Krieg in der Ukraine: „Das ist nichts anderes als Völkermord“
Zeitgleich zum G7-Treffen feuert Putin hunderte Drohnen ab. Es ist der schwerste Angriff seit Kriegsbeginn – und der Zeitpunkt wohl kein Zufall.

Ein Mann und eine Frau knien mit schmerzverzerrten Gesichtern vor den Trümmern, die vor wenigen Stunden noch ein Zuhause waren. In einer der Wohnungen des neunstöckigen Hauses, das durch den direkten Einschlag einer russischen Marschflugrakete des Typs X-101 zerstört wurde, lebte ihr Sohn.
Der gesamte Aufgang vom neunten Stockwerk bis zum Keller wurde getroffen– dort befanden sich mehr als 30 Wohnungen. Wie viele Menschen sich zum Zeitpunkt des nächtlichen Angriffs in ihren Wohnungen aufhielten, ist bislang nicht genau bekannt – auch nicht, wie viele unter den Trümmern begraben wurden. Bislang haben Rettungskräfte fünf Leichen sowie Überreste von einer oder mehreren Personen geborgen.
Dieses Wohnhaus im Solomjanskyj-Bezirk Kyjiws, einem dicht besiedelten Gebiet, war eines von Dutzenden, die in der Nacht zum Dienstag, dem 17. Juni, durch russische Angriffe beschädigt wurden. Insgesamt setzten die russischen Streitkräfte fast 500 Mittel des Luftangriffs gegen die Ukraine ein – Kamikaze-Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen.
Hauptziel dieses Angriffs war Kyjiw, wo bis Dienstagmittag 15 Tote und über 139 verletzte Zivilisten gemeldet wurden. Die Sucharbeiten dauern an, Rettungskräfte suchen mithilfe von Spürhunden nach Überlebenden unter den Trümmern. Der 18. Juni wurde in Kyjiw zum Trauertag erklärt.
Neue Drohnen-Taktik
Der Angriff gilt, gemessen an der Zahl eingesetzter Drohnen und Raketen sowie an Opfern und Zerstörungen, als einer der massivsten auf Kyjiw seit Beginn der Großinvasion Russlands in die Ukraine. Brände und Zerstörungen wurden an 27 Orten auf beiden Uferseiten der ukrainischen Hauptstadt festgestellt.
Die russische Strategie bleibt dabei unverändert: Zuerst erfolgt der Angriff mit Kamikaze-Drohnen und deren Täuschkörper, um das ukrainische Luftabwehrsystem zu überlasten. Zu diesem Zeitpunkt erreichen bereits von strategischer Luftwaffe abgefeuerte russische Marschflugkörper den ukrainischen Luftraum. Gleichzeitig werden ballistische Raketen abgefeuert, deren Flugzeit weniger als fünf Minuten beträgt.
Um es den Ukrainern erheblich schwerer zu machen, die Angriffe abzuwehren, hat sich allerdings eine Taktik verändert. Drohnen des Typs Shahed werden nun in schwarzer Farbe produziert, um sie nachts schwerer erkennbar zu machen. Zudem wurde der Sprengkopf erheblich vergrößert – auf bis zu 90 Kilogramm, was zu deutlich größeren Zerstörungen führt. Außerdem können diese Drohnen jetzt in Höhen über 3 Kilometern fliegen, was sie für die mit Maschinengewehren ausgestatteten mobilen ukrainischen Luftabwehrgruppen praktisch unerreichbar macht.
Die größte Veränderung besteht jedoch in der Anzahl der eingesetzten Mittel: Früher wurden Angriffe mit etwa 100 Drohnen gegen das gesamte Land geführt, heute ist Russland in der Lage, gleichzeitig 400 bis 500 Drohnen einzusetzen, da es ihm gelungen ist, deren Massenproduktion aufzubauen.
Putins Kalkül
Nach dem jüngsten Angriff auf Kyjiw fanden Einwohner laut dem Bürgermeister der Hauptstadt, Vitali Klitschko, in verschiedenen Stadtteilen Metallkügelchen – Splittereinsätze russischer Raketen. „Das ist die Streubombenladung einer Rakete. Solche Kugeln befinden sich im Inneren der Raketen, um möglichst viele Menschen zu verletzen. Das ist nichts anderes als Völkermord“, sagte Klitschko.
Tetjana überlebte den Angriff in ihrer Wohnung in Kyjiw
„Ich dachte, der vorherige, massivste Angriff auf Kyjiw sei der schlimmste meines Lebens gewesen, aber ich habe mich geirrt“, berichtet die Kyjiwerin Tetjana. „Diese Nacht war die schrecklichste. Ich habe alles gesehen – Drohnen, Raketen, Rauch von den Bränden, der die Sonne beim Morgengrauen verdunkelte. Nur der Gesang der Vögel erinnerte daran, dass wir noch am Leben sind.“ Tetjana hatte es nicht mehr rechtzeitig in den Schutzraum geschafft und blieb während der Attacke in ihrer Wohnung im 5. Stock.
Doch nicht nur die Hauptstadt war in der Morgendämmerung in Rauch gehüllt, begleitet vom Heulen der Sirenen und Rettungsfahrzeuge. Auch andere Regionen wurden angegriffen – Saporischschja, Odessa, die Gebiete Tschernihiw, Kyrowohrad und Schytomyr – mit Toten, Verletzten und erheblichen Zerstörungen ziviler Infrastruktur.
„Putin macht das absichtlich – genau während des G7-Gipfels“, erklärte der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha. „Sein Ziel ist einfach: die G7-Staats- und Regierungschefs als schwach erscheinen zu lassen“, so Sybiha. Präsident Wolodymyr Selenskyj, der sich derzeit in Kanada aufhält, rief die USA und Europa zu einer entschlossenen Reaktion auf den neuerlichen russischen Angriff auf. Er hatte sich im Rahmen des G7-Treffens in Kanada mit Präsident Donald Trump treffen wollen. Doch der reiste vorzeitig ab.
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