Kommentar Urteil zum Heimunterricht: Abschottung gefährdet Kinder
Eltern wollten ihre Kinder zuhause unterrichten. Das EGMR sah deren Wohl in Gefahr. Sein Urteil bekräftigt zurecht das hohe Gut der Interaktion.
D arf der Staat Eltern die Kinder wegnehmen, wenn diese den Nachwuchs nicht in die Schule schicken? Darf er. Die Verweigerung des Schulbesuchs stellt eine Kindeswohlgefährdung dar, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg am Donnerstag in einem aktuellen Fall.
Selbst Geldstrafen hatte die Eltern aus einem Ort in Hessen nicht davon abgehalten, ihre vier Kinder zu Hause selbst zu unterrichten. Um sich der Schulpflicht in Deutschland zu entziehen, hat die Familie sogar zeitweise im Ausland gelebt. Dummerweise wurden in dem Kinderheim, in dem die Kinder vorübergehend untergebracht waren, keine Bildungsdefizite festgestellt, ergo auch keine Kindeswohlgefährdung. Auch sonst schienen die Kinder einen umsorgten Eindruck zu machen. Trotzdem ist es richtig, dass der Staat intensiv prüft, was mit Kindern im privaten Umfeld passiert – selbst dann, wenn es mitnichten um Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung geht.
Denn die eigentliche Frage, die dabei im Raum steht, ist: In welchem Geist erziehen Eltern, die ein solch immenses Misstrauen gegenüber dem Staat und dessen Bildungssystem hegen, ihre Kinder? Mit welchem Bewusstsein gegenüber der Gesellschaft und dem Gemeinwohl wachsen diese Kinder auf? Lernen sie Solidarität, lernen sie faire Auseinandersetzung in der Gruppe, lernen sie zu teilen?
Selbstredend sollten Eltern ihren Kindern solche gesellschaftlichen Tugenden grundsätzlich beibringen, dafür sind nicht die Schulen allein verantwortlich. Die meisten Mütter und Väter tun das auch. Aber in der Regel haben Kinder und Eltern dabei den dauerhaften Bezug zur Gesellschaft, in der Kita, der Schule, im Sportverein, beim Geigenunterricht. Sozialer Umgang miteinander ist wichtig, sowohl für die Kinder als auch für das Umfeld. Denn daraus entsteht eine Interaktion, die Grundlage einer jeden demokratischen Gesellschaft ist. Enthalten Eltern ihren Kindern diese Interaktion vor, werden diese damit einer wichtigen sozialen Erfahrung beraubt. Und das kann durchaus eine Kindeswohlgefährdung sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut