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Hunderte junge Rechtsextreme bei einem Aufmarsch gegen den CSD in Magdeburg, August 2024 Foto: Mark Mühlhaus/Attenzione/Agentur Focus

Jugendliche in DeutschlandRechtssein zum Dazugehören

Für immer mehr Jugendliche wird rechtes Gedankengut normal, viele wählen die AfD. Warum tun sie das? Und was sagen Pädagog*in­nen dazu?

Von Franziska Schindler aus Cottbus/eisenach/eichwalde

E s herrscht eine aufgeheizte Stimmung in Cottbus an diesem Samstagabend im Januar. Viele Fußballfans sind in der Stadt, sie haben das Spiel Energie Cottbus gegen Dynamo Dresden besucht. Im Bahnhof stehen Po­li­zis­t*in­nen in Reihe. Jonas ist mit seiner Clique, allesamt Dynamo-Fans, aus Radebeul angereist. Seinen gelb-schwarzen Fanschal hat Jonas tief in die Jacke gesteckt, er und seine beiden Freunde tragen schwarze Northface-Jacke und Jeans.

Gerade rechtzeitig ist Jonas 18 geworden – und damit einer von vielen jungen Menschen, die bei der Bundestagswahl zum ersten Mal ihre Stimme abgeben dürfen.Eine politische Meinung hat er sich schon gebildet. „Ich würde wahrscheinlich die AfD wählen, weil die Migrationspolitik in Deutschland nicht so das Optimalste ist“, sagt Jonas. „So seit ein, zwei Jahren weiß ich das, vor allem durch meine Eltern.“

Jonas macht eine Ausbildung zum Industriemechaniker, erzählt er, inzwischen im dritten Lehrjahr. In der Berufsschule hätten fast alle eine ähnliche Einstellung wie er. Ein, zwei fallen ihm ein, „die das mit der AfD und so vielleicht ein bisschen anders sehen“. Aber sonst: niemand. „Aus der Ecke, wo wir herkommen, ist das halt gefühlt normal so“, erklärt er. Sich selbst bezeichnet er als konservativ – anders als die Familie seiner Mutter: „Die wohnen in einem Zweihundert-Einwohner-Dorf und sind halt noch’n bisschen sehr extremer. Die sagen zum Beispiel, dass man mal mit ’nem Sprengsatz in den Bundestag fahren sollte, zu den netten überbezahlten Leuten.“ Das, findet Jonas, müsse nicht sein. Aber: „Man nimmt schon was von den Familiengesprächen mit.“

Rechtssein ist nichts mehr für Außenseiter, es ist etwas zum Dazugehören geworden. Bei der U16-Wahl vor den Landtagswahlen im vergangenen Sommer kam die AfD in Brandenburg auf knapp 30 Prozent der Stimmen. Bei den U18-Wahlen in Sachsen und Thüringen waren es 34,5 und 37,4 Prozent.

Dass immer mehr Jugendliche nach rechts driften, betrifft aber nicht nur Ostdeutschland. In den vergangenen Monaten wurden rechtsextreme Vorfälle an Schulen in Baden-Württemberg und Hessen bekannt. In Albstadt hing im Herbst ein Plakat mit der Aufschrift „Sichere Schulen? Remigration“ an einem Schulgebäude, in Weilburg wurden kürzlich Wolfsgruß und White-Power-Zeichen bei einer Schülerparty gezeigt. Bundesweit stimmten 13,6 Prozent der teilnehmenden Jugendlichen bei den U16-Wahlen vor der Europawahl für die AfD. Was bringt sie dazu?

Ein paar Meter weiter wartet an diesem Abend Lina, Cottbus-Fan in Trikot und Schlaghose, auf ihren Zug nach Finsterwalde. „Ich kann dir eher Parteien nennen, die ich nicht wählen würde“, sagt die Zehntklässlerin, „Auf jeden Fall nicht SPD und Linke und auch nicht CDU und Grüne.“ Die AfD vielleicht? „Die Ausländerpolitik von denen finde ich sehr gut, aber es gibt auch viele Leute, die schlimme Sachen sagen.“ Ihr sei aufgefallen, dass AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel bei Fernsehsendungen nie ausreden dürfe, die anderen dürften das immer. „Das finde ich nicht gut.“

Woher ihr Wissen über die Partei kommt? „Man wird schon sehr beeinflusst durch Tiktok“, erklärt Lina. „Wenn man mehr Videos von einer Partei anschaut, bekommt man noch mehr von der angezeigt, und dann macht man sich seine Meinung dazu“, erklärt die 16-Jährige.

In den sozialen Medien nimmt die Mehrheit der unter 20-Jährigen vor allem die AfD wahr, das ergab die Jugendwahlstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung im Nachgang der Europawahl 2024. Über 60 Prozent nannten weitestgehend unabhängig vom Grad formaler Bildung die AfD als besonders sichtbare Partei. Unterschiede zeigten sich laut Stu­di­en­au­to­r*in­nen beim Alter der Befragten: Bei den 15-Jährigen war die AfD für fast 80 Prozent am präsentesten, bei den 18- bis 20-Jährigen noch für knapp über 50 Prozent. Die Studie stellte auch heraus, dass die jungen Menschen vor allem Social Media nutzen, um sich politisch zu informieren. Eine Mehrheit der jungen Befragten gab an, Zeitungen und Radio gar nicht zu nutzen, Fernsehen nur in geringem Umfang.

„Je nach Jugendstudie kommt man auf acht bis elf Prozent der Jugendlichen, die ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild haben“, erklärt Karin Böllert, die an der Universität Münster Erziehungswissenschaft lehrt. Deutlich mehr Jugendliche und junge Erwachsene stimmen rechtspopulistischen Aussagen zu, je nach Studie sind es bis zu 30 Prozent. Das bedeutet nicht, dass sie für andere Positionen nicht mehr offen sind. Wenn sie ihnen denn begegnen. „Viele leben in einem Umfeld, in dem sie nicht viel Gegenpositionierungen zu erwarten haben“, sagt Böllert. Die Jugendlichen träfen in ihren Freundeskreisen auf Zustimmung, was sie bestärke. Hinzu kommt, wie präsent etwa flüchtlingsfeindliche Argumente in der gesellschaftlichen Debatte geworden sind. „Durch Aktionen wie das gemeinsame Abstimmen von Merz mit der AfD fühlen sich diese jungen Menschen in ihren Positionen legitimiert“, sagt Böllert.

Luchau im August: Daumen hoch für die AfD vor der Landtagswahl in Sachsen Foto: Jonatha Bar-Am

Als das Fußballspiel in Cottbus noch läuft, steht Timo zusammen mit vier Freunden auf der Fußgängerbrücke, von der man direkt auf die Tribüne des Stadions schauen kann. Timo ist 16 Jahre alt. Die Kordhose über seinen Lederschuhen ist ein bisschen zu groß. Er möchte Einzelhandelskaufmann werden, und wenn er schon wählen dürfte, würde er dem „Dritten Weg“ seine Stimme geben. Der Dritte Weg ist eine rechtsextreme Kleinpartei mit völkisch-nationalrevolutionärem Programm, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

„Es gab eine Zeit, da hatte ich eine Freundin, die war sehr, sehr links“, sagt Timo. „Aber dann hat man angefangen, sich eine eigene Meinung zu bilden.“ Er wird noch öfter „man“ sagen, wenn er von sich spricht. Dass sein Name in der Zeitung steht, möchte er nicht. Wie alle anderen Jugendlichen, die in diesem Text zu Wort kommen, heißt er eigentlich anders.

Timos Meinung ist: Grenzen zu, abschieben. Er hat gehört, dass es in Berlin LGBTQ-Kindergärten gebe, „das geht gar nicht“. Dass man jetzt gendern solle, „weil das irgendwelche Minderheiten wollen“, könne er nicht verstehen. Vom Dritten Weg hat er durch einen Freund erfahren, das war vor etwa zwei Jahren. Die Jugendorganisation der Partei ist in der Region Cottbus besonders aktiv und versucht Jugendliche mit Sporttrainings für sich zu gewinnen.

Den Abpfiff hört man bis auf die Brücke. „Ist vorbei?“, fragt einer der Freunde, er trägt geschnürte Stiefel und Bomberjacke, seine blonden Haare sind an den Seiten kurz rasiert. „Dann verpissen wir uns jetzt.“ Die anderen folgen. Er scheint hier der Anführer zu sein, der Größte ist er jedenfalls, und schon 18. „Das ist angekündigt, dass die sich jetzt hier schlagen“, erklärt er, „also: krankenhausreif schlagen.“ Die Jugendlichen gehen die Betontreppen herunter, durch den Fahrradparkplatz und an kahlen Bäumen entlang, zusammen mit vielen andern, die weg sein wollen, bevor die Ultras kommen.

Mit Personen of Color hat er ein Problem und dass man dann gleich als Nazi gilt

Timo will sich nicht prügeln, sagt er. In seiner Freizeit hängt er viel bei dem Freund mit den geschnürten Stiefeln zu Hause rum, in einem Dorf in der Nähe von Cottbus. Einen anderen, der weiße Daunenjacke trägt und schon mit der Schule fertig ist, kennt er schon seit dem Kindergarten. Timo hat noch ein halbes Jahr Oberschule vor sich, dann klappt es hoffentlich mit Mathe und er kann die Ausbildung beginnen. Seine Lieblingsfächer sind Sport, Geografie und Politische Bildung. „Mit den Ukrainern hab ich kein Problem“, sagt Timo. Dann zählt er verschiedene Nationalitäten von Menschen auf, die er schlimm finde. Mit Personen of Color hat er „ein Problem“, und „dass man mit solchen Ansichten dann schnell als Nazi abgestempelt wird“.

„Es ist nicht so, als seien rechts­ex­tre­me Einstellungen vom Himmel gefallen“, sagt Wissenschaftlerin Böllert. „Aber sie haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt und in Form von Stimmen für die AfD eine neue Äußerungsform gefunden.“ Auf dem Land sind es tendenziell mehr als in der Stadt, in Ostdeutschland mehr als im Westen. Wer dort in den Neunzigern, den sogenannten Baseballschlägerjahren, Jugendlicher war, hat heute häufig Kinder im gleichen Alter. „Teilweise haben wir es mit jungen Menschen zu tun, die schon in einem rechtsextremen Umfeld aufgewachsen sind, die kaum ein anderes Gedankengut kennengelernt haben“, sagt Böllert.

Die Wissenschaftlerin, unter deren Leitung der 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung entstanden ist, sieht mehrere Gründe dafür, dass Jugendliche momentan für rechtsextremes Gedankengut empfänglicher sind. Die Einsamkeit etwa, denen viele während der Coronapandemie ausgesetzt waren. „Einsamkeit beschleunigt die Hinwendung zu politischen Akteuren, die einfache Lösungen versprechen“, erklärt sie. Auch die multiplen Krisen beschäftigten die Jugendlichen, das wisse man aus Studien. Die Klimakrise sei weiterhin ein zentrales Thema, aber auch der Krieg in der Ukraine.

Viele Jugendliche hätten das Gefühl, dass Politik die aktuellen Probleme nicht lösen könne und ihre Probleme und Perspektiven nicht ernst nehme. „Insbesondere für junge Männer bieten rechtsextreme Jugendkulturen dann einfache Lösungen, verbunden mit einem heteronormativen pa­triar­cha­len Männlichkeitsverständnis“, sagt Böllert. „Wir müssen das dringend ändern, damit solche Tendenzen nicht zu einer Gefahr für die Demokratie insgesamt werden.“

Im Vergleich zu früheren Generationen fällt dem Team von Wis­sen­schaft­le­r*in­nen um Karin Böllert zudem auf, dass die Jugendlichen hinsichtlich persönlicher Lebensentscheidungen noch immer optimistisch sind – etwa in Bezug darauf, dass sie eine Partnerschaft finden. Aber das Vertrauen in soziale Absicherung haben sie verloren. Böllert wundert das nicht. Viele erlebten in ihren Familien, dass Träume von eigenem Wohnraum geplatzt sind, das Leben teurer wird und sie sich selbst wegen hoher Mieten nicht aus einer beengten Wohnsituation verselbstständigen können. „Die jungen Menschen nehmen durchaus wahr, dass der Wohlfahrtsstaat an Selbstverständlichkeit verliert“, sagt sie.

Dieser Befund erinnert an das, was Jonas im Cottbusser Bahnhof gesagt hat. Er mache sich Gedanken um seine Rente, es gebe „einem schon zu denken, wenn man auf dem Weg zur Berufsschule Rentner beim Flaschensammeln sieht.“ Auch der 16-jährige Timo erzählt von Menschen in seinem Dorf, die weiterarbeiten, weil die Rente nicht reicht.

Im Humboldt-Gymnasium von Eichwalde, einem Ort im Berliner Speckgürtel, findet an diesem Januartag der Tag der offenen Tür statt. Auf einer Backsteinwand neben dem Eingang hängt ein Banner, das Schü­le­r*in­nen selbst gestaltet haben. „Humboldt gegen Extremismus“ steht darauf, und „No Racism“. Darum gruppieren sich eine hochgereckte Faust, eine Regenbogenfahne, ein Megafon und eine Weltkugel. Im ersten Stock stellt die AG „Schule ohne Rassismus“ ihre Arbeit vor, die Hendrik Küpper gemeinsam mit einer Kollegin leitet. Die Schule ist Teil des gleichnamigen bundesweiten Netzwerks.

In Eichwalde unterrichtet der Referendar Politische Bildung. „Wir haben es hier nicht mit plumpem Rechts­ex­tre­mismus zu tun, sondern mit Schü­le­r*in­nen, die ganz genau wissen, was sie sagen dürfen und ihre Positionen meistens auch begründen können“, sagt Küpper. Die Schule stehe für Vielfalt, das wüssten auch die Schüler*innen, die mit rechtsextremer Ideologie oder Fragmenten sympathisierten – und hielten sich zurück. Aber dann seien da die Hakenkreuze, die auf der Unterseite der Schultische eingeritzt würden, Hitlerbilder und rassistische Aussagen insbesondere in den Klassenchats jüngerer Jahrgänge. Küpper weiß, dass manche seiner Schü­le­r*in­nen Eltern haben, die bei der AfD aktiv sind, andere verbringen mit An­hän­ge­r*in­nen des Dritten Wegs ihre Freizeit. „Wenn man mit offenen Augen durch die Schule läuft, sieht man, dass Verbindungen zu rechtsextremen Netzwerken bestehen“, sagt Küpper.

Die AG-Teilnehmenden haben die erste Stolpersteinverlegung in Eichwalde mitorganisiert, einen Antidiskriminierungskodex für die Schulverfassung erarbeitet und geben für die jüngeren Klassenstufen Workshops, zum Beispiel zu Sexismus in der Musik und Antidiskriminierung. Die AG sei für sie aber auch wichtig als Ort, an dem sie sich sicher sein können, auf andere Schü­le­r*in­nen mit einer ähnlichen politischen Haltung zu stoßen, erzählen zwei Schülerinnen, die die Arbeit der Gruppe vorstellen. Im Unterricht sei das anders: „Da sind schon sehr unterschiedliche Extreme, die sich die Meinung sagen.“ Sobald es um politische Positionen geht, gebe es zwei Fronten. „Manche Sachen will ich auch einfach nicht mehr diskutieren“, sagt eine der Schülerinnen. „Zum Beispiel wenn einige Leute sagen, dass Frauen weniger wert sind und schön zu Hause bleiben sollten.“ Auf dem Heimweg komme es vor, dass die Schü­le­r*in­nen der AG als „linke Zecken“ beschimpft werden, das hat auch AG-Leiter Küpper mitbekommen.

Viele erlebten in ihren Familien, dass Träume von Wohlstand geplatzt sind

Eines der ersten Male hellhörig wurde der junge Lehrer im Januar vergangenen Jahres, bei einer Klassenexkursion in den Bundestag zur SPD-Abgeordneten für den Wahlkreis Dahme-Spreewald. Manche seiner Schü­le­r*in­nen echauffierten sich, was der Abgeordneten einfiele, die AfD als rechtsextreme Partei zu bezeichnen, schließlich sitze die ja im Bundestag.

Küpper beschloss, auch auf Wunsch von Schüler*innen, dem Thema AfD-­Ver­bots­ver­fahren eine Unterrichtsreihe zu widmen. Leitfrage der Reihe sei allerdings nicht gewesen, ob man die Partei verbieten solle oder nicht, sondern ob es sich bei ihr um eine demokratische oder eine rechtsextreme Partei handle. „Die AfD-sympathisierenden Schü­le­r*in­nen waren irritiert, dass ich darüber diskutieren will, wie demokratisch die AfD ist“, berichtet Küpper. Nach der Unterrichtsreihe seien ein paar dieser Schü­le­r*in­nen auf ihn zugekommen. „Sie haben gesagt, dass sie nun zumindest besser nachvollziehen können, warum viele ihrer Mit­schü­le­r*in­nen die AfD so gefährlich finden“, erzählt Küpper.

Auf dem historischen Karlsplatz in der Eisenacher Innenstadt sind die Wahlplakate von Grünen, SPD und Linken noch intakt. Annalena Baerbock prangt groß auf einem Plakat, auf dem „Zusammen“ steht. Johannes und seine Freundin spazieren an diesem Februarwochenende durch die Stadt. Sie können damit nichts anfangen. „Wir wollen AfD wählen, einfach weil die gut sind“, sagt der 20-Jährige, und stellt klar: „Wegen der ganzen Ausländer.“ In der thüringischen Kleinstadt ist der Anteil von Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft seit 2015 von 2,3 auf mehr als 10 Prozent gestiegen.

„Es ist hier einfach nicht mehr so wie früher“, sagt Johannes’ Freundin, die in Eisenach aufgewachsen ist, mit Bedauern in der Stimme. Die Gewalt gegenüber Linken und Menschen mit Migrationsgeschichte meint sie damit nicht. Dabei ist die hier besonders präsent: 2019 gründete sich die rechts­ex­tre­me Kampfsportgruppe Knockout 51. Die Mitglieder patrouillierten in den vergangenen Jahren durch die Eisenacher Weststadt und griffen Menschen an, die nicht in ihr Weltbild passten: „Assis“, „Ausländer“, „Zecken“.

wochentaz

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Johannes ist zugezogen, arbeitet als Sanitäter. „Es wird ja auch erzählt, dass die Löhne dann besser werden, wenn die AfD regiert“, sagt er, und findet es gut: „Am Ende des Monats ist nicht mehr viel übrig, gerade mit einer Familie.“ Seine Freundin schuckelt die gemeinsame Tochter in der Trage unter der Winterjacke, drei Monate ist sie jetzt alt.

Davon, dass die AfD wirtschaftsliberal ist, hat er nicht gehört. „Ich hatte jetzt keine Zeit zum Nachrichten schauen“, erklärt er sich. Politisch wichtig ist ihm aber noch ein anderes Thema: Geschlechtervielfalt. „Absoluter Schwachsinn“, sagt Johannes. „Wir sind Christen. Damals hat Gott auch nur zwei Geschlechter erschaffen und keine 500 anderen.“ Seine Freundin pflichtet ihm bei: „Man bekommt es ein Leben lang so beigebracht, dass es zwei Geschlechter gibt, und ich finde es wichtig, dass man es so beibehält und auch unseren Kindern so beibringt.“

Was Johannes und seine Freundin äußern, begegnet Peter Anhalt in seiner Arbeit regelmäßig. Bei ihm landen die jungen Menschen, die nicht nur rechtsextrem daherreden wie Jonas, Timo und das christliche Paar, sondern auch Gewalt ausüben. Anhalt ist Theologe, in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und Fachbereichsleiter für Rechtsextremismus beim Violence Prevention Network in Berlin. In einem unscheinbaren Wohnhaus im Norden Berlins hat die NGO, die mit rechtsextremen Jugendlichen arbeitet, ihre Beratungsräume. Das Schild über dem Ladenlokal hat das Team kürzlich abgenommen. „Aus Sicherheitsgründen“, sagt Anhalt, „Die Zeiten haben sich geändert.“ Anhalts Kli­en­t*in­nen sind in der Schule oder bei der Polizei auffällig geworden, einige der Älteren sitzen in U-Haft. In Einzelsitzungen versuchen die Mitarbeiter*in­nen mit ihnen herauszuarbeiten, was sie in ihrem Leben noch sein wollen außer gewalt­affin und rechtsextrem. Auch mit dem Ziel, dass sie dann weniger gefährlich sind für Menschen, die sie zu ihrem Feindbild erklärt haben.

Das sei neuerdings die queere Bewegung, berichtet Anhalt. „Jugendgruppen tun sich relativ hierarchiearm zusammen und reisen durch Ostdeutschland, um CSDs anzugreifen.“ Das zivilgesellschaftliche Forschungsinstitut CeMAS zählt allein für den vergangenen Sommer 27 Anti-CSD-­De­mons­tra­tionen, teils mit gewaltbereiten Besucher*innen. Insbesondere Trans­feindlichkeit eignet sich als verbindendes Ideologiefragment von fundamental-christlichen Kreisen bis hin zu organisierten Neonazis. Die antiqueeren Narrative, die von Russland aus gezielt via Social Media im Westen gestreut werden, dürften ihr Übriges tun.

In den vergangenen Jahren hat das Violence Prevention Network vor allem mit Erwachsenen gearbeitet. „Jetzt bekommen wir, wie in den nuller Jahren, ganz viele Anfragen zu 15- und 16-Jährigen, wir kommen kaum hinterher“, sagt Anhalt. Inzwischen müsse man priorisieren: „Wen nehmen wir, wen nicht? Je gewaltbereiter, desto dringender.“ Ein Großteil der Jugendlichen käme aus desolaten Verhältnissen. „Sie nehmen massiv Drogen, konsumieren Alkohol und brauchen ihre Feindbilder“, sagt Anhalt.

Schullei­te­r*in­nen wandten sich an die NGO, weil sie plötzlich Hasspostings entdeckten oder es an der Schule zu Fällen von Gewalt komme. „Es ist jetzt eben wieder cool, rechts zu sein“, sagt Anhalt, „so richtig Jugendkultur.“ Anhalts Arbeit macht das ungleich schwieriger. Druck von der Familie, von Ermittlungsbehörden oder Antifas habe in der Vergangenheit dabei geholfen, die jungen Menschen zum Umdenken zu bewegen. Aber inzwischen sind Anhalts Kli­en­t*in­nen keine Außenseiter mehr, sondern empfinden sich als Teil eines Mainstreams. „Wir können die jungen Menschen ja nicht aus den Verhältnissen rausholen, in denen sie leben“, sagt Anhalt.

Auch in den Ministerien herrscht diese Ratlosigkeit. Die politische Bildung und Demokratiebildung wurden in den vergangenen Jahren in vielen Bundesländern ausgebaut. Bislang fruchten die Maßnahmen kaum. Bil­dungs­­ex­per­t*in­nen nennen mehrere Gründe dafür. Zum einen sei politische Bildung als Teil der Gesellschaftsfächer mit nur wenigen Unterrichtsstunden ausgestattet. Zum anderen werde sie oft von Lehrkräften vermittelt, die eigentlich andere Schwerpunkte hätten. Auch die Anbindung an aktuelle Debatten gelinge nicht immer.

Der AfD-Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Sächsische Schweiz – Osterzgebirge spricht mit Jugendlichen Foto: Jonathan Bar-Am

Lehrer Hendrik Küpper versucht in Eichwalde genau das: aktuelle Diskurse aufgreifen. Seine Schü­le­r*in­nen kämen aus privilegierteren Verhältnissen, sagt der Lehrer. Wichtig sei für ihn, die vielfaltsorientierten Schü­le­r*in­nen in ihrem demokratischen Engagement zu stärken, zugleich aber die Kommunikationskanäle zu rechtsextremen Schü­le­r*in­nen „nicht ganz zu versperren, indem man moralisierend auftritt“.

Toxische Männlichkeitsbilder etwa, die auch im Rechtsextremismus präsent sind und die vor allem Schüler äußerten, sind für Küpper nicht Ausdruck einer gefestigten rechtsextremen Weltanschauung. „Vielmehr geht es dabei um Identität und Halt, was ja vollkommen legitim und nachvollziehbar ist.“ Fündig würden sie allerdings häufig bei In­fluen­cern „mit einem ganz merkwürdigen Geschlechterverständnis“, die häufig rechtsextremen Netzwerken zuzuordnen seien. „Echte Männer sind rechts“, verkündete etwa AfD-Politiker Maximilian Krah im vergangenen Jahr auf Tiktok und ging damit viral. Die Plattform hat seine Reichweite inzwischen gedrosselt.

Küpper ist überzeugt, dass die meisten seiner Schü­le­r*in­nen für Argumente zugänglich sind – wenn man versucht zu verstehen, welches Anliegen hinter einer Äußerung liegt, im Einzelgespräch, ohne sie vor der Klasse bloßzustellen. Im Unterricht nimmt Küpper sich dann Zeit, mit den Schü­le­r*in­nen zu besprechen, wie Diskriminierung funktioniert, was rechtspopulistische Angebote plausibel erscheinen lässt und wie sie rechtsextreme Symbole erkennen können, „eher mit einer soziologischen Herangehensweise, ohne Bewertung“. „Sich an der Lebenswelt von Schü­le­r*in­nen zu orientieren ist für die politische Bildung ohnehin wichtiger, als den Rahmenlehrplan chronologisch abzuarbeiten“, sagt Küpper.

„Wir alle kennen demütigende Situationen aus unserer eigenen Schulzeit, wo zum Beispiel gerade die aufgerufen und vorgeführt wurden, die eine Frage nicht beantworten können“, sagt er. „Das ist das Gegenteil von einer Lernsituation, in der man selbst mitbestimmen kann, wie man sie gestalten will.“ Die Institution Schule habe viel nachzuholen, bis sie ein Ort sei, an dem junge Menschen Demokratie und Mitbestimmung erleben. Dabei seien positive Selbsterfahrungen wichtig, gerade für Kinder aus rechtsextremen Familien, die aber selbst anders denken oder für andere Denkweisen zumindest offen sind. „Wir können nichts an ihrem Elternhaus ändern, aber dafür sorgen, dass sie hier einen Raum finden, in dem sie sich als selbstbestimmte Akteure spüren und ein positives Verhältnis zu sich selbst entwickeln können“.

Hendrik Küpper ist auch deshalb Lehrer geworden, weil er es reizvoll findet, sich mit Rechtsextremismus an der Schule auseinanderzusetzen. „In die Schule müssen alle gehen“, sagt er, „Das ist eine Chance.“ Dass ein Siebtklässler in seiner Zeit als Vertretungslehrer noch vor dem Referendariat ein Schild mit dem Slogan „Stoppt die Genderideologie“ hochgehalten habe, findet er eher soziologisch interessant als abschreckend. Küpper kann sich darauf verlassen, dass sein Direktor hinter ihm steht, falls es zum Konflikt mit Schü­le­r*in­nen oder Eltern kommen sollte. Und es gibt an seiner Schule keine systematisch etablierten rechtsextremen Netzwerke.

Das sollte eigentlich die Regel sein, ist es aber nicht. In Burg im Spreewald etwa wurden 2023 Leh­re­r*in­nen bedroht und angefeindet, die Hitlergrüße und Hakenkreuzschmierereien öffentlich gemacht hatten, bis sie die Schule verließen. Beide sahen keine andere Möglichkeit, als zur Sicherheit für ihre Familien auch die Stadt zu verlassen.

„An vielen Schulen herrscht eine Angst, Fälle von Rechtsextremismus zur Sprache zu bringen“, sagt Erziehungswissenschaftlerin Böllert. „Wir brauchen aber eine Schulkultur, die klarstellt: Wir stehen an eurer Seite, wenn ihr Fälle öffentlich macht.“ In der Bearbeitung mit den Schü­le­r*in­nen sei dann wichtig, anstelle von Verboten mit ihnen ins Gespräch zu gehen, ohne das Gefühl zu geben, dass man ihre Position teilt – so wie Hendrik Küpper das macht.

Das Neutralitäts­gebot heißt nicht, Hass und Hetze zu dulden

Ähnliches gelte für die offene Kinder- und Jugendarbeit. Böllert beobachtet „eine falsche Sorge vor dem Neutralitätsgebot“, das es in der Jugendhilfe gar nicht gäbe. Trotzdem seien Sozialarbeitende zögerlich, rechtsaffinen Jugendlichen zu widersprechen. 


Das „Neutralitätsgebot“ bei staatlichen Institutionen wird von rechtsextremen Kräften immer wieder bewusst falsch ausgelegt, um den kritischen Umgang mit der AfD zu torpedieren. Aber selbst die Ministerien betonen, dass Unparteilichkeit nicht bedeute, keine Haltung zu zeigen. Überdies soll politische Bildung auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung fußen, ist also sogar explizit aufgefordert, verfassungsfeindliche Tendenzen in Parteien anzusprechen.

Dabei macht das Finanzierungsmodell von Jugendklubs und anderen Einrichtungen die Arbeit mit AfD-sympathisierenden Jugendlichen schwerer. Viele Angebote sind weiterhin als Projekte mit begrenzter Laufzeit und damit auch mit befristeten Arbeitsverträgen für So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen finanziert. „In einer solchen Konstellation ist es sehr schwierig, Vertrauen aufzubauen, was aber nötig ist, wenn man die Jugendlichen aus rechtsaffinen Kontexten herauslösen will“, sagt Karin Böllert. Wenn dann Einrichtungen geschlossen würden, füllten rechtsextreme Akteure die Leerstellen mit Freizeitangeboten, die Jugendliche zunächst gar nicht als politisch wahrnehmen.


Ab dem zwölften Lebensjahr beginnen junge Menschen in der Regel, sich politisch zu positionieren. Böllert ist davon überzeugt, dass spätestens dann auch politische Bildung beginnen sollte. „Dabei reicht es nicht, nur wissensmäßig zu lernen, wie das demokratische System funktioniert, was im Nationalsozialismus passiert ist, wofür Auschwitz steht. Wichtiger ist, dass sie Demokratie miterleben können“, findet Böllert. Jugendliche bräuchten Mitspracherechte zu Themen, die sie betreffen.

Eigentlich wäre Brandenburg – das Bundesland, in dem Hendrik Küpper lehrt – ein gutes Beispiel für die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen. In der Kommunalverfassung ist verankert, dass sie in allen sie betreffenden Gemeindeangelegenheiten Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte haben – zum Beispiel, wann der Bus fährt und welche Spielgeräte auf den Pausenhof der neuen Schule sollen. Doch in der Praxis würden die Interessen dann doch häufig wenig berücksichtigt, heißt es aus dem Kompetenzzentrum Kinder- und Jugendbeteiligung in Brandenburg. Oder die Mitwirkungsformate – Jugendparlamente etwa – richteten sich an Jugendliche mit vergleichsweise vielen Ressourcen. Das Fazit: Die Jugendlichen hätten recht mit ihrem Eindruck, dass ihre Perspektive für die Po­li­ti­ke­r*in­nen am Ende wenig zählt.

Langfristig, sagt Erziehungswissenschaftlerin Böllert, treibt sie um, wie Jugendliche besser geschützt werden können, deren Lebensentwurf von rechtsextremen und rechtspopulistischen Akteuren abgelehnt wird, die von Diskriminierung betroffen sind oder sich für den Erhalt der Demokratie einsetzen. Bislang würden sie vielerorts allein gelassen, von Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­r*in­nen wie von Lehrer*innen, aber manchmal auch von der Kinder- und Jugendhilfe. Dem Schutz dieser jungen Menschen wird sie ihr nächstes Forschungsprojekt widmen.

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1 Kommentar

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  • Dazugehören.



    Ach, Mensch.