Klimaproteste als Befreiung: Extinction Rebellion ist Ecstacy
Die Klimabewegung Extinction Rebellion wird als esoterisch kritisiert. Gesänge, Rituale und der Haka sind aber ein Akt der Entkolonialisierung.
V on Yogaschulen bis Psychogurus – ich kenne sie alle. Manche Kulte wie OneTaste (Orgasmische Meditation), TNT (The New Tantra) oder Oshos Ashram in Indien habe ich selbst besucht. Kürzlich war ich, ohne es zu ahnen, erstmals bei einer mutmaßlich esoterischen Weltuntergangssekte: bei Extinction Rebellion (XR).
Schade, dass radikale Linke, die in Europa behaupten, XR sei zu weiß, rassistisch oder elitär, nicht an Neuseelands Kapiti-Küste dabei waren.
Eine Woche vor dem Start der weltweiten Aktionswoche nahm ich – zusammen mit einer Riesenkrake und Rentnern, die jedem Buchklub gut zu Gesicht stehen würden – am südlichsten Vorbereitungstraining auf einem Campingplatz in Neuseeland teil. Am Montag, nachdem die Rebellen als Frühaufsteher bereits ein Ministerium in Wellington blockiert und sich innen an eine Bankfiliale geklebt hatten, brach in London ein Mann beim Straßenprotest zusammen.
Er zitterte, weinte, hielt verzweifelt ein Foto seiner Kinder hoch. Jutta Ditfurth warnte währenddessen per Twitter vor XR: Eine Sekte sei das, antiintellektuell und hyperemotional.
Aktivistisch, nicht esoterisch
Ich habe deutlich mehr Zeit mit esoterischen als politisch aktivistischen Gruppen verbracht. Die Tage mit XR fallen ins letztere Spektrum, auch wenn zwei Küchenhelferinnen beim Camp in einer Pause meditierten und nachmittags eine Yogastunde abgehalten wurde.
Das Ethos, auf Packpapier an die Wand gepinnt, entsprach jedoch eher den Prinzipien von Burning Man und gewaltfreier Kommunikation (NVC) als von K-Gruppen: keine verbalen Angriffe, kein „blaming and shaming“, sondern Selbstverantwortung und „radikale Inklusivität“.
Der erste Morgen begann mit einem Powhiri, der traditionellen Maori-Begrüßungszeremonie. Rebell Haimana Hirini stand mit nackten Füßen auf dem nassen Rasen, hielt einen „talking stick“ Richtung Himmel und dankte seinen Geschwistern: den Bäumen, den Bergen, dem Wasser.
Neuseelands XR-Ableger hat die Forderungen von Extinction Rebellion in die indigene Sprache übersetzt und will eine neue hinzufügen: Anerkennung der Rechte der Ureinwohner. Deren Kultur, die im zweisprachigen Aotearoa vertraglich verankert ist, ist spirituell geprägt.
Menschen stehen nicht über der Natur, sondern sind Teil von ihr. Gesänge, Rituale und der Haka sind ein Akt der Entkolonialisierung – nicht der geistigen Vernebelung, wie Ditfurth sie fürchtet.
Wäre sie jedoch in dem Zelt mit der „Wahrheitsmandala“-Session gelandet, hätte sie sicher weitere wütende Tweets losgelassen. Dort ging es um die Spirale, die man emotional durchläuft: zuerst Dankbarkeit, die uns „zurück zur Quelle“ bringt, dann Respekt für den „inneren Schmerz“, schließlich „mit neuen Augen sehen“, bevor man nach vorne schreitet.
Das klingt esoterisch, ist aber psychologisch. Wenn XR wie eine Religion wirkt, dann weniger als Opium fürs Volk, sondern als Ecstacy. MDMA öffnet Herzen und macht empathisch.
![](https://taz.de/picture/3727259/14/tazw.png)
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
„Regen“ ist die Abkürzung für Regeneration und eine Säule von XR, damit die Rebellen keinen Burn-out erleiden. Ich ließ die wenigen Body-Mind-Angebote für Deeskalierungstrainings aus. Apropos „self care“: Am besten besucht war das juristische Briefing mit Gebärdendolmetscherin, um uns sicher in die Grauzone zwischen Demonstration und Verhaftung zu entsenden.
Gemalt wurde viel: XR-Sanduhrsymbole auf Flaggen mit vom Aussterben bedrohten Vögeln als endemische Note. Abends sangen wir im Zelt: „The children have spoken – the earth won’t be broken.“
Sea Rotmann, gebürtige Grazerin mit türkis gefärbten Haaren, ist eine der XR-SprecherInnen in Neuseeland. Sie zog sich ein Krakenkostüm an, um uns Neue bei den „Rebellen ohne Grenzen“ einzuführen – nicht als Gag, sondern weil das Tier der Vorbote der ökologischen Katastrophe ist. Die promovierte Meeresbiologin tauchte am sterbenden Great-Barrier-Riff und hat die Antarktis bereist.
„Danke, dass ihr meine Trauer teilt. l love you“
Rotmann erläuterte zuerst alle furchtbaren Fakten und sprach dann über den „Albtraum, den wir uns nicht vorstellen können“, mit Tränen in den Augen. Am Ende ihres Vortrags weinte ich auch. Ich dachte an den Strand voller Vögel, an dem ich noch früh am Morgen gestanden hatte, und an meine Söhne. Einer ist jetzt Vegetarier, der andere will definitiv keine Kinder bekommen. „Dr. Sea“, wie die Wissenschaftlerin von den Rebellen genannt wird, klappte ihren Laptop zu. „Danke, dass ihr meine Trauer teilt. I love you.“
Feuchte Augen sah ich auch vor dem Parlament in Wellington, als dort die Trauerbrigade in roten Gewändern und mit weißen Gesichtern auftauchte. Eine der Performerinnen, als Mutter Erde dekoriert, stillte ihr Baby. Der Anblick flößte Ehrfurcht ein. Selten sah ein Untergangszenario so stylish aus. Der XR-Newsletter mit ähnlichen Fotoszenen bedient sprachlich die gleiche Klaviatur: „Mitgefühl; Wahrnehmung; Mut“, „du bist nicht allein“, „wir sind eine Bewegung wie keine andere“.
Apokalyptische Visionen, Gruppenprozesse und Gefühlswallungen – das ist auch Sektenstoff, der im Juli auf der Jahrestagung der International Cultic Studies Association (ICSA) behandelt wurde. Dort hielt Kultforscher Yuval Laor aus Colorado einen Vortrag über Ehrfurcht, Konversion und religiöse Inbrunst. Erweckungserlebnisse, die uns an Gruppen und Menschen binden, funktionieren wie Verliebtsein – man ist manipulierbar, blind gläubig, kann abhängig werden.
Wie kritisch sieht Laor Extinction Rebellion in diesem Kontext? Inbrunst und Begeisterung, ob durch Traumabonding oder prominente Unterstützer wie Keira Knightley und Michael Stipe, sei an sich wertfrei, sagt er. Sekten sind laut Definition schlecht, aber viele positive Gruppen ähneln ihnen in manchen Aspekten, zum Beispiel die französische Résistance im Zweiten Weltkrieg. „Ehrfurcht einzuflößen ist ein gutes Mittel, um Menschen zu beeinflussen. Wenn die Situation ernst ist, wäre es nachlässig, das nicht zu benutzen, um Massen zu einem Wandel zu bewegen.“
XR bezieht sich auf Fakten, aber arbeitet mit Emotionen. Das ist nicht esoterisch oder verwerflich, sondern schlau und richtig.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau