. Das muss kommen.
Sie haben im Europaparlament lange Erfahrung mit Rechten gesammelt. Haben sich die sich in den letzten 25 Jahren verändert?
Ja. Vor 25 Jahren hat man sie oft belächelt und nicht ernst genommen. Heute sind sie ernstzunehmende politische Player, viel besser organisiert, geführt von viel klügeren Leuten. Sie sind professioneller, allerdings auch aggressiver geworden. Sie alle eint eine klare Agenda: Sie wollen die EU abschaffen und nutzen dafür alle möglichen politischen Mittel.
Kann man Rechtsextreme wie Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni oder die Vorsitzende des französischen Rassemblement National Marine Le Pen machtpolitisch integrieren?
Ihre politischen Fraktionen so, wie sie sind, ganz sicher nicht! Aber: Nicht alle ihre Wählerinnen und Wähler sind Antidemokraten, sondern auch Protestwähler, manche aus verständlicher Verzweiflung über politische Enttäuschungen. Diese zurückzugewinnen, ist Demokratieschutz. Wenn es aber um die ultrarechten Fraktionen geht, sehe ich da keinen gangbaren Weg. Sie müssten sich dafür ja zu politischen Vereinbarungen und zu Grundelementen der Demokratie bekennen, die gegen ihr eigentliches Programm laufen.
Zum Beispiel?
Das Bekenntnis, dass die Republik nicht ethnisch definiert ist, sondern dass alle Bürger und Bürgerinnen gleichberechtigt sind. Das Bekenntnis zur Europäischen Union und multilateralen, völkerrechtlich bindenden Verträgen. Eine klare Abgrenzung gegen autoritäre Regime wie in Russland. Das brächte die Führungen dieser Parteien in Dilemmata und demaskiert sie, wenn sie sich darauf nicht einlassen. Daran kann sich Frau von der Leyen ja gerne mal versuchen.
Ist Le Pen mit ihrer Abgrenzung gegen die AfD nicht auf diesem Weg?
Die Antwort ist offen. In Frankreich leben Millionen mit Migrationshintergrund. Le Pen will Präsidentin werden. Der Rassemblement National versucht moderater aufzutreten, weil Le Pen weiß, dass sie sonst nicht Präsidentin wird.
Also steckt dahinter nicht Überzeugung, sondern Taktik?
Das weiß ich nicht. Ich habe Le Pen als Fraktionschefin im Europaparlament erlebt. Die Strategie, sich als moderate, rechtskonservative Politikerin in Szene zu setzen, verfolgt sie schon seit anderthalb Jahrzehnten. Im Vergleich zu dem Parteichef der Gaullisten Eric Chiotti klingt Le Pen heute fast moderater. Die Frage bleibt, ob sie ein Wolf im Schafspelz ist.
Was vermuten Sie aus Ihren persönlichen Begegnungen?
Ich habe sie immer als sehr taktische Person wahrgenommen. Jordan Bardella, ihr junger Parteichef, kommt aus der identitären Bewegung. Zweifel sind nach wie vor angebracht.
Wäre Le Pen als Präsidentin Frankreichs integrierbarer?
Das ist schwierig vorherzusagen. Meine Antwort ist: Lasst uns alles tun, damit sie nicht Präsidentin wird.
Bei der Wahl zum EU-Parlament am 9. Juni konkurrieren SpitzenkandidatInnen. Nur eine von denen soll später die Kommission führen können. Dieses System haben Sie mitentwickelt …
… es ging auf meine Initiative zurück. Ich habe als Präsident des EU-Parlaments auf der Grundlage von Artikel 17, Absatz 3 den Rat und die Kommission dazu gebracht, anzuerkennen: Es wird niemand zum Kommissionschef gewählt, der nicht Spitzenkandidat einer Partei war. Das haben wir 2014 durchgesetzt. 2019 leider nicht mehr, weil die Staatschefs Ursula von der Leyen den Kandidaten Frans Timmermans und Manfred Weber vorgezogen haben. Das war ein Fehler. Hätte sich das EP 2019 durchgesetzt, wäre es jetzt irreversibel.
Ist das SpitzenkandidatInnen-System, das die EU-Wahl politisieren und demokratisieren sollte, kaputt oder hat es nur einen Blechschaden?
Das hängt davon ab, wie das Europaparlament jetzt handelt. Wenn sich von der Leyen tatsächlich von Rechtsextremen mitwählen lassen wollen würde, könnten die Mitte-links-Parteien im Europaparlament einen Gegenkandidaten nominieren. Dann hätte der Rat ein Problem. Das Parlament könnte Frau von der Leyen selbstbewusst Bedingungen stellen.
Bedauern Sie manchmal, dass Sie nicht mehr dort sind?
Ich bin leidenschaftlicher Europäer und wirke als solcher auch in meinen neuen Funktionen. In der Rückschau sehe ich, dass es ist mir mit anderen gelungen ist, das Europaparlament zu einer mächtigen Instanz zu machen. Eines der größten Probleme der EU ist, dass die wesentlichen Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Der Rat tagt geheim, um den erstaunten Untertanen mitzuteilen, worauf man sich mal wieder nicht geeinigt hat. Das erinnert an einen permanenten Wiener Kongress …
… das Treffen der feudalen Herrscher Europas, die 1815 die Grenzen neu bestimmten …
… mit dem Unterschied, dass es beim Wiener Kongress ein Ergebnis gab. Der Wiener Kongress von heute will von der Leyen durchsetzen. Ein selbstbewusstes Parlament sollte darauf bestehen, dass von der Leyen dessen Bedingungen erfüllt – und nicht warten, ob sich Macron, Scholz, Sanchez und Meloni auf eine Kandidatin einigen, die das Parlament dann durchwinkt.
Wenn man Sie so hört – warum soll man am 9. Juni wählen gehen?
Es geht darum, die Rechtsextremen klein zu halten und die Friedensidee der transnationalen Demokratie auf der Grundlage von Freiheit, Respekt und Toleranz zu verteidigen. Zum Beispiel für Frieden und Verständigung in der Welt. Für gut bezahlte Arbeitsplätze der Zukunft. Für den Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern vor großen Konzernen. Für faire Steuern. Plus: Die EU ist besser als der Putinismus oder der Trumpismus. Es gibt wirklich viele Gründe, wählen zu gehen.
Braucht es europaweite Wahllisten? Derzeit gibt es ja 27 nationale Listen.
Klar. Das propagiere ich, seit Langem.
Sind Sie optimistisch, dass Sie EU-Wahllisten noch erleben?
Für transnationale Listen müssen die EU-Verträge geändert werden. Das geht nur mit Einstimmigkeit – also derzeit mit Budapest nicht. Es gäbe aber Möglichkeiten. Ich gebe die Hoffnung nie auf, weshalb ich auch für meine Partei kämpfe, welche seit über 160 Jahren die Demokratie verteidigt.
Herr Schulz, vielen Dank für das Gespräch.
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