Extremismus in der Bundeswehr: Tod eines Verdächtigen
Der Militärgeheimdienst MAD befragt eine Gruppe mutmaßlicher Reichsbürger in der Bundeswehr. Am nächsten Tag ist einer von ihnen tot. Was ist passiert?
Am Dienstag, einen Tag vor seinem Tod, sitzt W. mehreren Mitarbeiter*innen des Bundeswehrgeheimdienstes MAD gegenüber. Sie befragen ihn, weil sie ihn für einen Reichsbürger halten, einen Verfassungsfeind also. W. leitet eine kleine regionale Bundeswehrdienststelle, nicht einmal 20 Personen arbeiten unter ihm. Sieben von ihnen, so der Verdacht, sollen wie W. extremistisches Gedankengut hegen.
Fast ein Jahr hatte der MAD sich mit ihnen beschäftigt, den Verfassungsschutz miteinbezogen, Landeskriminalämter informiert. Jetzt, am 1. Dezember, sollen die Verdächtigen Fragen beantworten. Datenträger werden sichergestellt. Noch am selben Tag heißt es in einem Schreiben an die Verteidigungspolitiker*innen des Bundestags: „Erste Ergebnisse bestätigen die vorliegenden Verdachtsmomente“. Allen acht war es seither verboten, die Dienststelle zu betreten.
Am nächsten Tag ist Eugen W. tot.
Ein seltsamer Fall
Ungewöhnlich schnell gab das Verteidigungsministerium am Dienstag nach den Befragungen in einer Pressemitteilung die Ermittlungen gegen die acht Männer bekannt, legte mit Informationen an die Bundestagsabgeordneten nach, in denen das Ministerium sogar aufschlüsselt, wie viele Sicherheitsbehörden über Monate hinweg an dem Fall arbeiteten.
Es ist das erste Mal, dass offiziell von einer Reichsbürger-Gruppe innerhalb einer deutschen Sicherheitsinstitution gesprochen wird und nicht mehr nur von einzelnen Fällen. Aus nachrichtendienstlicher Sicht ist ihr Auffliegen zunächst ein Erfolg, auch wenn das Ausmaß noch längst nicht ganz erfasst ist.
Normalerweise berichten wir nicht über Suizide. Dies gibt der Pressekodex vor. Dort heißt es: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ Ausnahmen sind zu rechtfertigen, wenn es sich um Vorfälle der Zeitgeschichte oder von erhöhtem öffentlichen Interesse handelt.
Zudem meiden wir Berichte über Selbsttötungen, da hierdurch die Nachahmerquote steigen könnte.
Sollten Sie von Suizidgedanken betroffen sein, so wenden Sie sich bitte an professionelle Helferinnen und Helfer. Diese finden Sie jederzeit bei der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder auch unter www.telefonseelsorge.de.
Später dringt aus dem MAD heraus, dass es Verbindungen dieser Gruppe zum Bundesnachrichtendienst gibt. Laut Spiegel soll intern sogar von einem Netzwerk die Rede sein.
Tage nach Eugen W.s Tod gibt sich das Verteidigungsministerium verschlossen. Will nicht einmal bestätigen, dass Eugen W. der Dienststellenleiter ist, der verdächtigt wurde, ein Reichsbürger zu sein. Dabei stellen sich viele Fragen: Wussten die Sicherheitsbehörden, dass W. bereit war, zu schießen? Was haben sie getan, um ihn davon abzuhalten? Gab es Hinweise auf einen Suizid? Berichte über Suizide sind wegen möglicher Nachahmer heikel. Im Fall von Eugen W. stellen sich aber Fragen der Verantwortung – und der Sicherheit aller.
Fasching, Schießen und Schafkopf
Eugen W.s Heimatort Krumbach liegt im bayerischen Teil von Schwaben. Eine wohlhabende Gegend, gleich mehrere Weltmarktführer sind hier ansässig. Fachwerk, ein Schloss, der Fluss Kammel schlängelt sich durch das weihnachtlich geschmückte Stadtzentrum. Bald ziehen die Sternsinger wieder von Haus zu Haus, als Heilige Drei Könige verkleidete Kinder, und schreiben ihren Segen an jede Tür.
Etwa 13.000 Menschen leben in Krumbach. Man kennt sich, aus dem Freibad, der Kirche, dem Faschingsverein. Man steht zusammen am Schießstand und unterhält sich, oder man tut es beim Schafkopfen hinterher. So war das jedenfalls bei Eugen W.
In einem großen Einfamilienhaus unweit des Zentrums lebte er. Seine Familie bittet darum, nicht befragt zu werden. Manche Freunde sprechen gern über ihn, andere stimmen einem Interview zu und sagen kurz vorher wieder ab. W. war engagiert, im Schützenbund, bei der Wasserwacht.
Der Faschingsverein – „das war seins“, sagt eine Frau, die ihn gut kannte. Und dass er „mitten im Leben“ stand. Herzlich, hilfsbereit, “ein Pfundskerle“, einer, der im Freibad wohl mal aus der Haut gefahren sei wegen der Coronaregeln, aber nie als radikal auffiel – so beschreiben sie in Krumbach den 63-Jährigen, den der MAD für gefährlich hielt.
4.000 Reichsbürger in Bayern
Sogenannte Reichsbürger*innen lehnen die Existenz des Staates ab. Viele Jahre galten sie als wunderlich. Sicherheitsbehörden unterschätzten sie. Oft ist der Begriff „Rechtsextreme“ zutreffender als „Reichsbürger“.
Dass sie gefährlich und gut vernetzt sein können, wurde spätestens 2016 klar, als ein Reichsbürger im bayerischen Georgensgmünd auf SEK-Beamte schoss, die sein Haus durchsuchen wollten. Ein Polizist starb damals. Später kam der Verdacht auf, dass der Reichsbürger vor der Durchsuchung gewarnt worden war – durch einen Polizisten.
Laut bayerischem Verfassungsschutzbericht soll es in Bayern 2019 knapp 4.000 Reichsbürger gegeben haben, als Hotspot gilt unter anderem das Allgäu, von wo auch Bayerns größte Skinheadgruppe „Voice of Anger“ stammt. Die Gruppe feierte in Krumbach 2013 ein „braunes Oktoberfest“. Auch die Identitäre Bewegung ist in der Region aktiv.
Die Grenzen zwischen Reichsbürgern und organisierten Neonazis sind fließend. “Kulturell und vom Habitus mag da eine Barriere da sein, aber mit dem NS zugewandten Reichsbürgern geht das zusammen“, sagt Sebastian Lipp vom Redaktionsteam “Allgäu rechtsaußen“. 2017 hat im allgäuschen Dietmansried ein Reichsbürger mit einer illegalen Waffe um sich geschossen, im selben Jahr drohte ein Reichsbürger mit Sturmgewehr in Kempten mit einem Amoklauf. Von Dietmannsried nach Krumbach sind es 70 Kilometer.
„Porschemäßige“ Autos und Waffen
Im Sommer versammelten sich in Krumbach teilweise mehrere hundert Menschen auf Querdenker-Demos. „So viele kriegt man hier sonst nicht auf die Straße“, sagt ein Politiker der lokalen Grünen.
Auch ein stadtbekannter Verschwörungstheoretiker wurde dort gesehen, er heißt Martin Pulz. Ein Mann, der schon mal auf einem Pferd reitend auf einer linken Demonstration auftaucht und „Die Gedanken sind frei“ singt. Einer der einem AfD-Bundestagsabgeordneten auf Facebook einen „besten Waffengruß aus Bayern“ schickt, sich dort mit der Identitären Bewegung, NPD und rechten Burschenschaften umgibt. Pulz gilt als gut vernetzt in der rechtsextremen Szene. Das heißt nicht, dass Pulz und W. sich gekannt haben müssen. Unwahrscheinlich wäre es aber nicht.
Ursula Deuring hielt auf einer Querdenker-Demo eine Rede. Auf Facebook organisiert sie mit ein paar anderen den Protest gegen die Coronamaßnahmen. Deuring lebt ein paar Kilometer außerhalb des Zentrums. In ihrem Wohnzimmer läuft Formel 1, Plätzchen stehen auf dem Tisch, im Ofen brennt ein Feuer. Deuring sagt, sie sei Coronaregel-Kritikerin, nicht Coronaleugnerin. Sie arbeite in der Pflege, müsse jede Woche einen Test „über sich ergehen lassen“ und findet die Maßnahmen “unverhältnismäßig“.
Deuring kannte Eugen W. schon seit beide jung waren. Er war der, der „porschemäßige“ Autos fuhr, sagt sie. Deuring und W. trafen sich regelmäßig bei der Wasserwacht, hatten gemeinsam Dienst im Freibad, wo W. auch Schwimmabzeichen abnahm und Kraulkurse gab. „Er muss ja eine Art Doppelleben geführt haben, oder?“, sagt Deuring. „Es gibt andere Bürger in Krumbach, die kann man eindeutig den Reichsbürgern zuordnen, aber ihn nicht.“
Warum fuhr W. zum Krankenhaus?
Auf den Demos gegen die Coronamaßnahmen habe sie W. nie gesehen, überhaupt haben die beiden nie über Politik gesprochen, es war „immer lustig mit ihm“. W. wäre in einem Jahr in Pension gegangen. „Ich wusste, dass er dann noch mehr in die Wasserwacht einsteigen wollte“, sagt Deuring.
Warum fuhr W. am Mittwochvormittag zum Krankenhaus? „Die Mitarbeiter haben einen Schuss gehört, dann ist der Sanka los, ein Arzt, eine Pflegekraft. Da war nicht mehr viel zu machen, er war sofort tot“, sagt Hermann Keller, der Direktor der Krumbacher Klinik am Telefon. Eine Krankenhaus-Mitarbeiterin bestätigt, dass W. kein Patient gewesen sei.
Am Donnerstag Nachmittag kommt ein Mann zum Krankenhaus. Er kannte W. und möchte Blumen niederlegen. „Krumbach liegt jetzt im Dornröschenschlaf“, sagt er. „Der Bürgermeister sagt auch nicht viel zum Vorfall“. Er geht weiter und sagt dann noch, dass er sich schon lange wünsche, „dass die Bundeswehr mal zerlegt wird“.
Eugen W. war früher Soldat, dann arbeitete er 16 Jahre lang für den Bundesnachrichtendienst. Kontakte zu ehemaligen Kollegen, die bis heute bestehen sollen, alarmieren die Sicherheitsbehörden: Gibt es auch dort Reichsbürger?
Am Morgen noch beobachtet
Zuletzt leitete W. als Zivilist bei der Bundeswehr die Regionalstelle der Abteilung „Zentrum für technisches Qualitätsmanagement des BAAINBw“ in Ulm, dort wird die Güte von Material überprüft. Sie befindet sich auf dem Gelände einer Rüstungsfirma. Und ist nun der Ort, an dem sich acht Reichsbürger trafen.
Was genau W. und den anderen Verdachtspersonen vorgeworfen wird, will keiner der beteiligten Nachrichtendienste auf Anfrage beschreiben. Äußerte er sich verfassungsfeindlich? Glaubte er nicht an die Existenz der BRD? Plante er, seine Waffen gegen das Land einzusetzen?
Eine Lesart des Geschehens ist: Ein Mann ist verstorben, nachdem er unter Druck geraten war, weil man ihn für einen Extremisten hielt. Die andere aber ist: Die Bundeswehr hatte erkannt, dass einer ihrer Mitarbeiter gefährlich ist, stellte ihm Fragen, zu seinen politischen Ansichten und zu seinen Waffen. Dann ließ sie ihn gehen – und kümmerte sich nicht weiter um ihn? Wie wurde sichergestellt, dass er in seiner Verzweiflung nicht auch auf andere schießen würde?
Mehrere Personen, die mit den Ermittlungen vertraut sind, geben gegenüber der taz an: Es wäre unüblich, so jemanden nach der Befragung nicht weiter zu observieren. Und: Noch am Morgen vor dem Tod, soll er durchaus beobachtet worden sein. Auch noch, als er mit geladener Waffe auf das Krankenhaus zuging?
Staatsanwaltschaft prüft Todesursache
Taz-Recherchen ergeben, dass der MAD bereits vor den Befragungen am Dienstag überzeugt gewesen sein soll, dass Eugen W. als verfassungsfeindlich einzustufen war. Justizbehörden wurden über sein mögliches Potential informiert, darunter die Bundesanwaltschaft und auch Landeskriminalämter. Doch die nahmen keine Ermittlungen auf, beim LKA Bayern heißt es: relevante Erkenntnisse, die ein “Einschreiten möglich gemacht hätten“, hätten gefehlt.
Nur die Staatsanwaltschaft Memmingen hat Ermittlungen zu W. eingeleitet. Die Kriminalpolizei will ausschließen, dass Fremdverschulden zu seinem Tod geführt haben könnte. Es gibt einen Abschiedsbrief. Über den Inhalt äußert sich der Sprecher nicht. Bislang deute nichts auf Fremdverschulden hin, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Vom MAD haben die Ermittler*innen bislang keine Informationen bekommen.
Die Waffe, mit der er sich erschoss, besaß W. legal. Als Sportschütze hatte Eugen W. mehrere Lang- und Kurzwaffen, nahm auch mal an Turnieren teil. Die zuständige Waffenbehörde hat ihm die Waffenberechtigungen nicht entzogen. Auch dann nicht, als der Bundeswehrgeheimdienst am Dienstag vor seinem Tod offiziell darüber informierte, dass sich der Verdacht gegen ihn und die anderen Ulmer Mitarbeiter erhärtet habe. Auf Anfrage der taz äußert sich die zuständige Waffenbehörde des Landkreises Günzburg nicht dazu, ob es intern eine Überprüfung von Eugen W.s Waffenberechtigung gegeben hatte.
Wer von den Behörden als Reichsbürger identifiziert wird, verliert die Erlaubnis, Waffen zu besitzen. Bis Ende 2019 wurden in Bayern laut Verfassungsschutzbericht 415 Erlaubnisse entzogen und dabei 805 Waffen abgegeben. Es wird vermutet, dass viele Waffen illegal unter sogenannten Reichsbürgern kursieren.
Anruf beim Militärischen Abschirmdienst. Dort heißt es, der Fall sei Sache des Ministeriums. Das Verteidigungsministerium wiederum möchte sich nicht konkret zu dem Fall äußern und verweist auf laufende Ermittlungen.
„Leute, glaubt nicht alles“
Weder beim MAD noch im Verteidigungsministerium finden sie Worte, um Eugen W.s Tod zu bedauern, keine Formulierung dafür, dass der Suizid möglicherweise mit den Ermittlungen zu tun haben könnte. Hätten die MAD-Mitarbeiter bei der Befragung aufmerksamer sein müssen? Gab es Hinweise auf Suizidgedanken? Auch dazu sagt der Sprecher des Verteidigungsministeriums nichts.
Von W.s Krumbacher Freunden hat keiner Anzeichen für Suizidgedanken erkannt, auch keine Veränderungen in letzter Zeit. “Er war ein waghalsiger, aber konzentrierter Schafkopfer“, sagt ein Freund. “Einer, der meistens als Sieger hinausging. Ein Kämpfer“.
Jemand, der ihn jahrzehntelang kannte, sagt: „Er hat die Bundesrepublik nicht in Frage gestellt und er war der erste, der nach einer neuen Waffengesetzgebung, alles, was er hatte, beim Landratsamt anmeldete. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal einen Punkt in Flensburg.“ Geheimnisse aus seiner Arbeit habe W. nie verraten. Aber er habe gesagt: „Leute, glaubt nicht alles. Vieles ist nicht so, wie es an die Öffentlichkeit kommuniziert wird.“
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