Forscherin über Migrationshintergrund: „Weg mit diesem Begriff“
Vor 15 Jahren wurde der Begriff Migrationshintergrund eingeführt. Im Alltag werde er meist stigmatisierend verwendet, sagt die Forscherin Deniz Yıldırım.
taz: Frau Yıldırım, die Stuttgarter Polizei ermittelt den Migrationshintergrund von jungen Tatverdächtigen der „Krawallnacht“ – und erklärt, dass das im Jugendstrafrecht nun mal dazugehört. Was halten Sie davon?
Deniz Yıldırım: Ich finde es sehr gut, dass die Polizei auf die Lebensumstände gucken und präventiv vorgehen will. Ich habe mir die gängigen Präventionsmaßnahmen mal angeguckt. Da wird geschaut, ob es Gewalt in der Familie gibt oder ein Elternteil arbeitslos ist, solche Dinge. Keine einzige Maßnahme zielt auf den Migrationshintergrund. Außerdem gibt es keinerlei Studien, die einen Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Kriminalität belegen. Die Polizei widerspricht hier sowohl der Forschung als auch ihren eigenen Maßnahmen.
Mit welcher Wirkung?
Wieder einmal wird jungen Leuten abgesprochen, deutsch zu sein. Erst fällt die Polizei selbst mit rassistischen Funksprüchen auf, dann versucht sie mit sehr hohem Aufwand, zu rekonstruieren, welche Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben. Dabei wird eine Akribie an den Tag gelegt, die wir an anderer Stelle vermissen, etwa bei den Ermittlungen zum NSU 2.0. So zerstört die Polizei das Gefühl dieser jungen Menschen, dass auch sie dort einen Ansprechpartner haben, der auch für ihren Schutz da ist.
Der Migrationshintergrund wurde vor 15 Jahren als statistische Größe im Mikrozensus eingeführt. War das ein Fortschritt oder ein Fehler?
Im Jahr 2000 wurde das Staatsbürgerschaftsrecht liberalisiert. Wir sind vom Blut- zum Bodenrecht übergegangen. Wenn auch mit vielen Einschränkungen gilt seitdem im Grundsatz, dass in Deutschland geborene Kinder Deutsche sind. In der Statistik sollte der Migrationshintergrund ab 2005 Integrationsverläufe über mehrere Generationen sichtbar machen. Im Alltag aber sagt man seitdem statt „Ausländer“ einfach „Menschen mit Migrationshintergrund“. Und zwar egal, ob die Definition das hergibt oder nicht.
Die Definition hat sich über die Jahre gewandelt. Migrationshintergrund besagt heute, dass eine Person selbst oder mindestens ein Elternteil ohne deutsche Staatsbürgerschaft geboren wurde.
Genau. Aber im Sprachgebrauch meint man damit meist schlicht Menschen, die nicht dem Phänotyp „weiß“ entsprechen. Damit hat der Begriff etwas sehr Stigmatisierendes. Und das hat Folgen: Es gibt Studien, in denen etwa der Anteil der Muslime völlig überschätzt wurde, weil er synonym mit Migrationshintergrund gedacht wurde.
Was kann eine statistische Größe wie der Migrationshintergrund aussagen?
39, ist Senior Research Scientist bei der Menschenrechtsorganisation Citizens for Europe im Bereich „Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership“.
Er kann uns sagen, dass wir etwa 25 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung haben. Was aber unsichtbar bleibt: Diese Menschen haben zig verschiedene Nationalitäten, Muttersprachen, Religionen, Herkunftsländer, Milieuzugehörigkeiten. Im Mainstream denken wir nur an ein paar wenige Gruppen: etwa türkisch, arabisch, polnisch, russisch. Trotzdem kann der Begriff dazu beitragen, Diskriminierung sichtbar zu machen, etwa beim Zugang zum Wohnungs- oder Arbeitsmarkt. Man muss dabei aber immer seine Grenzen bedenken.
Was wären die?
Es erfahren auch Menschen rassistische Diskriminierung, die in der dritten, der fünften oder der hundertsten Generation hier leben. Die fallen aus der Statistik. Das kann zum Beispiel Schwarze Menschen betreffen, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma…
Bei Citizens for Europe haben Sie untersucht, wie divers die Führungsebenen in Berliner Verwaltungen sind. Auf welcher Grundlage?
Wir verwenden den Migrationshintergrund – noch. In vielen Referenzstatistiken, etwa zur Bevölkerungszusammensetzung, gibt es eben nur diese Größe. Wenn wir sagen: Verwaltungen müssen die gesellschaftliche Vielfalt abbilden, dann bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn einen aber Diskriminierung interessiert, muss man weitergehen.
Inwiefern?
In unserer Berlin-Studie hatten 15 Prozent der Führungskräfte einen Migrationshintergrund. Nur 3 Prozent aber haben angegeben, dass sie rassistisch diskriminiert werden. Wir haben einen Fragenkatalog entwickelt, um speziell solche Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten zu erheben. Da geht es um die Selbst- und die Fremdwahrnehmung: Wie bezeichne ich mich selbst? In Bezug auf was werde ich diskriminiert? Das ist nicht immer deckungsgleich – ich kann antimuslimisch diskriminiert werden, ohne Muslima zu sein.
Wäre es nicht problematisch, wenn ein Migrationshintergrund oder sogar weitere Daten, etwa in Personalabteilungen, erhoben würden?
Wir als Menschenrechtsorganisation haben uns aufgestellt, um zu zeigen: Man kann sich vom Migrationshintergrund lösen und diese differenzierten Daten erheben, ohne diskriminierende Kategorien aufzumachen und ohne den Datenschutz zu verletzen. Da sind wir bisher führend. Gerade arbeiten wir an einer Onlineplattform zum Beispiel für Personaler*innen – die aber die Anonymität der Beschäftigten wahrt. Das ist enorm wichtig.
So ganz um den Migrationshintergrund herum kommen Sie also nicht.
Gerade brauchen wir noch Daten zum Migrationshintergrund in Institutionen und Organisationen, weil es die einzigen Daten sind, mit denen innerhalb und außerhalb von Organisationen gearbeitet wird.
Ist der Migrationshintergrund noch zu retten?
Nein. Weg damit. Und dann kann die Wissenschaft gerne zu uns kommen und darüber sprechen, wie man es richtig macht.
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