Kritik an geburtenstarken Jahrgängen: Generation X ist kein Boomer
Wer die Alten kritisieren will, spricht vom Versagen der „Boomer“. Der Zorn mag gerecht sein. Doch wer vom Boomer spricht, sollte ihn auch meinen.
O b auf Instagram, im Fernsehen oder in der Zeitung (auch in dieser) – überall geht das Gespenst des Boomers um. Wenn es darum geht, die Leute dingfest zu machen, die für den Klimawandel verantwortlich sind, wider besseres Wissen immer noch Fleisch essen und Whatsapp-Gruppen mit peinlichen Memes fluten, dann war’s der Boomer. Der Boomer ist selbstredend ein Mann, nie eine Frau. Denn der Boomer ist der Cousin des Alten Weißen Mannes.
Es liegt in der Natur des Verhältnisses zwischen Kindern und Eltern, dass der Nachwuchs im Zuge seiner Autonomisierung einen kritischen Blick auf das Treiben der Erzeugerinnen wirft. Das muss so sein, es ist Teil des stetigen Fortschreitens der Menschheit in die Zukunft. Heißt aber nicht, dass den Jungen damit eine Lizenz zur Denkfaulheit ausgestellt wäre. Die Alten können von den Jungen erwarten, dass sie klüger sind als sie selbst. Wofür sonst hat man sie in die Schule geschickt? Die Schlampigkeit, mit der das Boomer-Klischee für alle verwendet wird, die nicht mehr postpubertär sind, sagt mehr über diejenigen aus, die es wahllos verwenden, als über die, die angeblich damit gemeint sein sollen.
Wer sind denn nun diese Boomer, was will uns dieser Begriff denn eigentlich sagen? Die Frage ist nicht in einem Satz zu beantworten, weil die „Generation“ der „Baby-Boomer“, wie ihr vollständiger Titel heißt, erstens in jedem Land mit variierenden Jahrgängen und zweitens mit bestimmten kulturellen Phänomenen verknüpft ist. Grob lässt sich sagen, dass Baby-Boomer – zu Deutsch „die geburtenstarken Jahrgänge“ – in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Bis der Pillenknick einsetzte.
In Deutschland ging die Geburtenrate nach Kriegsende nach oben, stagnierte kurz und stieg bis 1963 weiter, dann neigte sich die Kurve steil nach unten. 1974 war der Tiefpunkt erreicht. Von einem Geburtenboom war da schon lang keine Rede mehr. Daher werden in Deutschland meist die Jahrgänge zwischen 1955 und 1965 zu den geburtenstarken gezählt. Die echten Boomer sind heute demnach grob gesagt zwischen 55 und 70 Jahre alt.
Von fehlender Selbstkritik
Alle, die jünger sind, zählen demografisch zur Generation X. So hieß eine im Jahr 1976 gegründete Londoner Punkband. Ihr Sänger wurde später als Solokünstler berühmt: Billy Idol hieß der Mann. Nachdem Douglas Couplands Roman „Generation X“ im Jahr 1991 ein Welterfolg wurde, hatte die den Boomern nachfolgende Generation endgültig ihren Namen weg.
Deren Angehörige waren häufig Schlüsselkinder, hörten Generation X (die Band) und spielten Video-Games in der Shopping-Mall. Sie mussten zuschauen, wie die Ära der Sozialdemokratie zu Ende ging, der Neoliberalismus seinen Siegeszug antrat und ein neuer Konservatismus in die westlichen Gesellschaften einzog.
Die Angehörigen der Generation X sind zwischen 40 und 55 Jahre alt. Selbst wenn sie in den 1980ern gegen Atomkraft und Umweltzerstörung demonstriert haben sollten, kann man auch sie durchaus für den gegenwärtigen Zustand der Welt verantwortlich machen. Allerdings handelt es sich bei ihnen oft auch um Menschen, die vegan leben, queer sind, non-binär, antirassistisch und vieles andere, von dem ihr denkt, ihr hättet es erfunden, liebe Kinder, Jugendliche und Millennials, ihr Ypsilone und Zetts.
Bevor ihr also das nächste Mal süffisant „O. K., Boomer“ sagt oder schreibt, haltet kurz inne. Noch besser wäre Selbstkritik. Denn euer ständiges Geposte, euer ausuferndes Streaming, das Hochladen von Exabytes in die Cloud – all das macht heute einen erheblichen Teil des weltweiten Energieverbrauchs aus. Lehnt euch also nicht zu weit aus dem Fenster. Schon bald werden die nachfolgenden Kohorten auch euch für den katastrophalen Zustand der Welt verantwortlich machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag