Klimakonferenz in Glasgow: Die magische Zahl
Die Erderhitzung bei 1,5 Grad zu stoppen ist im Klimaschutz das Maß aller Dinge. Machbar ist das kaum. Trotzdem steht dahinter eine Erfolgsgeschichte.
Armin Laschet kam kaum zu Wort. „Man hat in Paris gesagt, Klimaneutralität bis 2050 …“, begann der CDU-Kanzlerkandidat am 9. Mai bei „Anne Will“. Doch Luisa Neubauer schnitt ihm das Wort ab: „Global, nicht für Deutschland, großer Unterschied!“, warf die Sprecherin von Fridays for Future ein.
Empfohlener externer Inhalt
Laschet versuchte es nochmal: „Aber Deutschland hat sich verpflichtet, 2050 …“ – „Nein!“, unterbrach Neubauer wieder. Deutschland habe das Pariser Abkommen unterzeichnet, aber „1,5 Grad und Klimaneutralität 2050, das sind zwei verschiedene Welten“, sagte die Frontfrau der Jugendbewegung. Niemand in der Runde widersprach. Punktsieg für Neubauer. Und für das 1,5-Grad-Ziel.
Dieses Ziel hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Das Versprechen, die globale Erderhitzung bis 2100 auf maximal 1,5 Grad Celsius über die Mitteltemperatur von 1850 bis 1900 steigen zu lassen, ist weltweit zur Messlatte für gute Klimapolitik geworden.
Der UN-Generalsekretär fordert das ebenso wie der Schauspieler Arnold Schwarzenegger, die schwedische Aktivistin Greta Thunberg und die Autobauer von BMW und Ford. In ihrem Sondierungspapier schreibt die potenzielle Ampelkoalition: „Wir sehen es als unsere zentrale gemeinsame Aufgabe, Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen.“
Nur ein ambitionierter Arbeitsauftrag
Dabei wurde das Ziel so gar nicht in Paris beschlossen, sondern nur als ambitionierter Arbeitsauftrag formuliert. Seit 2015 wird es immer populärer, während es die steigenden Emissionen immer mehr gefährden. Die unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte des 1,5-Grad-Ziels zeigt aber auch, welche unerwartete Dynamik Klimapolitik bekommen kann.
An diesem Wochenende startet der Klimagipfel in Glasgow. Das 1,5-Grad-Ziel scheint utopisch – oder kann aus Glasgow doch Paris werden? Außerdem in der taz am wochenende vom 30./31. Oktober: 10 Jahre nachdem der rechtsterroristische NSU aufgeflogen ist, sind noch immer viele Fragen offen. Und: Eine 85-jährige Akrobatin, eine Konditorin und viele schöne Kolumnen. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Die 1,5 Grad hatte bis zum Schluss niemand wirklich auf dem Zettel“, erinnert sich Jochen Flasbarth, SPD-Staatssekretär im Bundesumweltministerium. Er war einer der Verhandler in Paris. Denn seit der ansonsten gescheiterten Konferenz in Kopenhagen im Jahr 2009 galt „unter 2 Grad“ als Richtschnur. Aber schon in Kopenhagen forderten vor allem die Inselstaaten „One point five to stay alive“. 1,5 Grad, damit sie überleben könnten.
Der Slogan wurde allerdings kaum ernst genommen. Auch nicht von der Wissenschaft. „Wir waren die Außenseiter, die Papiere und Modellrechnungen vorlegten, die sich mit 1,5 Grad als Ziel beschäftigten“, erinnert sich der Klimaforscher Carl-Friedrich Schleussner vom Thinktank Climate Analytics.
Für den fünften Bericht des UN-Klimarats IPCC von 2014 „hätte man natürlich auch Szenarien für 1,5 Grad rechnen lassen können, aber das hatte niemand auf dem Radar“. Auch der große Unterschied zwischen 1,5 und 2 Grad, den der IPCC erst 2018 in einem Sonderbericht feststellte, sei da im Prinzip schon klar gewesen: „Eine Erwärmung um 2 Grad ist zu viel.“
Froh, überhaupt ein Ziel zu haben
Doch Politik und Wissenschaft in den Ländern mit dem größten CO2-Fußabdruck hielten an den 2 Grad fest. KlimaschützerInnen waren froh, überhaupt ein Ziel zu haben.
„Das hat etwas sehr Wichtiges geliefert“, sagt ein altgedienter Klimadiplomat, „es hat das abstrakte Ziel der Klima-Rahmenkonvention in eine konkrete Zahl übersetzt.“ Dieses Ziel besteht darin, eine „gefährliche menschengemachte Störung des Klimasystems zu verhindern“, wie es die schon 1992 verabschiedete Konvention forderte.
Mit diesem Ziel begann auch die entscheidende Konferenz in Paris im Dezember 2015. Der deutsche Pavillon, ein einfacher Verschlag aus Sperrholz, der allerdings mit einer begehrten und umlagerten Espressomaschine gesegnet war, hatte als Logo groß „Below Two Degrees“ an den Wänden stehen. Weil Gerüchte aufkamen, Umweltgruppen wollten den Slogan als PR-Aktion in „1,5 Grad“ umwandeln, luden die Deutschen schnell den von allen respektierten Verhandler der Marshallinseln Tony de Brum ein, erinnert sich Jochen Flasbarth.
Auf einer improvisierten Veranstaltung erklärte de Brum daraufhin, die Deutschen seien verlässliche Partner der kleinen Inselstaatengruppe Aosis. Er setze volles Vertrauen in sie. Flasbarth selbst sagte: „Deutschland unterstützt die Forderung nach 1,5 Grad“ – wohl wissend, dass das weder die deutsche noch die abgestimmte EU-Position war. Nachrichtenagenturen meldeten das in die Welt. „Ich bekam dann einen Anruf aus dem Kanzleramt, was das denn solle“, erinnert sich Flasbarth. „Ich habe denen gesagt: Das sagt man hier so auf der Konferenz, und dann hat keiner mehr nachgefragt.“
Eine rote Linie
Auf der Konferenz wurde das 1,5-Grad-Ziel immer wichtiger. „Für uns Inselstaaten war das eine rote Linie“, erzählt James Fletcher, damals Energieminister der Karibikinsel St. Lucia. „Wir waren entschlossen, daran festzuhalten und zur Not die Verhandlungen platzen zu lassen. Wir hatten schon zu viele ergebnislose Konferenzen gesehen.“
Trotzdem weiß Fletcher nicht, wie die 1,5 Grad in den Text kamen, gibt er zu. „Ich habe mit den Arabern geredet, die sagten: Keine Chance, das bedroht unsere Wirtschaft. Und mit einem Verhandler aus Argentinien, der sagte: Ich fühle mit euch mit, aber 1,5 Grad bedeutet, dass wir kein Rindfleisch mehr verkaufen. Das geht nicht.“
Dass die Passage im Endtext auftaucht, sei erst „sehr früh am Morgen des letzten Tages“ entschieden worden, erinnert sich Laurence Tubiana, damals Klimagesandte der französischen Regierung und rechte Hand von Außenminister Fabius, die hinter den Kulissen die Fäden zog. „Vor allem die Saudis und die Chinesen waren strikt dagegen.“
Eines allerdings sei diesen Ländern noch wichtiger gewesen: dass die „gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortung“ der Länder in den Text kam. Diese Formulierung verpflichtet die alten Industrieländer zu mehr Klimaschutz als Schwellenländer wie China. „Davon waren sie regelrecht besessen. Und im Austausch dazu kamen die 1,5 Grad in den Text. Das war unsere Balance.“
Die „Koalition der Hohen Ambition“
Martin Kaiser, der in Paris für Greenpeace Gespräche führte, lobt das Geschick der französischen Konferenzleitung. „Sie hat es meisterhaft verstanden, die Forderungen von allen Seiten so aufzunehmen, dass der Text von mehr und nicht von weniger Ehrgeiz geprägt wurde.“
Als sich die „Koalition der Hohen Ambition“ aus Inselstaaten, EU, USA und anderen fortschrittlichen Nationen hinter die 1,5 Grad stellte, war das Ziel erreicht: Am Abend des 12. Dezember wurde unter dem Jubel der Delegierten das Abkommen verabschiedet. Und mit ihm in Artikel 2 (a) das Ziel, „den globalen Temperaturanstieg deutlich unter 2 Grad zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, ihn auf 1,5 Grad zu begrenzen.“
Wohlgemerkt: Die Staaten hatten nur vereinbart, sich anzustrengen. Doch 2018 legte der IPCC ein Gutachten vor, in dem der Unterschied zwischen einer Erderwärmung um 1,5 oder um 2 Grad deutlich wurde: Bei 2 Grad sind praktisch alle Korallenriffe tot, der Meeresspiegel steigt um zehn Zentimeter mehr an, zehn Millionen Menschen verlieren ihre Heimat, „einige hundert Millionen Menschen“ sind zusätzlich von Armut bedroht.
Außerdem rückten „Kipppunkte“ mit unkalkulierbaren Folgen wie dem Absterben des Amazonas-Regenwalds und dem Auftauen aller Gletscher und Permafrostböden näher. „Selbst als jemand, der seit Jahren mit diesen Problemen vertraut war, war ich überrascht von den Unterschieden“, sagt Jochen Flasbarth.
Das Verfassungsgericht adelte die Sichtweise der „Fridays“
Praktisch gleichzeitig mit dem „1,5-Grad-Bericht“ des IPCC begann Greta Thunberg ihren Schulstreik. Sie mahnte die Delegierten der Klimakonferenz in Kattowitz, sie würden die Zukunft der kommenden Generationen verschleudern. Monate später liefen Millionen von Menschen durch die Metropolen der Welt. Sie forderten Klimaschutz – und die Einhaltung von „1,5 Grad“, die angesichts von Waldbränden und Dürresommern zur Hoffnungschiffre wurden.
1,5 Grad fordern, um wenigstens „deutlich unter 2 Grad“ zu erreichen, so stellt sich die Debatte oft dar. Auch bei der Berechnung des verbleibenden „Budgets“ an CO2, das die Welt noch ausstoßen kann. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU), ein externes Beratungsgremium, hat kalkuliert, Deutschland dürfe ab 2020 noch 6,7 Milliarden Tonnen CO2 emittieren. Der „Budget“-Ansatz (den die Bundesregierung ablehnt, weil nicht im Pariser Abkommen angelegt) ist noch gnädig mit der Politik. Er toleriert 1,75 Grad Erwärmung.
Wie groß die Wirkung von 1,5-Grad-Ziel und „Budget“ trotz allem ist, zeigt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021, das ernsthaften Klimaschutz forderte. Zwar erwähnen die RichterInnen den Text des Pariser Abkommens, wonach 1,5 Grad nur anzustreben sind. Aber in der Begründung zitieren die RichterInnen den Budgetansatz. Damit adelt das Verfassungsgericht die Sichtweise der „Fridays“. Die Regierung reagierte: Klimaneutral soll Deutschland bereits 2045 werden. Mehr Ökostrom soll fließen. Doch auch diese Maßnahmen führen nach SRU-Berechnungen nicht auf den Pfad der 1,5-Grad-Tugend.
Auch hat der Sieg des 1,5-Grad-Ziels im globalen Bewusstsein bisher keinen ausreichenden Einfluss auf die realen Emissionen. Laut IPCC-Rechnung müssen sich die globalen Emissionen von 2010 bis 2030 halbieren, damit die Welt eine realistische Chance auf eine Erwärmung von nur 1,5 Grad behält. Doch die weltweiten Treibhausgasemissionen aus fossilen Brennstoffen sind nicht gesunken, sondern weiter gestiegen.
Auch in Deutschland sind „1,5“ keine Realpolitik. Ein Gutachten im Auftrag von Fridays for Future rechnete vor, dass mit drastisch verschärften Ökostromzielen, schnellem Kohleausstieg und Einschränkungen beim Verkehr Klimaneutralität bis 2035 machbar wäre. Das Gutachten nahm allerdings die Landwirtschaft aus der Rechnung heraus.
Immer noch planen Parteien, Verbände und Behörden im Alltag nicht mit dem 1,5-Grad-Ziel: „Bei den Verhandlungen der Kohlekommission wurde immer von einem 2-Grad-Ziel ausgegangen“, berichtet Martin Kaiser, für Greenpeace Mitglied des Gremiums.
Das zögerte den Ausstieg aus der Kohle bis 2038 hinaus. Vor den Toren demonstrierten damals die „Fridays“: für 1,5 Grad.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau