Freiheit für Geimpfte: Gleiches Recht nur für Gleiche

Wer keine Infektionsgefahr darstellt, muss seine Freiheit zurückbekommen. Letzlich geht es auch um das Signal, dass die Einschränkungen endlich sind.

Illustration - Menschen sehen, wie andere Menschen rittlings auf Impfspritzen fliegen

Pieks in die Freiheit. Geimpften Grundrechte zu versagen, ist verfassungsrechtlich nicht tragbar Illustration: Katja Gendikova

Freiheiten für Covid-19-Geimpfte als „Sonderrechte“ oder „Privilegien“ zu bezeichnen, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht irreführend und falsch. Freiheit stellt den Normalfall dar, Beschränkungen hingegen sind die Ausnahme, die besonders gerechtfertigt werden müssen.

Wenn also coronabedingte Beschränkungen aufgehoben und Freiheiten wieder eingeräumt werden, geht es keineswegs darum, „Sonderrechte“ oder „Privilegien“ zu gewähren – und zwar auch dann nicht, wenn diese Freiheiten zunächst nur einer einzelnen Personengruppe gewährt werden. Nichts anderes gilt für den Gleichheitssatz in der Verfassung. Dieser verbietet lediglich die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem.

Geht von Geimpften keine potentielle Gesundheitsgefahr aus, wohl aber von Ungeimpften, sind Geimpfte und Ungeimpfte nicht wesentlich gleich und können deshalb auch ungleich behandelt werden. Anders sieht es aus, wenn Geimpften, Genesenen und negativ Getesteten nicht die gleichen Freiheitsrechte eingeräumt würden. Sie sind wesentlich gleich und für sie müssten deshalb aus gleichheitsrechtlicher Sicht die gleichen Freiheiten gelten.

Dies gilt unter dem Vorbehalt, dass wissenschaftlich belegt alle drei Gruppen nicht ansteckend sind und damit keine Gesundheitsgefahr von ihnen ausgeht. Die derzeitigen Debatten über „Sonderrechte“ oder „Privilegien“ für Geimpfte beziehen sich außerdem auf die Kategorien Solidarität und Gerechtigkeit, die wiederum verfassungsrechtlich keine Rolle spielen. Zwar soll das Grundgesetz auch eine gerechte Ordnung sein.

Keine Privilegien

Der grundrechtliche Schutz verwirklicht sich allerdings in den Kategorien von Freiheit und Gleichheit. Nicht jede politische Debatte muss zugleich eine verfassungsrechtliche sein. Es kann eine Debatte sogar unnötig hemmen, wenn bei einer Maßnahme vorschnell auf eine nicht eindeutig bestimmbare „Verfassungswidrigkeit“ verwiesen wird, die es zu diskutieren gelte. Ob eine Maßnahme der Verfassung entspricht, ist zudem ohnehin Teil des politischen Prozesses.

Spätestens wenn es um die Gesetzgebung geht, muss die staatliche Gewalt ihr Handeln an den verfassungsrechtlichen Vorgaben ausrichten. Die Gerichte kontrollieren, ob diese Verpflichtung eingehalten wird. Sobald eine politische Forderung den Weg in das Gesetzgebungsverfahren findet, werden verfassungsrechtliche Argumente also ohnehin diskutiert. Das Gleiche gilt für freiheitsbeschränkende Gesetze, die bereits in Kraft sind.

Sie müssen immer wieder auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz hin überprüft werden. Ändern sich beispielsweise wissenschaftliche Erkenntnisse, kann eine Aufhebung oder Änderung dieser Gesetze verfassungsrechtlich geboten sein. Das bedeutet: In dem Augenblick, wo wissenschaftlich erwiesen ist, dass Covid-19-Geimpfte andere nicht anstecken können, muss die Einschränkung der Freiheitsrechte auf den Prüfstand. Einschränkungen der Grundrechte sind zwar erlaubt.

Neben der Eindämmung der Pandemie sind beispielsweise auch die Gurtpflicht im Auto oder eine Haftstrafe Eingriffe in das Freiheitsrecht. Allerdings setzt jede Einschränkung voraus, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist, also geeignet, erforderlich und angemessen. Derzeit betreffen die Freiheitsbeschränkungen alle Bürgerinnen und Bürger unterschiedslos. Die Regelung geht davon aus, dass von allen gleichermaßen eine Gesundheitsgefahr ausgehen kann.

Maske sollten alle tragen

Aber: Trifft diese Annahme für einzelne Personengruppen – etwa für Geimpfte – nicht mehr zu, sind die Einschränkungen der Freiheit nach verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht mehr erforderlich. Etwas anders verhält es sich mit der Maskenpflicht. Hier gilt: Die Beschränkungen können bestehen bleiben, wenn andernfalls die Situation nicht oder kaum kontrollierbar wäre. Es wäre in der Realität nicht umsetzbar, jeden zu überprüfen, der keine Maske trägt oder den Mindestabstand nicht einhält.

Hinzu kommt, dass es sich hierbei um vergleichsweise geringe Grundrechts­eingriffe handelt. Von Geimpften zu verlangen, dass sie sich an die Abstands- und Hygieneregeln halten, ist deshalb verfassungsrechtlich nicht bedenklich. Begriffe wie „Sonderrechte“ und „Privilegien“ sind nicht nur nach verfassungsrechtlichen Maßstäben unangebracht.

Damit politische Entscheidungen von der Bevölkerung akzeptiert werden, ist es wichtig, dass schon im Entscheidungsfindungsprozess keine falschen Bezeichnungen verwendet werden. Politische Kommunikation muss gerade in Pandemiezeiten anstreben, dass die in Gesetzesform gegossenen Entscheidungen für die Bevölkerung nachvollziehbar und einleuchtend sind. Diese Kommunikation muss darauf ausgerichtet sein, die Akzeptanz der getroffenen Maßnahmen zu fördern.

Akzeptanz ist eine wesentliche Voraussetzung für die Bekämpfung der Pandemie, aber auch für das Vertrauen in den Staat – wobei beide Aspekte durchaus zusammenhängen. Mit dem Argument, den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht gefährden zu wollen, wurden die Debatten über die Aufhebung von Freiheitsbeschränkungen für Geimpfte zunächst vertagt oder mit großer Zurückhaltung geführt.

Doch seit das Robert-Koch-Institut bestätigt hat, dass von Geimpften keine Gefährdung ausgeht, ist die Debatte unausweichlich. Sie sollte nicht nur, aber auch aus der Perspektive der Verfassungsrechtswissenschaft offen geführt werden. Gerade in einer offenen Debatte dürfen Begriffe wie „Sonderrechte“ oder „Privilegien“ selbstverständlich verwendet werden.

Freiheitsrechte einräumen

Es sollte allerdings für alle Beteiligten klar sein, dass sie keineswegs wertneutral sind und einen lösungsorientierten Diskus eher hemmen. Als Argument gegen die Wiedereinräumung von Freiheiten wird vielfach auf die gesellschaftliche Solidarität verwiesen. Diejenigen, die bereits geimpft sind, sollen sich solidarisch zeigen mit denjenigen, die auf die Impfung warten. Mit verfassungsrechtlichen Maßstäben lässt sich diese Solidarität nicht greifen.

Vor allem aber ist Solidarität – zumal eine erzwungene – keine Rechtfertigung oder akzeptable Begründung dafür, Freiheitsbeschränkungen aufrechtzuerhalten. Interessanterweise wird von Geimpften vor allem deshalb Solidarität verlangt, weil man annimmt, dass Nichtgeimpfte es als ungerecht empfinden würden, wenn Freiheitsrechte an die Immunisierten zurückgegeben würden. Doch stimmt das überhaupt?

Zweifel sind angebracht, und auf jeden Fall wären Missgunst und Neid aus verfassungsrechtlicher Sicht hinzunehmen. Wenn auch Covid-19-Genese oder negativ Getestete in die Wiedereinräumung von Freiheiten einbezogen werden, ist die tatsächliche Ungleichbehandlung ohnehin als marginal anzusehen. Mehr noch: Freiheitsrechte wieder einzuräumen – und sei es zunächst auch nur für Geimpfte –, kann der Gesellschaft sogar wieder Hoffnung geben.

Es zeigt auf, dass das eingeschränkte Pandemieleben nicht zum Dauerzustand werden muss. Auf diese Weise kann die Wiedereinräumung von Freiheiten gerade die Akzeptanz von Beschränkungen fördern. Außerdem trägt sie dazu bei, Branchen zu retten, die besonders von den Einschränkungen betroffen sind – Kunstschaffende, Gastronomie, Tourismus zum Beispiel –, und dient damit wiederum einem gesamtgesellschaftlichen Interesse.

So gesehen hat Solidarität auch noch andere Aspekte, die ebenfalls in die Debatte hineingehören. Das gebieten nicht zuletzt die verfassungsrechtlichen Direktiven. Denn nicht nur Geimpfte, sondern auch diejenigen, die ihre Arbeit derzeit nicht anbieten dürfen, können sich auf ihre Grundrechte berufen und – auch vor den Gerichten – deren Wiedereinräumung einfordern, sofern die Beschränkungen nicht mehr erforderlich und angemessen sind.

Solidarität in der Pandemie setzt in jedem Fall voraus, dass den Menschen im Land bewusst ist: Wenn Freiheitsrechte wieder eingesetzt werden, geht es nicht um „Sonderrechte“ oder „Privilegien“. Bei einem Geimpften besteht der Grund für die Beschränkungen von Verfassungsrechten schlicht nicht mehr. Die Regierenden können nicht rechtfertigen, in die Grundrechte einzugreifen.

Deswegen kann es rechtlich betrachtet nicht unsolidarisch sein, wenn ein hohes Gut wie die Freiheit für Geimpfte wieder gilt. Ein Mensch, der nachweislich niemanden mit dem Coronavirus infizieren kann, stellt keine gesundheitliche Gefahr dar. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist es geradezu zwingend, die Beschränkung der Freiheitsrechte aufzuheben.

Werden dadurch Ungleichheiten hervorgerufen, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind, aber in der Bevölkerung als ungerecht empfunden werden, stehen die politischen Entscheidungsträger vor einer großen Herausforderung. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass die Menschen die Maßnahmen akzeptieren und weder das Vertrauen in den Staat noch der gesellschaftliche Zusammenhalt leidet. Eine einfache Aufgabe ist das nicht.

Gelingen kann sie nur, wenn Debatten offen geführt werden und auf die verfassungsrechtlich unzutreffenden sowie stark wertenden Begriffe wie „Sonderrechte“ oder „Privilegien“ verzichtet wird.

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ist Vorsitzende der Kommission Verfassungsrecht, Öffentliches Recht und Gleichstellung beim Deutschen Juristinnenbund. Sie lehrt an der Georg-August-Universität Göttingen.

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