Historiker über Israels Zukunft: Einen Ausweg suchen

Der israelische Historiker Moshe Zimmermann über Wege aus dem Krieg in Gaza und den falschen Vorwurf, Zionismus sei Kolonialismus.

Blick auf die Landschaft bei Jerusalem, im Vordergrund ein palästinensischer Ort, Sonne scheint auf sandige Landschaft, eine Mauer trennt Siedlungsbereiche

In Zukunft zwei Staaten? Blick auf die Landschaft bei Jerusalem, im Vordergrund ein palästinensischer Ort Foto: Pond5/imago

wochentaz: Sie bezeichnen sich selbst als einen leidenschaftlichen Vertreter der Zweistaatenlösung. Hand aufs Herz, sehen Sie dazu nach dem 7. 10. tatsächlich eine Chance?

Moshe Zimmermann: Sämtliche Alternativen zur Zweistaatenlösung sind weniger kons­truktiv, oder auch katastrophal. Es geht jetzt um die Umsetzung in die Praxis. Und wir müssen über den Preis sprechen.

ist ein israelischer Historiker und emerierter Professor für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Der könnte sich als zu hoch herausstellen. Könnte eine Absichtserklärung zur Zweistaatenlösung in der jetzigen Zeit nicht als Belohnung für den 7. Oktober und die Taten der Hamas verstanden werden?

Es wäre eine Belohnung für Israel!

Wollen Sie das näher erörtern?

Ich formuliere es mit Absicht provokativ. Die Begründung, es sei eine Belohnung, wird von denen ins Feld geführt, denen daran gelegen ist, die Zweistaatenlösung zu verhindern. Israel muss aber aus dieser Sackgasse raus. Daher sage ich, es wäre eine Belohnung für unser Land, wenn wir uns in Richtung Verhandlungen und Verständigung mit den Palästinensern bewegen.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Friedenshindernisse?

Moshe Zimmermann: „Niemals Frieden? Israel am Scheideweg“. Propyläen Verlag, Berlin 2024, 192 Seiten, 16 Euro

Auf Seite der Palästinenser gibt es eine große Gruppe – wie groß sie tatsächlich ist, weiß ich nicht –, die aus Prinzip gegen einen Frieden mit Israel ist. Auch die Netanjahu-Regierung lehnt eine Verständigung mit den Palästinensern prinzipiell ab. Die Begründung lautet stets, die Palästinenser seien unzuverlässig. Und mit dem Feind könne man keine Vereinbarung erreichen. Das ist die Argumentation der aktuellen Regierung, die aus meiner Sicht aber nur ein Vorwand ist. Mehr noch. Die israelische Politik hat sich bemüht, die palästinensische Führung zwischen Westbank und Gaza zu spalten. Nach dem Prinzip divide et impera hat man hier jedoch nicht das impera erreicht, sondern einen Stillstand herbeigeführt.

Im Buch geben Sie das Jahr 1977 als entscheidenden Wendepunkt an. Warum?

Bis zum Jahr 1977 wurde das Land von einer Koalition regiert, bei der die Führungsrolle der Arbeiterpartei zukam. Ab 1977 sind es die nationalistische Likud-Partei und ihre Alliierten, die das Land regieren. Die Arbeiterpartei war grundlegend anders eingestellt bei den Themen Sicherheit und der Rolle der Palästinenser. Eine Unterbrechung fand 1992 mit der Wahl Jitzchak Rabins zum Regierungschef statt. In Form des Osloer Abkommens schien eine Alternative da – Frieden mit den Palästinensern. Seit der Ermordung Rabins sind wir back to square one.

Sie schreiben in Ihrem Buch, der Grundkonflikt habe sich zwischen Palästinensern und Israelis seit drei Jahrzehnten nicht verändert. Doch lässt sich die Rolle, die der Iran in jüngster Zeit spielt, nicht ausblenden.

Iran spielt in diesem Konflikt bereits seit 1979 eine Rolle. Mit Khomeini begann eine neue Phase in der Beziehung zwischen Israelis und Palästinensern. Strukturell aber bleibt die Auseinandersetzung unverändert. Netanjahu setzt auf Abschreckung gegen die atomare Bewaffnung des Iran. Das ist meines Erachtens eine Fehleinschätzung der Situation. Weil die eigentliche Gefahr nicht das Atomprogramm des Iran ist, sondern die Fähigkeit, durch Handlanger Israel angreifen zu können.

Ziel des Irans und seiner Handlanger ist aber nicht die Herbeiführung eines Palästinenserstaates, sondern die Auslöschung Israels.

Das ist die Sichtweise, die einer Korrektur bedarf. Dass Hisbollah und Hamas Israel zerstören wollen, ist hinlänglich bekannt, das gehört zu deren Ideologie und Weltanschauung. Der Iran jedoch überlegt, ob er tatsächlich bereit ist, für eine israelische Niederlage seine Interessen, seine Sicherheit, seine Existenz aufzuopfern. Das geschieht unter dem Eindruck der Drohungen der Amerikaner. Zum Glück haben sich die USA nach dem 7. Oktober klar positioniert. Das Wort „don’t“, das Präsident Biden ausgesprochen hat, hat uns bislang den großangelegten Zweifrontenkrieg erspart.

Schwenken wir nach Deutschland und die hiesige Betrachtung des Konflikts. Sie kritisieren die deutsche Staatsräson und bezeichnen sie als „hohlen Slogan“. Was erscheint Ihnen so hohl?

Das Fehlen von Inhalten ist das Problem und macht die Benutzung dieser Formel hohl oder zu einer Floskel. Wenn die Leute darunter verstehen, dass wir bedingungslos hinter Israel stehen, was auch immer Israel tut, ist das natürlich falsch. Israel kann eine schlechte Regierung haben und eine falsche Politik machen. Dahinter muss man nicht automatisch stehen.

Sie schreiben auch, Deutschland solle im Konflikt mehr Druck auf Israel ausüben. Wäre das eine angemessene Rolle für Nachfahren der NS-Täter?

Gerade deshalb. Als Erben der Täter muss man aus der Geschichte etwas lernen. Da versteht es sich, nicht an der Seite von Rassisten zu stehen.

Jedoch auch nicht an der Seite von Antisemiten. Momentan erleben wir allenthalben israelbezogenen Antisemitismus. Den wollen Sie insbesondere bei der BDS-Bewegung jedoch nicht erkennen. Warum nicht?

Wenn man israelische Waren boykottiert, weil sie aus den besetzten Gebieten stammen, ist dies nicht per se antisemitisch.

Wo aber fängt Ihrer Ansicht nach der Antisemitismus an?

Dann, wenn die alten Vorurteile gegen Juden die Grundlage für die Kritik an Israel werden; wenn die Begründung für den Boykott lautet, Juden versuchen die Welt zu beherrschen. Oder wenn man Israel auslöschen möchte. Ich beschäftige mich seit fast 50 Jahren mit Antisemitismus und seinen Erscheinungsformen. Glauben Sie mir, ich erkenne ihn, wo ich ihm begegne.

Sie üben im Buch – für einige sicher überraschend – Kritik an der postkolonialen Lesart des Konflikts. Was sehen Sie als problematisch an?

Der Zionismus entstand nicht als Kolonialbewegung. Er war national motiviert. Ihm zugrunde liegt der Wunsch von Juden, sich als Nation zu definieren. Dieser Wunsch ist legitim. Die Auswanderer nach Palästina waren – wie ich im Buch betone – keine Gesandten eines europäischen Imperiums, sondern sie waren Verfolgte und Vertriebene, die gezwungen waren, Europa zu verlassen. Das ist eine Situation, die man nicht eine typisch kolonialistische nennen kann, und deswegen ist diese pauschale postkoloniale Betrachtung des Zionismus im Nahen Osten oder Israel mindestens undifferenziert und im Endeffekt auch unfair. Der Kampf der zionistischen Bewegung gegen die englische Mandatsmacht war sogar ein Kampf gegen Kolonialismus. Die postkoloniale Leseart der Siedlungsbewegung im Westjordanland seit 1967 halte ich, im Gegensatz, für berechtigt.

Hat der Wunsch nach einer konsequenten Trennung in Israel und Palästina seit dem 7. Oktober wieder zugenommen?

Absolut. Zuletzt war das Thema unter der Netanjahu-Regierung auf der einen und der Hamas auf der anderen Seite begraben. Auch auf der internationalen Bühne akzeptierte man die Erzählung von der Nichtrealisierbarkeit. Seit dem 7. Oktober erinnert man sich aber wieder daran, dass es ohne die Zweistaatenlösung keinen akzeptablen Ausweg gibt. Die Zerschlagung der Hamas kann nicht das „Endziel“ sein. Daher müssen wir in Israel einen Schritt in eine andere Richtung machen.

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