Krieg in der Ukraine: Putin’sche Zwangsbeglückung
Mit Gewalt versucht Moskau, der Ukraine den Weg zur Demokratie zu verbauen. In den eroberten Gebieten finden Umerziehungsprogramme statt.

Euer großrussischer Traum ist es, auch alle anderen in den Dreck hinein zu ziehen, in dem ihr bis zum Halse steckt. Das ist das Russentum.“ Diese Äußerung stammt von Dschochar Dudajew, ab 1991 erster Präsident der Nordkaukasusrepublik Tschetschenien. Am 24. April 1996 fiel er einer russischen Rakete zum Opfer. Dudajew hatte die Aufmunterung des damaligen russischen Staatschefs Boris Jelzin, alle von Moskau weg driftenden Landesteile sollten sich so viel Souveränität nehmen wie sie schlucken könnten, offensichtlich wörtlich genommen.
Die „Antiterroroperation“ ging ab 1999 unter Wladimir Putin nebst der Ankündigung, die Islamisten auch noch auf dem Abort kaltzumachen, in die zweite Runde. Zehn Jahre sollte der zweite Tschetschenienkrieg dauern, der Zehntausende Zivilist*innen das Leben kostete und ein komplett verheertes Land hinterließ.
Dieser mörderische Feldzug ist eine Art Blaupause für das Drama, das sich seit dem 24. Februar in der Ukraine abspielt. Auch hier geht es um das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes – Postulate, über die Russland meint, sich hinwegsetzen zu können. Und es geht um den Versuch Moskaus, die Ukraine gewaltsam daran zu hindern, zum Modell für eine gelungene Transformation eines postsowjetischen Staats zu werden.
Doch der von Moskau als „Spezialoperation“ gelabelte Kampf gegen die Faschisten, ein veritabler Vernichtungskrieg, verläuft, entgegen anders lautendem Kreml-Sprech, nicht nach Plan. Das Vorhaben, Kiew in nur wenigen Tagen einzunehmen, ist vorerst gescheitert. Gleichzeitig sind Städte wie Butscha und Irpen, stellvertretend für viele andere Orte, zu stummen Zeugen schwerster Kriegsverbrechen von russischen Soldaten an Zivilst*innen geworden. In der Hafenstadt Mariupol, von der nicht mehr viel übrig ist, brauchte es mehrere Wochen, um mit dem Asow-Stahlwerk die letzte ukrainische Bastion zu Fall zu bringen.
Auch sonst sind die Geländegewinne des Aggressors im Süden der Ukraine noch überschaubar. In Städten wie Cherson und Melitopol werden jedoch, nach bekanntem Muster, Fakten geschaffen: Verteilung russischer Pässe, Umerziehungsprogramme, die Ankündigung von „Referenden“ mit der Aussicht auf einen baldigen Anschluss an Russland. So sieht sie aus, die Zwangsbeglückung à la Wladimir Putin.
Langer, zäher Abnutzungskrieg
Jetzt ist Russlands Krieg, der so nicht genannt werden darf, in eine weitere Phase getreten: die Großoffensive im Donbass. Ob der russischen Armee jetzt der schnelle Durchmarsch gelingen wird – wer weiß das schon. Mit ihrer Einschätzung, Kiew werde in wenigen Tagen fallen, waren auch viele Expert*innen auf dem Holzweg. Auch könnte die Möglichkeit, russische Vertragssoldaten bis zum 65. Lebensjahr einzuziehen, eher darauf hindeuten, dass es sich um das letzte Aufgebot denn um eine schlagkräftige Truppe handelt.
Doch unabhängig von der weiteren militärischen Entwicklung: Glaubt man der Kiewer Regierung, hat die ukrainische Armee dem Gegner im Donbass nicht viel entgegenzusetzen – ergo stünden schwere Wochen mit möglicherweise hohen Verlusten bevor. Diese Ansage gilt es ernstzunehmen und nicht als plumpes Manöver abzutun, um die westlichen Staaten bei Geberlaune zu halten. Auch macht sie deutlich, dass Hoffnungen auf eine baldige diplomatische Lösung blauäugig sind.
Für die Ukraine, die bereits einen immensen Preis entrichtet hat, sind eine kampflose Aufgabe von Gebieten und die Akzeptanz des Status quo derzeit keine Option. Was jedoch ist das Ziel? Eine Antwort darauf hat auch der Westen bislang nicht, der de facto bereits Kriegspartei ist und ohne dessen Engagement das Bild in der Ukraine heute wohl anders aussähe. Und genau das ist die Krux: Kiew weitere Unterstützung zu versagen, kommt nicht infrage – vor allem dann nicht, wenn es weder einen Diktatfrieden gegen die Ukraine noch einen Sieg Putins geben soll.
So erscheint ein langer und zäher Abnutzungskrieg als realistisches Szenario. Die Aussicht darauf, verbunden mit vielen weiteren Opfern, ist erschreckend. Die Erkenntnis, dass wir uns an diesen Zustand schon fast gewöhnt haben und wieder zur Tagesordnung übergehen, ist es nicht minder.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart