Folgen von Twitter-Kauf: Nix wie raus hier?
Kaum gehört Twitter Elon Musk, wird das Debattenklima dort messbar schlechter. Nutzer*innen fragen sich: Zeit zum Absprung?
Viele haben es kommen sehen und davor gewarnt, jetzt passiert es: Mit dem Twitter-Kauf durch den Superreichen Elon Musk hat sich das Gesprächsklima auf der Plattform enorm verschlechtert. Die Gruppe Network Contagion Research Institute hat Millionen von Nachrichten analysiert: In den 12 Stunden nach dem Kauf stieg die Nutzung des N-Worts um beinahe 500 Prozent.
Warum, das ist recht klar – rechte Trolle wollen testen, wie weit sie gehen können, jetzt wo Mr. „Free Speech“ Elon Musk definiert, was auf Twitter geschrieben werden darf. Auf anderen einschlägigen Plattformen war genau zu so einem „Testlauf“ aufgerufen wurde.
Derweil verlor Musk selbst keine Zeit, mit schlechtem Beispiel voranzugehen. Am Samstag beteiligte sich Musk an unbelegten und weit hergeholten Spekulationen üder den Ehemann der demokratischen US-Politikerin Nancy Pelosi, Paul Pelosi. Dieser war im eigenen Haus niedergeschlagen worden, worauf viele im Netz neben Genesungswünschen auch Desinformation posteten. Etwa, dass Paul Pelosi von einem Sexarbeiter angegriffen worden sei. Musk teilte dies zunächst, löschte den Tweet dann wieder. Solches Verhalten seitens Prominenter, egal ob bewusst oder fahrlässig, macht die sozialen Medien zu Nährböden für Falschinformation.
Dazu kommt die ganz reale, ganz alltäglich Bedrohung von followerstarken Nutzer*innen durch Rechte, die nun zunehmen könnte, sollten etwa Aufrufe zur Gewalt wieder verstärkt als „freie Rede“ gebilligt werden. Grund für viele Menschen, sich zu fragen: Zeit, Twitter zu verlassen?
Alternativen diskutieren
Wer will schon in einem faulenden Sumpf Unterhaltungen führen? Medien und User diskutieren derzeit zahlreiche Alternativen – wie der Konkurrent Mastodon. Andererseits: Wie viel Geländegewinn seitens der Trolle, Rechtspopulisten und Hater will man durch Rückzug verantworten?
Eine pauschale Antwort fällt schwer. Sie hängt stark damit zusammen, wer man ist. Viele Netzwerke auf Twitter plaudern sicher nach wie vor unbehelligt von rechten Störfaktoren oder Shitstorms. Das mag etwa für wissenschaftliche Fachkreise gelten, deren Austausch zu komplex ist für eine Erregungswelle. Jedenfalls solange niemand versehentlich über Corona postet oder in ein sonstiges Hashtag-Fettnäpfchen tritt.
Denn sobald ein Thema im Mainstream-Diskurs halbwegs kontrovers ist (Gender, Klimawandel, …) werden Argumente, Standpunkte und Erfahrungen erstickt. Populist*innen ersetzen sie durch Beleidigung, Einschüchterung und Realitätsverzerrung.
Erkämpfte Sichtbarkeit
Falls unter Musk die Moderationsteams zurückgepfiffen würden, die alledem bisher zumindest noch ein wenig Einhalt gebieten, wäre auf Twitter endgültig die Zeit der Populist*innen gekommen.
Das betrifft alle. Denn entgegen der landläufigen Meinung bewegen sich Menschen eben nicht in bloßen „Echokammern“. Auch, aber nicht nur. Jede und jeder kann in bedrohliche Situationen geraten. Manchmal reicht es, eine Serie zu empfehlen, die irgendwem da draußen zu „woke“ ist. Dann drohen lawinenhafte Beleidungen, die Veröffentlichung privater Daten, manchmal der Aufruf, die Person gezielt und immer wieder zu attackieren, um sie zu zermürben. Solche Kampagnen richten sich in vielen Fällen gegen Menschen, die marginalisiert sind oder als marginalisiert wahrgenommen werden. Gegen BIPoC, gegen Arme, gegen Frauen, gegen Queers, gegen Menschen mit Behinderung, gegen Opfer von Gewalttaten und gegen so viele mehr, die auf Twitter in den Jahren zuvor die Chance genutzt haben, sich Sichtbarkeit zu verschaffen.
Twitter sollte mal ein Ort des Austausches sein, teilweise auch ein Ort, an dem Banden gebildet werden konnten, sich Horizonte weiten. Das hat nicht immer funktioniert, manchmal passierte das Gegenteil. Und doch: Es war nicht zuletzt Twitter, wo Menschen Hashtags verbreiteten wie #MeToo, #IchBinHannah, #IchBinArmutsbetroffen.
Was, wenn diese Menschen verschwinden? Ein kaum zu ersetzender Verlust. Moralisch zum Dableiben zu appellieren wird dennoch schwerfallen.
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