Joe Bidens Ukraine-Äußerungen: Kleine und große Invasionen
Biden hat mit seinen Äußerungen den Europäern einen Gefallen getan. Er hat gezeigt, dass der Schlüssel zur Konfliktlösung nicht in Washington liegt.
I st eine Invasion eine Invasion? Oder gibt es davon kleine und große? Was macht eine kleine Invasion groß? Wer misst den Unterschied? Und welches Maß wird angelegt?
Joe Biden scheint über diese Nuancen klare Ansichten zu haben. So jedenfalls klang es, als der US-Präsident am Mittwoch auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus die Kategorie „minor incursion“ einführte (auf Deutsch „geringfügiges Eindringen“,„kleine Invasion“) – Russlands in die Ukraine nämlich – und erklärte, dass die Reaktionen darauf anders, also kleiner, ausfallen würden als auf eine große Invasion.
Was Biden gesagt hat, wurde mit den anschließenden Interpretationsversuchen seiner Sprecherin noch nebulöser. Und es scheint, als könnte es die Versuche seiner UnterhändlerInnen, die in diesen Tagen in diplomatischer Mission unterwegs sind, konterkarieren. Aber entgegen den Behauptungen von Konservativen hat es die Kriegsgefahr in der Ukraine nicht erhöht, und Biden hat Wladimir Putin auch keine Geheimnisse verraten.
Der russische Präsident weiß, dass die Mitgliedsländer der Nato zu vielen Dingen in diesem Konflikt unterschiedliche Positionen vertreten: zum Umgang mit Moskau, zu einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und zur militärischen Aufrüstung von Russlands Nachbarländern. Putin ist ebenfalls klar, dass weder die USA noch die Nato willens sind, wegen der Ukraine Krieg zu führen.
Militärische Umzingelung Russlands
Trotz – oder gerade wegen – der ungeschickten und unklaren Äußerungen könnte Biden den europäischen Nato-PartnerInnen aber einen Gefallen getan haben. Denn er hat einmal mehr klargemacht, dass Washington nicht der Ort ist, von dem die Lösung eines potenziellen bewaffneten Konflikts in der Ukraine zu erwarten ist.
Seit der Wende von 1989 haben die USA Osteuropa als eine Chance für die Ausdehnung ihres Einflussgebietes betrachtet. Dabei haben sie der militärischen Umzingelung Russlands eine zentrale Rolle gegeben. Sie taten, als wäre die Ausdehnung der Nato die logische Konsequenz des Endes des Kalten Krieges. Westeuropa hat das toleriert.
Dabei zeigt der Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass auch die USA nicht bereit sind, eine Aufrüstung direkt vor ihren Landesgrenzen zu tolerieren. Als Moskau 1962 Raketen auf Kuba stationieren wollte, bereitete Washington einen Krieg vor.
Für die Europäer – das ist eine mögliche Lehre aus Bidens Auftritt – ist es ein Fehler, den Konflikt in der Ukraine den Präsidenten von zwei Großmächten zu überlassen, die bei diplomatischen Konflikten vor allem in militärischen Kategorien denken. Statt kleine und große Invasionen zu definieren, wäre es höchste Zeit, auf allen Seiten abzurüsten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen