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Gründe für Erfolge bei der EU-WahlKehrseite der Einigkeit

Dass so viele Menschen ihre Stimme Protestparteien geben, liegt nicht nur an der Entfremdung zur Politik. Dauerhafte Krisen haben die Gesellschaft verändert.

Illustration: Katja Gendikova

E s ist noch gar nicht so lange her, da gab es diesen Konsens: Demokratie ist super, unser politisches System der Teilhabe funktioniert, die Medien kontrollieren die Mächtigen. Inzwischen wird das von vielen in Frage gestellt. Verfassungsfeindliche Spinner gab es schon immer, aber so viele Zweifler*innen, von rechten Bauern bis hin zu linken Ökos, das ist neu. Wie groß die Entfremdung ist, hat auch die Europawahl gezeigt: Für Union, SPD, Grüne, FDP und Linkspartei stimmten bundesweit nur knapp 64 Prozent.

Zehn Jahre zuvor waren es noch 84 Prozent. Die AfD profitiert von dieser Schwäche, ebenso das Bündnis Sahra Wagenknecht – und bei den jungen Wäh­le­r*in­nen die Partei Volt. Die Erklärungsversuche, warum sich so viele Menschen vom politischen Betrieb abwenden, wirken häufig hilflos. Es wird dann auf die Fehler der Ampel verwiesen, auf das vergurkte Heizungsgesetz und das Gezeter innerhalb der Koalition. Auf Olaf Scholz, der zu wenig spricht.

Da ist sicher was dran, es reicht als Erklärung aber nicht aus. Die Ursachen der Entfremdung liegen tiefer. Es sind die Krisenerfahrungen der letzten zehn Jahre, die die Gesellschaft verändert haben. Sie haben eine psychologische Dynamik ausgelöst, die das entstandene Misstrauen gegenüber den Parteien und den Medien zu guten Teilen erklärt – und auch die Vehemenz, mit der dieses Misstrauen artikuliert wird.

Was genau passiert in einer Krise? Der israelische Psychologe und Gruppenanalytiker Robi Friedman hat sich lange damit beschäftigt, wie Krieg eine Gesellschaft verändert. Nun ist Deutschland nicht im Krieg. Trotzdem sind seine Überlegungen auch für uns interessant, Friedmans Modell lässt sich auf alle Formen existenzieller Bedrohungen anwenden. Die gesellschaftlichen Auswirkungen sind vergleichbar, wenn auch weniger stark ausgeprägt.

Bedingungsloser Zusammenhalt in der Gruppe

Krieg ist in diesem Sinne die krasseste Form der Krise und legt die Dynamiken besonders deutlich offen. Friedman sagt, dass eine existenzielle Bedrohungslage das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft grundlegend verändert. Es komme zu einer „weitgehenden Unterordnung der Individuen unter die Ziele und Interessen des Kollektivs“. Man kennt das als „Rally-’round-the-Flag“-Effekt: Die Menschen rücken zusammen, sie versammeln sich um die eigene Flagge.

Die Welt wird in Gut und Böse eingeteilt, die Abwehr der Bedrohung hat Priorität

Das gibt nicht nur der jeweiligen Regierung Rückhalt, es führt auch zu einer großen Solidarität untereinander, schreibt Friedman. Man hilft sich, wo man kann. Die Kehrseite dieser Einigkeit ist ein Zwang zur Konformität. „Die Menschen glauben, mit einer Stimme sprechen zu müssen“, sagt Friedman. Wer das erklärte Ziel in Frage stellt oder die eigenen Leute kritisiert, wird als Ver­rä­te­r*in ausgegrenzt. Darunter leidet auch die Meinungsvielfalt.

Fühlen sich die Menschen existenziell bedroht, gibt es weniger Raum für Differenzen oder gar für Empathie mit dem Feind. Die Welt wird in Gut und Böse eingeteilt, die Abwehr der Bedrohung hat Priorität. Mit einer liberalen, offenen Gesellschaft vertrage sich so ein Denken nicht gut, sagt Friedman. „Die liberale Gesellschaft funktioniert nur ohne Angst.“ Mit Friedmans Konzept im Hinterkopf lässt sich besser verstehen, wie die Krisen der vergangenen Jahre die deutsche Gesellschaft geprägt haben.

Schon 2015 konnte man einige der von Friedman beschriebenen Effekte beobachten. Die Zuwanderung von Flüchtlingen setzte Energien frei, es gab eine große Welle der Solidarität. Sehr viele erlebten die Ereignisse nicht als Krise, andere schon. Sie fühlten sich offenbar bedroht. Das gab der AfD Auftrieb, die Merkels Asylpolitik deutlich kritisierte. Noch besser lässt sich Friedmans Modell auf die Pandemie anwenden.

Unmut auch in der Mitte

Ähnlich wie ein Krieg stellte Corona eine konkrete Bedrohung dar, viele hatten gerade zu Beginn große Angst. Um Schlimmeres zu verhindern, griff die Regierung durch: Ausgangssperren, Schulschließungen, Kontaktverbot – die Menschen mussten sich dem Interesse des Kollektivs unterordnen und starke Einschränkungen hinnehmen, die Abwehr des Virus hatte Priorität. Auch während Corona gab es eine große Solidarität.

Nachbarn kauften füreinander ein, Ärzte meldeten sich freiwillig für Impfzentren. Um vulnerable Gruppen zu schützen, verzichteten viele auf persönliche Treffen. Die Menschen rückten, wenn auch kontaktlos, zusammen. Mit dieser Einigkeit ging, wie von Friedman beschrieben, auch ein sozialer Druck einher. Wer Maßnahmen oder die Impfung ablehnte, wurde zur Außenseiter*in. Manche verglichen sich mit Widerstandskämpfern, was maßlos übertrieben ist.

Niemand musste um sein Leben fürchten, alle konnten, rechtlich gesehen, immer ihre Meinung sagen. Eine soziale Ächtung gab es aber schon. Davon waren mehr betroffen, als man vielleicht denkt. Zu Beginn der Pandemie äußerte ein Fünftel der Deutschen großes oder sehr großes Verständnis für die Coronaproteste, gegen Ende sogar jeder Vierte. Das zeigen repräsentative Zahlen des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Dabei handelte es sich nicht um eine homogene Gruppe.

Die Proteste gegen die Coronamaßnahmen fanden nicht nur am rechten Rand Zustimmung, sondern auch in der politischen Mitte, schreiben die Wissenschaftler*innen. Die etablierten Parteien standen hinter der Coronapolitik der Regierung, angesichts der Bedrohung waren auch sie zusammengerückt. Nur die AfD wetterte von Beginn an gegen Maßnahmen, gegen Impfungen, ebenso wie einzelne Abgeordnete, etwa Sahra Wagenknecht. Im Laufe der Pandemie kritisierte auch die FDP die Einschränkungen immer mehr.

Pandemie schwächt Meinungsvielfalt

Für jene 20 bis 25 Prozent, die die Coronapolitik schwierig fanden, hieß das: Sie wurden kaum repräsentiert. Wer sich in der politischen Mitte verortete und die AfD ablehnte, war politisch weitgehend heimatlos. Auch die Meinungsvielfalt litt in der Pandemie. Obwohl ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung die Maßnahmen kritisch sah, kamen Co­ro­na­skep­ti­ke­r*in­nen in der Berichterstattung kaum vor, zeigt eine Studie, in der die Beiträge großer Medien zwischen Januar 2020 und April 2021 ausgewertet wurden.

Und wenn sie denn vorkamen, wurden sie praktisch durchgängig negativ bewertet. Die Jour­na­lis­t*in­nen waren insgesamt noch mehr auf Vorsicht aus als die Regierung, zeigt die Studie. „Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wurden in den meisten Medien als angemessen oder sogar als nicht weitreichend genug bewertet“, so das Fazit der Wissenschaftler. Man kann das richtig finden. Auch Jour­na­lis­t*in­nen fühlten sich dem Ziel verpflichtet, das Virus zu bekämpfen.

Gut möglich, dass sich Menschen auch wegen der Berichterstattung streng an die Maßnahmen hielten und so mehr Ansteckungen verhindert wurden. Ein Ergebnis war aber auch, dass sich ein Viertel bis ein Fünftel der Bevölkerung mit der eigenen Position weder bei den großen Parteien noch in den Medien wiederfand. Es folgte der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022. Die Angst ging um, dass es auch bei uns Krieg geben könnte.

Die Menschen rückten wieder zusammen: Die Solidarität mit der Ukraine war riesig, viele nahmen Geflüchtete sogar in ihren Wohnungen auf. Auch politisch war die Einigkeit groß. Dass die Ukraine mit Waffen unterstützt werden müsse, diese Ansicht vertraten bald – mit Ausnahme einzelner Abgeordneter – alle demokratischen Parteien. Und auch ein Großteil der Journalist*innen: Eine Studie zur Berichterstattung in den ersten drei Monaten des Krieges kommt zu dem Schluss:

Die „meisten deutschen Leitmedien haben überwiegend für die Lieferung schwerer Waffen plädiert“. Laut einer ARD-Umfrage waren die Deutschen bei dieser Frage allerdings gespalten. Im April sprachen sich 45 Prozent gegen die Lieferung schwerer Waffen aus – auch hier hat sich also eine Lücke aufgetan. Fast die Hälfte der Bevölkerung sah die eigene Meinung weder bei den großen Parteien noch in der Berichterstattung repräsentiert.

Propaganda mit Minderheitenpositionen

Vor diesem Hintergrund versteht man eher, dass bei mehr Menschen der Eindruck entstand, „die da oben stecken alle unter einer Decke“. Dass sie anfälliger sind für Verschwörungserzählungen. Dass nur noch 40 Prozent das Gefühl haben, man könne in Deutschland seine politische Meinung frei äußern. Vor zehn Jahren glaubten das noch 69 Prozent. Krisen wie Corona und der Ukraine-Krieg setzen Kräfte frei, die die Gesellschaft verändern, im Guten und im Schlechten.

Sie entfalten eine eigene psychologische Dynamik. Die Einigkeit, die sie mit sich bringen, hilft bei der Bewältigung der Krise. Sie führt aber auch zu einem Verlust von Vielstimmigkeit – und damit bei jenen, die sich nicht repräsentiert sehen, zu einem Verlust von Vertrauen. Mit Friedman könnte man sagen: Krisen bekommen der offenen, liberalen Gesellschaft nicht besonders gut. Und da haben wir über die Klimakrise und den Krieg im Nahen Osten noch gar nicht gesprochen.

Der AfD nutzt das, genau wie Sahra Wagenknecht. Sie machte sich zum Sprachrohr all jener, die sich in den Krisen politisch nicht vertreten sahen. Sie machte Stimmung gegen Geflüchtete. Sie setzte sich während Corona als Ungeimpfte in Szene und kritisierte die Maßnahmen. Sie ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Damit stößt Wagenknecht in die Repräsentationslücke – mit Erfolg.

So wenig einem diese Entwicklung gefallen mag, zeigt sie doch: Die viel gescholtene Demokratie funktioniert. Wenn zu „denen da oben“ vermehrt auch Ver­tre­te­r*in­nen der Protestparteien gehören, läuft die Establishment-Schelte irgendwann ins Leere. Genau das könnte ihnen den Wind wieder aus den Segeln nehmen.

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Antje Lang-Lendorff
wochentaz
Teamleiterin Gesellschaft in der wochentaz. Seit 2007 fest bei der taz, zunächst im Berlin-Teil, dann in der Wochenend-Redaktion. Schwerpunkte: Soziales und Reportage.
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36 Kommentare

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  • Moderation , Moderator

    Vielen Dank für Eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion geschlossen. Wenn die Diskussionen ausfallend werden, zu weit vom Thema abweichen, oder die Zahl der Kommentare zu groß wird, wird das manchmal leider nötig. Sonst können wir die Kommentare nicht mehr zeitnah moderieren. 

  • So nahe ich gedanklich Volt auch stehe, doch die Ansätze auf populistische Weise Wahlkampf zu machen, sehe ich in dieser Partei durchaus.



    Bei denen mag mehr dahinterstecken, als bei einem reinen Populisten. Doch nicht leugnen können sie, dass sie vom reinen Frust auf die etablierten Parteien leben.



    Dass sie mehr können, müssen sie noch beweisen.

  • Sie schreiben Sie seinen ein junger Mensch, haben aber schon einen Rentenbescheid?



    Einen Rentenbescheid bekommen nur diejenigen, die eine Rente neu beantragt haben.



    Oder meinen Sie die regelmäßige Information der Rentenversicherung über Ihre bisher gezahlten Beiträge incl. Prognose für verschiedene, in der Zukunft liegende Rentenszenarien?



    Sollte Letzteres der Fall sein, können Sie davon ausgehen, dass die Prognosen mit zunehmender Beitragszahlung und Beitragszeiten natürlich noch steigen. Insbesondere auch dadurch, dass höhere Einkünfte und damit auch höhere Beitragszahlungen eher in den späteren Jahren liegen werden.



    Zum Thema "Rentenlücke" muss allerdings tatsächlich klar sein, dass eben nicht immer weniger erwerbstätige Personen nicht immer mehr Rentenbeziehende auf dem bisherigen Einkommensniveau finanzieren können. Stellt sich halt die Frage, wo die fehlenden Mittel herkommen sollen, wenn nicht von der Erwerbstätigen selbst - sei es durch steigende Beiträge oder Steuern.

    • @Life is Life:

      sorry. sollte eine Antwort auf Sibille Bergi sein

  • ""Krisen bekommen der offenen, liberalen Gesellschaft nicht besonders gut. Und da haben wir über die Klimakrise und den Krieg im Nahen Osten noch gar nicht gesprochen.""!



    ==



    1..Krisen bekommen diktatorisch bestimmte Gesellschaften auch nicht gut - wenn sich die Tür nach Russland hoffentlich mal wieder ein Stück weit öffnet werden wir erfahren, für welche Verwerfungen Corona & der Ukrainekrieg in Russland gesorgt haben.

    2.. Symptomatisch für die Bundesrepublik ist ein scheinbar unaufhaltsamer Prozess der -Entsolidarisierung -



    trotz Mehrheiten bei der Corona Bekämpfung & Waffenlieferung an die Ukraine.

    Entsolidarisierung am Beispiel Wagenknecht: Solidarität und Antiimperialismus stand mal ganz oben auf der Agenda der Linken - zu Recht. Ob sich Wagenknecht impfen lässt ist ihre Angelegenheit. Was nicht mehr allein ihre Angelegenheit ist und die Angelegenheit der Impfgegner: Wie wollt Ihr andere schützen - zum Beispiel diejenigen für die eine Infektion den Tod bedeutet hätte - keine Antwort. Ich habe das viele Male versucht eine Antwort von Impfgegnern zu bekommen.

    3.. Der Begriff "Imperialismus" ist merkwürdigerweise aus der politischen Terminologie der Linken verschwunden.

    • @zartbitter:

      Diese Entsolidarisierung scheint ja, so wurde geschrieben, eine direkte Folge der Hypersolidarisierung zu sein.



      Wenn Solidarisch sein gleichbedeutend ist mit "Meinung xy haben", dann wird jeder, der eine andere Meinung hat von der Mehrheit als unsolidarisch abgestempelt. Und das bewahrheitet sich dann im Anschluss, weil die mit anderer Meinung sich untereinander ebenfalls solidarisieren und unbewusst die Entsolidarisierung als ihre Flagge, um die sie sich scharen wählen.

  • Danke für diese interessanten Einsichten.



    Die Coronaanalyse musste ich etwas überfliegen, das Thema kann ich echt nicht mehr hören.



    Was die Darstellung der Waffenlieferungen betrifft, so möchte ich anfügen, dass sich Viele Menschen vom vorsichtigen Agieren des Kanzlers repräsentiert fühlten, eine deutliche Mehrheit trug laut Umfragen diesen Kurs mit. Für die Medien, galt das nicht, hier uberwog Kritik am Kanzler, die Umfragen wurden wenig thematisiert.



    Die Krisensituationen sind sehr interessant beleuchtet!



    Die Meinungsvielfalt wird, in der Tat, durch Gruppendruck eingeschränkt. Dies gilt insbesondere für den Ukrainekrieg und den Gazakonflikt.



    Die VertreterInnen der jeweiligen, angeblichen "Mehrheitsmeinung" diffamieren Diejenigen anderer Meinung.



    Argumente zählen in dem Zusammenhang scheinbar weniger, als moralische Anklagen.



    Das ist eine bedenkliche, undemokratische, Entwicklung.



    Auch in der Kommune herrscht dieses Klima vor, wenn hier auch deutlich besser gefiltert wird, als in den



    asozialen Medien. Der Unterschied zu dem Verhalten der Rechten ist dann kaum spürbar.



    Gesellschaftlich betrachtet, scheinen Viele das Meckern dem Machen vorzuziehen.

    • @Philippo1000:

      "Argumente zählen in dem Zusammenhang scheinbar weniger, als moralische Anklagen."

      Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren immer mehr "emotionalisiert wurde" oder sich "emotionalisiert hat".

      Aus meiner Sicht keine gute Grundlage für das Lösen von Problemen jedweder Art.

      Andererseits ist es auch schwer als Nichtfachmann/frau objektive Informationen zu erhalten, Statistiken korrekt zu lesen und verstehen, echte und unechte Nachrichten zu unterscheiden und sich der allgegenwärtigen (gut oder schlecht gemeinten ) gemeinten Manipulation zu entziehen.

  • Der Optimismus am Ende ist leider unangebracht. Sind die in die Repräsentationslücke vorstoßenden Politunternehmer*innen erst mal etabliert, finden Sie immer neue Aufreger oder stellen Sie her. Dann haben sie auf einmal kein Problem mehr damit an der politischen Willensbildung mitzuwirken (und ihre Wähler auf die krudesten politischen Reisen zu führen). Die, von denen diese Politunternehmer*innen behauptet haben, ihnen eine Stimme zu geben, werden zu denen, die sie versuchen in einen permanenten politischen Aufruhr zu versetzen. Oder kürzer: Nachbeter*innen werden zu Vorbeter*innen.

  • Mir absolut unbegreiflich und befremdlich, ausgerechnet Volt hier als Protestpartei einzustufen. Protest gegen was? Zumal es dann später weitergeht mit Verschwörungsdynamiken und dergleichen. Also wenn kein Versehen, ist das mal sowas von daneben, ist demokratisch bedenklich, und insofern auch politikwissenschaftlich schlicht ohne Grundlage nimmt es dem ganzen Text für mich gleichsam seine. Da mag sonst manches richtig sein und die Motivation völlig in Ordnung, aber so ist es schade um die Arbeit. Hier muss man klar unterscheiden zwischen Abkehr vom Establishment in Folge Desillusionierung und Verdruss einerseits, und ner Hinkehr zum Populismus von Parteien wie AfD und Wagenknecht: *das* mögen (!) Protestparteien sein aber etabliert sind die nun allemal. Und das zu verrühren ist kein seriöser Ansatz. Die Annahme hingegen, Klein- und Protetparteien seien quasi gleichbedeutend, das wär ein Irrtum und ehrlicherweise nicht mal'n populärer.

  • Die AfD als reine Protestpartei zu bezeichnen bedeutet sie zu unterschätzen. Entweder sie zerlegt sich selber von innen oder sie wird verboten, andernfalls wird sie fester Bestandteil der Parteienlandschaft bleiben, selbst bei einer Regierungsbeteiligung.

  • Die Probleme liegen tiefer und beruhen auf unserem Wirtschaftssystem. Es fing mit der Gründung des Wirtschaftsliberalismus im Rahmen der Aufklärung im 18. Jh. an und geht bis zum Aufstieg des Neoliberalismus, seiner Fixierung auf das Individuum sowie dem irren Konsum aufgrund einer Marktradikalität. Es gibt zahllose Studien über die verheerenden Folgen dieser politischen Ideologie. Eigentlich wäre es sinnvoll, grundlegende Fragen zu stellen.

    • @Carsten Weide:

      Wohlstand für Milliarden, Freiheit und selbstbestimmtes Leben für die meisten? Was sonst hat der Wirtschaftsliberalismus gebracht? Faschismus, Stalinismus, Maoismus haben Hunderte Millionen Leichen hinterlassen. Der westliche Kapitalismus hat Milliarden besser lebende Menschen erreicht.

      • @Gorres:

        Hat er das? Wenn das so ist, eine Lobeshymne auf McDonalds, dem gesündesten Unternehmen der Welt!

      • @Gorres:

        Von den Systemen, die wir bisher kennen, ist es eindeutig das beste gewesen.



        Das ist jedoch kein Grund, nicht nach seinen Mängeln zu schauen, und auch diese reparieren zu wollen.

  • Ist die Politik nicht da, um die Menschen in Krisenzeiten zu stützen?



    Das hat nicht funktioniert!

  • Ein sehr differenzierter und durchdachter Text. Deswegen lese ich Taz.



    Für mich als junger Mensch stellt es sich so dar, dass keine der Parteien, die die letzten 50 Jahre an der Regierung beteiligt waren (CDU, SPD, Grüne, FDP) ernsthaft die Zukunftsprobleme dieses Landes angegangen. Diese sind für mich

    1. Klimanwandel (die Ampel hat ganz gut gestartet, aber mittlerweile ebenso katasprohal wie ihre Vorgänger)



    2. Rentenlücke



    Wenn ich auf meinen Rentenbescheid gucke wird mir schlecht. Das momentane System ist zutiefst unfair, immer weniger junge müssen immer mehr ältere versorgen.



    3. Integration



    Noch nie hat es in diesem Land eine funktionierende Integrationspolitik gegeben. Die zunehmende Bildung von Parallelgesellschaften macht mir Angst (siehe Kalifatsdemo in Hamburg etc.)



    4. Infrastruktur



    Die Bahn verrotet, der ÖPNV verrotet.



    Die Brücken bröckeln, die Schulen verfallen, von den Unis gar nicht zu Reden.

    Als junger Mensch fühlt man sich sehr allein gelassen in dieser überalterten Demokratie.

    • @Sybille Bergi:

      Sie schreiben Sie seinen ein junger Mensch, haben aber schon einen Rentenbescheid?

      Einen Rentenbescheid bekommen nur diejenigen, die eine Rente neu beantragt haben.

      Oder meinen Sie die regelmäßige Information der Rentenversicherung über Ihre bisher gezahlten Beiträge incl. Prognose für verschiedene, in der Zukunft liegende Rentenszenarien?

      Sollte Letzteres der Fall sein, können Sie davon ausgehen, dass die Prognosen mit zunehmender Beitragszahlung und Beitragszeiten natürlich noch steigen. Insbesondere auch dadurch, dass höhere Einkünfte und damit auch höhere Beitragszahlungen eher in den späteren Jahren liegen werden.

      Zum Thema "Rentenlücke" muss allerdings tatsächlich klar sein, dass eben nicht immer weniger erwerbstätige Personen nicht immer mehr Rentenbeziehende auf dem bisherigen Einkommensniveau finanzieren können. Stellt sich halt die Frage, wo die fehlenden Mittel herkommen sollen, wenn nicht von der Erwerbstätigen selbst - sei es durch steigende Beiträge oder Steuern.

    • @Sybille Bergi:

      Nahezu sämtliche progressiven Elemente der Regierungsarbeit wurde durch die FDP torpediert. Das wiederum den Sozis und Grünen anzulasten, hört sich wenig durchdacht und differenziert an.

    • @Sybille Bergi:

      Bei 1, 2, 4 gebe ich Ihnen als (relativ) alter Mensch definitiv Recht.

      Das ist ein riesiges Versäumnis, eher eine Katastrophe mit Ansage.

      3 sehe ich überhaupt nicht so pessimistisch wie Sie. Ich würde Migration in Deutschland als Erfolgsgeschichte beschreiben. Gibt es doch sehr viele Menschen, die sehr gut integriert sind, eigene Unternehmen haben, in wichtigen Berufen arbeiten, ihre Kinder zu guten Staatsbürgern erziehen, auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und die Demokratie schätzen und und und.

      Da würde ich mich etwas umsehen und mit Leuten reden.

      Natürlich gibt es auch Fehlentwicklungen, wie den von Ihnen angesprochenen Islamismus. Die müssen entschieden bekämpft werden.

      • @Stavros:

        Sehe ich auch so, und dann sagt mir meine Frau, mit orthodoxen / montenegrinischen Wurzeln, wir sind zu tolerant. Wir benennen z.B. Weihnachtsmärkte um, um es unseren Gästen recht zu machen. Sie meint wer als Gast kommt muss sich anpassen, sonst habe er hier nichts zu suchen. Er kann seine Religion mitbringen, aber er soll diese für sich behalten und privat ausleben. Sie freut sich, dass Deutschland Flüchtlinge aufnimmt, findet uns aber zu devot und meint wir schießen übers Ziel hinaus.

        • @Narrenfell:

          Dass Weihnachtsmärkte umbenannt werden, hat einen ganz schnöden kapitalistischen Grund: Man kann sie schon vor dem Advent starten und nach Weihnachten offen lassen.



          Nicht jede Änderung in diesem Land ist eine Folge von übermäßiger Toleranz.

        • @Narrenfell:

          "Wir benennen z.B. Weihnachtsmärkte um, um es unseren Gästen recht zu machen."

          Wie viele Fälle kennen Sie, bei denen das aus den genannten Gründen geschehen ist, die es erlauben, von "wir" zu sprechen.

        • @Narrenfell:

          Wo ich wohne (Berlin) heißen Weihnachtsmärkte auch so.

          Aber egal: Es gilt das Grundgesetz, die freiheitlich-demokratische Grundordnung.

          Der Staat ist weltanschaulich neutral, Religion ist Privatsache und im öffentlichen Raum treffen sich Subjekte unterschiedlichster Prägungen.

          Der gesamte Balkan ist übrigens ein höchst heterogener Raum mit den unterschiedlichsten Traditionen (meine Frau ist Bulgarin).

          Ich würde mir in der Gesellschaft sowohl mehr Toleranz als auch mehr Anstand wünschen.

          Gleichzeitig denke ich, dass z.B. die verrottete Infrastruktur und die Ungleichverteilung von Wohlstand ein viel größeres Problem in Deutschland sind als Migration.

        • @Narrenfell:

          Sie haben eine sehr kluge Frau!

  • "Wenn zu „denen da oben“ vermehrt auch Ver­tre­te­r*in­nen der Protestparteien gehören, läuft die Establishment-Schelte irgendwann ins Leere. Genau das könnte ihnen den Wind wieder aus den Segeln nehmen."

    Das funktioniert nicht, wenn Faschisten die Regierung stellen. Das erste, was die machen, ist, die eigene Position abzusichern und das System derart umzubauen, dass eine Abwahl kaum noch möglich ist. Beispiele dafür gibt es zuhauf.

  • Ein kluger Text, der übrigens ohne eine Diffamierung von Menschen als Nazis auskommt!

    • @Hans Hermann Kindervater:

      Gut erkannt. Auch von mir ein Lob für diesen klugen und differenzieren Bericht.

  • Ich stimme ihnen nicht zu. Meines Erachtens ist der Hauptgrund in erster Linie in der Ablehnung dieser(!) Asylpolitik, welche eher eine unkontrollierte Zuwanderungspolitik ist. Nur trauen sich viele nicht dies zu sagen (AfDumme ausgenommen), weil man sonst schnell einen Stempel aufgedrückt bekommt. Also ist man besser ruhig und wählt halt anders. WQas aber noch viel schlimmer ist: Die Ampel hat rein gar nichts daraus gelernt und nach der nächsten Wahl stehen sie wieder wie begossene Pudel das und sagen "Wo sind die Gründe".

    • @Rudi Hamm:

      "unkontrollierte Zuwanderungspolitik" - warum nochmal ersaufen Menschen im Mittelmeer?

      • @O-Weh:

        Werden die kontrolliert "ersaufen" lassen oder was soll die Verquickung von 'unkontrolliert' und 'Mittelmeer' in einem Satz sagen?🤔

      • @O-Weh:

        Ich kann ihre Argumentation von "unkontrollierte Zuwanderungspolitik" und "warum .. ersaufen .. im Mittelmeer" nicht verstehen. Zudem finde ich ihre Bezeichnung "ersaufen" völlig Respektlos den Toten gegenüber, sie ertrinken.

  • Es ist doch schon mal ein Anfang, wenn die taz nach fast zehn Jahren eingestehen, dass es Menschen gibt, die den Flüchtlingszustrom als Krise empfinden könnten; das wurde bisher strikt abgelehnt.

    Anders als die Autorin glaube ich jedoch nicht, dass sich das Problem mit den Protestparteien selbst erledigen wird. Durch die diversen Braundmauern werden diese halt nie zu "denen da oben" sondern können weiter den Underdog geben. Im Zweifel folgt eine Protestpartei der jeweils Anderen.

    • @DiMa:

      Nein, dass Menschen den Zuzug von Ausländern als Krise empfinden, wurde schon immer an- und erkannt. Nennt sich Rassismus.

      • @BrendanB:

        Die Ablehnung des Zuzuges kann noch ganz andere Gründe haben; insbesondere finanzieller Natur (Sozialsystem, Armut, Wohnungsbestand, Schulen u.s.w.).

        Das ist jedoch nicht der Ansatz meines Beitrages. Bisher wurde stets bestritten, dass die Möglichkeit besteht, den Zuzug als Krise empfinden zu können.

        • @DiMa:

          Wenn nun die Empfindung in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, dann soll aber bitte auch hinterfragt werden, inwiefern sich diese Empfindung aus dem Faktum speist oder einem bestimmten Spin, der von interessierter Seite immer noch und immer wieder angedreht wird: Könnten sonst ja die Menschen auf die Idee kommen für ihre Sorgen die tatsächlich Verantwortlichen zu suchen … Vermögens- und Einkommensschere, Aushöhlung der Sozialsysteme zugunsten Lohndumping, Bau von Luxus- statt Sozialwohnungen, Torpedieren von Klimaschutz zugunsten von Fossil-Profiten … … …



          Man stelle sich nur vor, die Leute würden anfangen zu fragen, wer da so dahinter steckt.

          Fakt ist doch, daß die Überalterung unserer Gesellschaft eines der fundamentalen Probleme ist und Zuwanderung die einzige Lösung. Der Geburtenknick ist nun ja schon 50 Jahre her, die Lücke füllt sich nicht mehr biologisch … und es ist nicht Geld das fehlen wird, sondern Leute, die für dieses Geld dann arbeiten können und wollen.