Machtambitionen der Grünen: Bloß nicht anecken
Auf ihrem Parteitag geben sich die Grünen so wenig radikal wie möglich. Das Ziel ist klar: das Kanzleramt. Mit dieser 5-Punkte-Strategie soll es klappen.
1. Der Wille zur Macht
Dass die Grünen regieren wollen, ist nicht neu. Wie klar und selbstbewusst sie ihren Machtanspruch formulieren, allerdings schon. Annalena Baerbock und Robert Habeck, die neuen alten ParteichefInnen, gehen voran. Habeck rückte diese Botschaft ins Zentrum seiner politischen Rede, die traditionell den Auftakt des Parteitags bildet. Die Ära Merkel sei „erkennbar vorbei“, rief er. „Wir wollen die Weichen mit stellen.“
Diese Sicht wird in der Partei breit geteilt. Bei jenen, die sich als Realos bezeichnen, sowieso. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sah zwei „Mega-Aufgaben“ für seine Partei. „Das reale Klima wird heißer, das gesellschaftliche Klima wird kälter.“ Den Grünen wachse „eine neue Rolle“ zu. Sie müssten nicht mehr nur mitgestalten, sondern auch mitführen. Dieser selbstbewusste Sound zog sich durch viele Reden.
Dabei ist allen klar: Die Grünen würden auch schmerzhafte Bündnisse eingehen. Vor einigen Jahren gab es bei Linksgrünen große Vorbehalte gegen eine Koalition mit der Union. Inzwischen findet sich niemand mehr, der dagegen argumentieren würde. Zu drängend, heißt es, sei die Dramatik des Klimawandels. Selbst Ricarda Lang, Ex-Chefin der Grünen Jugend, neue Parteivizechefin und überzeugte Linke, sagt, dass die Grünen Gestaltungsmacht beanspruchen müssten. „Dabei ist klar, dass Regierungsanspruch und Radikalität sich nicht ausschließen.“
2. Winner-Typen
Auf starke Führungsfiguren setzen – mit diesem Prinzip haben die Grünen in ihren Anfängen gefremdelt. Solche Skepsis, die in der Joschka-Fischer-Ära noch zu spüren war, ist perdu. Baerbock und Habeck, die die Partei seit knapp zwei Jahren führen, wurden mit sozialistisch anmutenden Ergebnissen von über 90 Prozent wiedergewählt. Das Votum für Baerbock ist das Beste, das es je in der Geschichte der Partei Bündnis 90/Die Grünen gab.
Die Grünen wissen, was sie an ihren medientauglichen Vorsitzenden haben. Goutiert wird aber auch ihr Versuch, die Partei bei wichtigen Themen breit einzubeziehen. Ob es nun die Abkehr von Hartz IV, ein neuer Sound in der Flüchtlingspolitik oder die Lockerung der Schuldenbremse war, bei allen wichtigen Kursschwenks führten Baerbock und Habeck in den letzten zwei Jahren viele Gespräche. Konflikte im Vorfeld ausräumen, ist die Devise.
Keiner zweifelt an, dass beide im nächsten Bundestagswahlkampf die SpitzenkandidatInnen werden. Nur die Frage, wer die Kanzlerkandidatur übernimmt, ist offen. Diese Debatte möchte die Grünen-Spitze möglichst runterdimmen. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner wollte die Wahlergebnisse von Baerbock und Habeck nicht als Vorentscheidung gewertet wissen. Das sei „nicht relevant für die Frage“, sagte Kellner.
Für Baerbock und Habeck bedeuten die Traumvoten einen riesigen Vertrauensvorschuss – und eine Bürde. Habeck warnte seine Partei, dass die Angriffe in den nächsten zwei Jahren härter würden. Es gebe den Wunsch, dass „die Grünen wieder kleiner“ würden.
Damit hat der Grünen-Chef recht. CSU-Chef Markus Söder sieht die Grünen inzwischen als Hauptgegner der Konservativen. FDP-Chef Christian Lindner versucht, sie als unsoziale Verbotspartei zu brandmarken. Baerbock bezog sich in ihrer Bewerbungsrede auf diese Vorwürfe. Ihr gehe „auf den Keks“, rief sie, dass manche beim Klimaschutz entdeckten, dass Menschen niedrige Einkommen hätten.
Vor Baerbock und Habeck liegt keine leichte Aufgabe. Eine lautet: Erwartungsmanagement. In die Grünen werden gerade viele Wünsche und Hoffnungen projiziert. Je näher die Wahl rückt, desto klarer wird werden, dass sie nicht alles werden einhalten können, schon gar nicht in einer Koalition mit der Union. Viele grüne Ideen, etwa eine gelockerte Schuldenbremse, sind mit CDU/CSU nicht zu machen.
3. Überall glänzen
Eine weitere Botschaft des Parteitags war, dass die Grünen sich breit aufstellen. Sie reagieren zum Beispiel auf die ersten Anzeichen einer Rezession. Fast der ganze Sonntag war der Wirtschafts- und Finanzpolitik gewidmet.
Die Grünen möchten die Schuldenbremse im Bund lockern und durch einen milliardenschweren Investitionsfonds ergänzen, der an EU-Recht andockt. „Man muss jetzt in die Zukunft investieren und darf nicht weiter wie die Bundesregierung am Dogma der schwarzen Null klammern“, sagte Sven Kindler, der Haushaltsexperte der Bundestagsfraktion.
Auch die Wohnungspolitik ziehen die Grünen hoch. „Wohnen ist eine soziale Frage“, stellen sie in ihrem Beschluss fest. „Immer mehr Menschen müssen einen immer größeren Anteil ihres Einkommens für die Mietkosten ausgeben.“ Die Grünen wollen die Mittel für sozialen Wohnungsbau deutlich erhöhen. Sie stellen sich auch hinter eine Politik, die Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer praktiziert. Wer der Aufforderung, sein Grundstück zu bebauen, nicht nachkommt, dürfe zum Verkauf gezwungen werden, argumentieren sie in ihrem Beschluss. Kommunen müssten auch für „bestimmte Gebiete“ Baugebote aussprechen dürfen.
In der Sozialpolitik rücken die Grünen ein Stückchen nach links. Sie beschlossen einen Mindestlohn von 12 Euro, der auch von SPD und Linkspartei gefordert wird. Dieser liegt im Moment bei 9,19 Euro. Bei dem Thema kam es zu einer Abstimmung. Der Arbeitsmarktpolitiker Markus Kurth warb dafür, die Mindestlohnkommission zu reformieren – und ihr die Erhöhung zu überlassen. Doch der Bundesvorstand setzte sich mit seiner Idee einer politischen Festlegung durch.
Der Grundtenor in der Wirtschaftspolitik ist eindeutig. Die Grünen setzen auf eine soziale und ökologische Marktwirtschaft, um Innovationen zu erreichen. Aber sie fordern eine härtere Ordnungspolitik, um Unternehmen zu einer ökologischeren Wirtschaftsweise zu zwingen.
4. Niemanden verprellen
Die Grünen wollen die bürgerliche Mitte für sich gewinnen. Das Bemühen, anschlussfähig zu bleiben, schimmerte auf diesem Parteitag überall durch. Der Bundesvorstand – also auch: Baerbock und Habeck – gewann fast alle Abstimmungen. Die Partei folgte dem Kurs, den die ChefInnen vorgaben. Ein Beispiel: In der wohnungspolitischen Debatte am Freitagabend wehte kurz ein revolutionärer Hauch durch die Halle.
Der Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg stellte einen Änderungsantrag vor, der ein Bundesgesetz für Vergesellschaftungen fordert. Wollen die Grünen bundesweit Enteignungen vorantreiben? Ein gefundenes Fressen für Union, FDP und die konservative Presse, ein Albtraum für die Grünen-Spitze. Habeck ging persönlich ans Redepult, um die Attacke abzuwehren. Die Vergesellschaftung sei ein „scharfes Schwert“, das nicht durch dauerhafte Benutzung stumpf werden dürfe.
Eine klare Mehrheit lehnt die Kreuzberger Revolte ab. Erleichterte Gesichter bei den ChefInnen. So lief es auch bei anderen Themen. Die Autoindustrie früher als 2030 dazu verpflichten, keine Verbrennungsmotoren mehr zu produzieren? Abgelehnt. Klimaneutralität bis 2035? Abgelehnt.
Beim CO2-Preis kommt der Vorstand KritikerInnen, die mehr Radikalität fordern, leicht entgegen. 2020 soll er pro Tonne bei 60 Euro liegen und in Schritten von 20 Euro pro Jahr steigen. Ein Gremium soll die sozialen Auswirkungen kontrollieren und notfalls eingreifen. Der Vorstand wollte die 60 Euro erst ein Jahr später und danach keinen Anstieg festlegen.
Baerbock und Habeck bringen sich offensiv ein, reden mehrmals persönlich, um ihren Kurs zu begründen. Lediglich in einem, eher kosmetischen, Punkt verlieren sie eine Abstimmung. Ein ausdrückliches Bekenntnis zur Schuldenbremse für die Bundesländer wurde aus dem Leitantrag des Bundesvorstands gestrichen. Aber: Die Länder können trotzdem weiterhin machen, was sie wollen. Gerade Realos in Landesregierungen tun sich mit dem Aufbohren der Schuldenbremse schwer.
5. Schritt für Schritt wachsen
Der Plan der Grünen ist: Schritt für Schritt wachsen, nicht kirre machen lassen. Für die Partei bedeutet der Höhenflug eine große Anstrengung. Die Zahl der Mitglieder stieg in den zwei Jahren, in denen Baerbock und Habeck am Ruder sind, von 65.000 auf 94.000. All diese neuen Leute wollen beschäftigt und mitgenommen werden.
Eine nächste Wegmarke ist die Bürgerschaftswahl in Hamburg. Die Grünen könnten der SPD das Rathaus abjagen – so deutet es sich in manchen Umfragen an. Selbstbewusst haben sie eine eigene Bürgermeisterkandidatin aufgestellt, die derzeitige Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank. Fegebank wirbt für eine Mobilitätswende, die auf „weniger Autos, mehr Radwege und mehr Lebensqualität“ setze. „Interessant ist, dass wir dafür Zustimmung aus neuen Ecken bekommen: von Unternehmern, Einzelhändlern oder Mitgliedern des Rotary Clubs.“
Wenn es darum geht, staatstragend zu sein, macht den Grünen keiner mehr was vor.
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