Ein Quereinsteiger als Lehrer berichtet: Das Pochen am Hals
Schulen in Deutschland haben ein massives Problem: Immer mehr Lehrer:innen geben auf. Können Quereinsteiger:innen die Lücken füllen?
A hmed versteht nicht, was er falsch gemacht hat. Er sagt, dass es ihm leidtut, aber ich glaube ihm nicht. Sein gesenkter Blick, die hochgezogenen Schultern: Alles Show, wie so oft. „Sorry, Herr Hain, wirklich.“ Ahmed wippt mit dem Fuß. Er will zurück zur Weihnachtsfeier, wo die Unterstufe zu Nina-Chuba-Songs herumsteht.
Doch so einfach lasse ich ihn nicht davonkommen, nachdem er einen Fünftklässler vom Stuhl getreten hat. „Da musste ich doch Respekt bekommen“, sagt Ahmed. „Was hat das mit Respekt zu tun?“, frage ich. „Weil ich der Ältere bin“, sagt Ahmed. Und dann darf ich mir von einem Sechstklässler anhören, was es heißt, ein Mann zu sein.
Seit dem vergangenen Schuljahr bin ich Vertretungslehrer an einer Gesamtschule in einer deutschen Großstadt. Die Schule liegt in einem Viertel mit Hochhäusern, am Elternsprechtag fragen manche Eltern, ob sie die 20 Euro für die Klassenkasse erst im nächsten Monat bezahlen können. Den Namen der Schule werde ich nicht nennen. Mein Name, Ahmeds und alle weiteren Namen sind erfunden.
Ich erzähle die Geschichte nicht, weil ich jemanden vorführen möchte – ich habe Respekt vor der Arbeit meiner Kolleg:innen und Sympathie für meine Schüler:innen. Ich erzähle die Geschichte, weil ich zeigen möchte, dass es so nicht weitergehen kann.
Ich wollte nie Lehrer werden. Ich fand das langweilig, schon meine Eltern waren Lehrer. Ich wollte Journalist werden, also studierte ich Medienwissenschaften und arbeitete danach als Freiberufler. 2014 verliebte ich mich in eine Amerikanerin und wanderte mit ihr in die Staaten aus. Dort arbeitete ich als Fußballtrainer, später kam ein Job als Vertretungslehrer hinzu.
In den Staaten braucht man dafür nur einen Bachelor, Fachrichtung irrelevant. Ich nahm an einer zweitägigen Schulung teil und konnte anschließend via Onlineportal Tagesjobs annehmen. Doch irgendwo zwischen Trump, Corona und Schicksalsschlägen litt meine Ehe und so stand ich nach fünf Jahren wieder bei Mama vor der Tür. Alles auf null mit Mitte dreißig. Ich entschied mich, das fortzuführen, was ich in den USA begonnen hatte, und bewarb mich auf Vertretungsstellen für Quereinsteiger.
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In Deutschland fehlen Lehrer:innen. 14.466 Stellen sollen unbesetzt sein, Tendenz steigend. Gründe gibt es viele. Da ist die Überalterung des Berufsstandes, 21 Prozent der Lehrer:innen sind 55 Jahre oder älter. Gleichzeitig wächst aufgrund von Zuwanderung und Geburtenzahlen die Schüler:innenschaft. Bis 2035 rechnet man bei der Agentur für Arbeit mit 900.000 mehr Schüler:innen als derzeit.
Wer Lehrer:in werden will, für den gibt es gerade viele Möglichkeiten. 8,6 Prozent aller Lehrer:innen an deutschen Regelschulen waren 2022 Quereinsteiger:innen. 2011 hatten 40.000 Lehrer:innen an deutschen Schulen keine Lehramtsprüfung abgelegt, zehn Jahre später waren es schon 60.000. Dabei variiert die Quote stark: In Sachsen-Anhalt ist fast jede:r zweite Lehrer:in ein:e Quereinsteiger:in, in Bayern geht die Quote gegen null.
Auch das Einstellungsprozedere, das jede:r Bewerber:in durchläuft, unterscheidet sich. Grundsätzlich legt die Kultusministerkonferenz fest, welche Qualifikationen nötig sind, um als Vertretungslehrer:in zu arbeiten. Gleichzeitig erlaubt die Kultusministerkonferenz „landesspezifische Sondermaßnahmen für die Gewinnung von Lehrkräften“.
Diese sollen sich zwar an die bundesweiten Standards halten, aber nur, wenn das möglich ist. Sprich: Die Standards werden überall dort herabgesetzt, wo die Not besonders groß ist. So braucht man üblicherweise einen Masterabschluss, „aus dem sich mindestens zwei lehramtsbezogene Fächer ableiten lassen“, um als Quereinsteiger:in zu unterrichten. In Brandenburg kann man derzeit bereits mit einem Bachelor verbeamtet werden.
Auch mein Quereinstieg ist ein Beispiel dafür, wie stark die Standards variieren. Nach wenigen Bewerbungsschreiben – ohne einen Zwei-Fächer-Master – habe ich zwei Einladungen zum Interview. Beim zweiten bringt mich mein Geschlecht weiter. Bislang wurde die Klasse vornehmlich von Frauen unterrichtet. Weil sie zu zwei Dritteln aus Jungs besteht, denkt die Schulleitung, dass ihr ein Lehrer guttäte.
Meine Erfahrungen als Fußballtrainer und Vertretungslehrer in den USA stechen Bewerber mit klassischem Lehramtsstudium aus, meine journalistische Ausbildung befähigt mich, Deutsch zu unterrichten, die fünf Jahre Auslandsaufenthalt reichen für Englisch. Als Quereinsteiger werde ich nach dem Tarif des öffentlichen Dienstes bezahlt, etwa 2.100 Euro pro Monat netto – ungefähr ein Drittel weniger, als ein ausgebildeter Lehrer bekäme. Nur wenige Tage nach dem Bewerbungsgespräch trete ich meinen Job als Klassenlehrer der 6b an.
Herbst
Die Schule ist ein tristes Gebäude mit flachem Dach und harten Kanten. Der Pausenhof besteht vor allem aus Matsch und Geröll, weswegen ich die Pausen gerne auch mal als „Freigang“ bezeichne. Auch drinnen herrscht alles andere als eine Wohlfühlatmosphäre. An den Wänden finden sich lieblose Schmierereien über genopptem, abwischbaren Linoleumboden.
Im Lehrerzimmer stehen drei alte Computer, die an einen noch älteren Drucker angeschlossen sind, für den es keine Treiberaktualisierung mehr gibt. Einmal schickt uns die Schulleitung eine Mail mit der Bitte, in den Ferien nichts auf unseren Plätzen zu lassen. Wir haben Mäuse im Haus, die Kammerjäger seien bestellt.
Mein erster Tag als Klassenlehrer beginnt damit, einen Stuhlkreis zu bilden. Doch Vincent und Ibrahim vergleichen lieber ihre neuen Frisuren. Cassandra wurde heute früh von ihrem Freund verlassen und muss getröstet werden. Mirko sagt, er muss auf die Toilette. Ich sage ihm, dass die letzte Pause vor 5 Minuten war. Lewis träumt. Isa klagt über Bauchschmerzen, aber sie will es „weiter aushalten“, und Toni rennt zur Tür, weil es geklopft haben soll.
Als endlich fast alle sitzen, nennt Mehmet einen anderen Schüler ein „Hustenbonbon“, was ein Code ist für „Hurensohn“, wenn Lehrer mithören. Daraufhin gibt es einen Tumult, und als der sich beruhigt hat, hat Ahmed damit begonnen, etwas zu essen. Er möge das bitte lassen, sage ich. „Aber ich habe in der Pause nichts gegessen“, sagt er. „Das ist nicht mein Problem“, antworte ich. „Wallah, gottlos“, schnaubt er zurück und die Klasse bricht in Gelächter aus.
Alles am Lehrersein ist Beziehungsarbeit. Jede Klasse, jede Schülerin und jeder Schüler will wissen, mit wem sie es zu tun hat. Um das herauszufinden, werden wir Lehrer:innen getestet. Was wird von uns honoriert – und, besonders in der Klasse 6b: Was wird bestraft? Ich bin es gewohnt, anders Beziehungen aufzubauen: Wenn der Unterricht mal wieder nicht möglich ist, halte ich Vorträge zum respektvollen Umgang miteinander oder versuche dafür zu werben, dass auch die Schüler:innen selbst von einer weniger aggressiven Arbeitsatmosphäre profitieren würden – vergebens. Bei meinen Fußballmannschaften war ich mit dieser Strategie erfolgreicher, da hatten wir aber auch ein gemeinsames Ziel.
Einer, der am stärksten seine Grenzen austestet, ist Vincent. Er ist intellektuell unterfordert und macht aus allem ein Spiel. Einmal kommt er erst nach 15 Minuten von der Toilette wieder, was mir nur auffällt, weil Jorge mich mehrfach fragt, ob er jetzt auch dürfe (Toilettenregel: immer nur eine Person gleichzeitig). Ich spreche Vincent darauf an, er erfindet Geschichten von kaputten Toiletten und Aufzügen.
Ein anderes Mal haben Mehmet und Elias während einer Gruppenarbeit Streit. Als ich dazukomme, drängt mich Mehmet, den Streit für sie zu lösen. „Teil einer Gruppenarbeit ist es, sich als Gruppe zu organisieren“, antworte ich. „Ihr müsst das unter euch klären.“ Die Antwort: „Sie sagen also, dass ich ihn boxen soll?“ Für viele der Jugendlichen ist Gewalt die alleinige und allgegenwärtige Strategie.
Das sind nur zwei Beispiele von vielen, aber es sind auch nicht so sehr die einzelnen Konfrontationen, sondern ihre Frequenz, die mich mürbe macht. „Überflutung“ nennt mein Vater dieses Gefühl. Und obwohl ich diese Beschreibungen schon von zu Hause kenne, komme ich mir jedes Mal wie eine Mimose vor, wenn ich von meiner Überforderung berichte.
Schon in der zweiten Woche habe ich an Arbeitstagen Panikattacken, meistens morgens. Aber ich schaffe es, mich nicht krank zu melden. Nur einmal, als mir die Bahn vor der Nase wegfährt, kann ich meine Fight-or-Flight-Impulse nicht mehr bändigen. Es treibt mich zurück nach Hause, wo ich mir die Augen ausheule, einen Wasserschaden erfinde und anschließend weiterheule.
Ich komme mir von Tag zu Tag mehr wie ein Taugenichts vor. Und ich frage mich: Geht das allen so? Oder nur mir? Haben die ausgebildeten Lehrkräfte den Laden besser im Griff oder sind sie an all das nur mehr gewöhnt?
Meine Co-Tutorin Antonia ist seit der fünften Klasse Lehrerin in der 6b, ich unterrichte gemeinsam mit ihr Englisch. Sie kommuniziert Lob mit mütterlicher Ergriffenheit und Kritik mit Enttäuschung. Offiziell sind wir Kollegen, aber es ist schnell klar, dass sie mich an die Hand nehmen soll. Bei ihr ist die Klasse verhältnismäßig still und arbeitswillig. Doch auch an ihr nagt die tagtägliche Überflutung. Sie war zuletzt häufig krank und fällt regelmäßig aus, auch daher die Doppelbesetzung.
Ihre Kollegin Beate fehlt vollständig und auf unbestimmte Zeit mit Burnout. Für Beate bin ich eingestellt worden. Mit Antonia läuft der Englischunterricht ganz gut, auch wenn ich ihn leite. Dann aber geht sie aus der Klasse, und wenn die Jugendlichen für den Deutschunterricht aus der Fünfminutenpause zurückkommen, versinkt alles im Chaos. „Sie kennen dich noch nicht“, sagt Antonia.
Von allen Seiten – Eltern, Kollegen, aber auch von mir selbst – höre ich immer wieder den gleichen Ratschlag: Nimm’s nicht persönlich. Es bleibt meist ein Versuch. Stattdessen schlafe ich schlecht bis gar nicht. Meinen Unterricht erlebe ich als Misserfolg. Selbst wenn es von Kolleg:innenseite immer wieder heißt, dass Dinge Zeit brauchen, man auf das meiste eh keinen Einfluss hat und so weiter. Aber um dies anzunehmen, reiht sich diese Erfahrung zu sehr ein in die Kette beruflicher und privater Niederlagen.
Ich lese, dass es nicht nur mir so geht. 62 Prozent aller Lehrer:innen sagen laut Robert-Bosch-Umfrage, dass sie häufig oder sogar täglich körperlich erschöpft und müde sind. Ein Drittel klagt über Schlafstörungen. Wenn dies die Durchschnittswerte sind, müssen sie an unserer Schule höher liegen. Wir sind schließlich eine Problemschule, haben mehr Probleme zu lösen, bei gleichen Ressourcen. Unsere Klassen sind nicht kleiner, aber unsere Schüler:innen benötigen mehr. Ausgestattet sind wir dafür nicht. Sonderpädagogen sind in circa jeder fünften meiner 25,5 Wochenstunden mit mir im Unterricht. Für über 1.000 Schüler:innen haben wir zwei Sozialarbeiter:innen.
„Wir konnten feststellen, dass die Berufszufriedenheit von Quer- und Seiteneinsteigern im Mittel niedriger ist als die von regulär ausgebildeten Lehrkräften“, schreibt Tim Fütterer, der die Pisa-Studie ausgewertet hat. Dazu passt, dass in den Regionen, in denen der Anteil der Quereinsteiger:innen am größten ist, auch die Abbruchquote am höchsten ist. In Sachsen-Anhalt, wo fast jeder zweite Lehrer Quereinsteiger ist, schmeißt fast jeder zweite hin.
Mit der Zeit werden meine Panikattacken weniger, dafür setzt eine tiefe Müdigkeit ein. Kreative Unterrichtsvorbereitung habe ich aufgegeben und die Schulstunde als ewige Lotterie akzeptiert. Kurz vor Weihnachten stehe ich vor der Klasse und lasse Igor wiederholen, was die Aufgabe für den Rest der Stunde ist. Ich höre nicht zu, bin in Gedanken. Will die Klasse nur in die Arbeitsphase verabschieden und mich hinter meinem iPad verkriechen.
Als Igor zu erzählen beginnt, merke ich, wie es in meinem Nacken pulsiert. Ein Pochen. Stress. Ganz tief eingegraben in meine Haut. „Gibt es dazu noch Fragen?“, sage ich wie im Autopiloten. Es ist, als ob sich der erste Schock gelegt hat und mein Körper erst jetzt dazu kommt, mir zu zeigen, dass es ihm nicht gut geht. Mit diesem Pochen, das von da an bleibt.
Winter
Einmal gehe ich durch den Pausenbereich, als Toni zusammen mit Freunden von der anderen Seite der Halle meinen Namen ruft. „Was gibt’s?“, frage ich, als Toni bei mir angekommen ist. „Sie haben einen richtigen Bierbauch bekommen, Herr Hain“, sagt Toni und kann gerade so sein Lachen unterdrücken. Ich spüre, wie die Wut in mir aufsteigt. „Sag mal, hast du sie noch alle?“, spucke ich aus und drehe mich um, ohne eine Antwort abzuwarten. Diese Szene sticht heraus; es gibt viele dieser alltäglichen Interaktionen, denen fast immer eine Portion Respekt fehlt.
Woran liegt das? In den USA sitzen Schüler:innen an Einzeltischen, wir in Deutschland fragen sie nach ihren Wünschen für die Sitzordnung. In den USA haben Lehrer:innen feste Klassenräume, die sie nach ihren Wünschen gestalten. Es sind die Schüler:innen, die nach dem Klingeln den Raum wechseln. Sie sind beim Lehrer zu Gast, nicht umgekehrt. Als ich einer amerikanischen Freundin von meiner Situation erzähle, fragt sie: „Wie, Schüler in Deutschland reden im Unterricht?“ Ich brauche einen Moment, um die Grundsätzlichkeit ihrer Frage zu verstehen.
Lebensraum – so heißt Schule an allen Ecken deutscher pädagogischer Diskussionen. Persönlichkeitsentwicklung hat Priorität. Auch in unserem Klassenzimmer hängen jene Klassenregeln, zu Beginn des Schuljahres lustlos und voller Rechtschreibfehler auf ein Plakat geschmiert.
Ich empfinde sie nicht als Ausdruck eines Miteinanders. Sie sind ein Wunsch, der aber so weit von der Realität der Jugendlichen entfernt ist, dass er jede Bedeutung verliert. „Wir gehen respektvoll miteinander um“, steht da. Ich kann so etwas zwischen hundert Hustenbonbons, Blowjobgesten und sexualisierter Sprache nicht ernst nehmen. Und meine Schüler:innen genauso wenig.
Laut einer Unicef-Studie von 2022 mit 16- bis 19-Jährigen sind deutsche Jugendliche im europäischen Vergleich mit ihrer Lebenssituation allgemein sehr unzufrieden. Einzig die Teenager:innen aus Bulgarien schätzen ihre Lage noch schlechter ein. Wobei die Tendenz bei den Bulgar:innen positiv ist, in Deutschland hat sich die Stimmung seit 2013 stetig verschlechtert.
In dem englischen Klassenraum einer Freundin, die ich besuche, sehe ich keine Klassenregeln an der Wand, auch kein Klassenfoto und keine Pflanzen. Es ist ein funktionaler Raum wie in Amerika. Die Schüler haben weniger Freiheiten in diesen Schulen und sie fühlen sich – glaube ich – wohler damit. Ihnen werden Dinge abgenommen.
Ich habe viele meiner Freunde aus Frankreich, England und den USA gefragt, und es scheint mir, als wenn kaum ein Land seinen Nachwuchs mehr nach seinen Befindlichkeiten fragt als Deutschland. Wer sich gut fühlt, erbringt bessere Leistungen, sagt das deutsche Schulsystem. Ich halte das für ein Missverständnis. Denn: Wer leistet, fühlt sich gut.
In einer Arbeitsphase starrt Isa wieder mal ins Nichts. Ich bitte sie anzufangen, und sie sagt, wie fast immer, dass sie die Aufgabe nicht verstanden hat. „Hast du die Aufgabenstellung gelesen?“, frage ich. Sie verneint. „Dann lies sie nochmal und wenn dann noch Fragen sind … “ – „Lesen ist nicht so meins“, sagt sie. Die Aufgabenstellung ist keine 30 Wörter lang. Dahinter sitzt Lewis, der mir sein Blatt zeigt, nachdem ich ihm die Rückmeldung gegeben habe, dass er nach 20 Minuten Arbeitsphase noch nichts geschafft hat. „Doch!“, erwidert Lewis und tippt auf die Ecke rechts oben. Das Datum hat er notiert. Er meint das nicht sarkastisch.
Es tut weh, meinen Schüler:innen immer wieder anzumerken, wie wenig sie von sich halten. Dass sie sich noch nicht mal zutrauen, 30 Wörter zu lesen, weswegen sie gar nicht erst anfangen. Mit etwas Nachdruck erklärt sich Isa die Aufgabe schließlich selbst, aber selbst die kleinste Hürde erscheint ihr erst mal wie ein unüberwindbares Hindernis. Unter all den Verweigerungen steckt eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Hauptsache, Kontrolle behalten, selbst wenn es Kontrolle über das eigene Scheitern ist. Wer eine Aufgabe nicht anfängt, kann auch nicht falsch liegen.
Frühling
Als die Tage länger werden, machen sich meine Vorsätze des neuen Jahres bemerkbar. Ich arbeite an meiner Körpersprache und der Satz „Das diskutier ich nicht mit dir“ wird fester Bestandteil meines Unterrichts. Zudem bekommt der Unterricht eine gewisse Routine, und die erlaubt es mir, mehr zu variieren und spontane Lösungen zu entwickeln. So verbringen wir eine Schulstunde damit zu lernen, wie man eine Uhr mit Zeigern liest.
Beim Thema „Sachlich berichten“ ging es eigentlich um W-Fragen, nur konnten viele Schüler:innen in dem zu bearbeitenden Cartoon nicht erkennen, wann sich der Vorfall abgespielt hatte. Die Uhr in einem der Bilder war keine digitale. Ich spüre eine seltene Konzentration im Raum. Als ob die Klasse endlich mal etwas mitbekommt, sich selbst dabei spürt, wie sie etwas lernt. Sie leistet.
Ein anderes Mal lasse ich die ganze Klasse als Kollektivstrafe einen Text abschreiben. Nach kurzem Rumoren greifen alle zu Stift und Papier. Es ist still in der Klasse, jede:r ist konzentriert, wird vor dem Klingeln fertig. Es ist sinnentleertes Arbeiten, aber es ist Arbeiten und somit ein Erfolgserlebnis. Das Blatt ist voll, Lewis zeigt es mir. Das Datum ist sogar unterstrichen.
In der 6b ist jede Form von Wissenserweiterung ein Erfolg. Auf der Klassenfahrt in London wird mich ein Schüler mit Blick auf die Themse fragen, ob dies der Fluss sei, der auch durch unsere Heimatstadt fließt, und ein anderes Mal werde ich gefragt, ob Adolf Hitler derjenige gewesen ist, der zuletzt gestorben ist. „Ach ne, das war die Queen!“, korrigierte sich die Schülerin schnell selbst.
Ob meine Schüler:innen sämtliche Verben immer noch Tu-Wörter nennen, ist mir egal, solange sie diese im Text korrekt unterstreichen. Es geht an unserer Schule um andere Dinge als Lehrpläne. Dabei sind auch die kleinsten Erfolge eine schöne Erfahrung. Sie wären sogar genug, wenn sie nicht immer wieder von anderen Dingen überschattet werden würden.
Kurz vor den Osterferien machen wir einen Ausflug. Auf dem Rückweg sitzt die Klasse aufgekratzt in der Bahn. Eine obdachlose Frau steigt zu uns ins Abteil und bittet um Spenden. Sie erzählt von ihrer Situation und dass sie nachts friert. „Mir ist auch kalt“, ruft es aus dem Pulk unserer Schüler:innen. Die Gruppe johlt, so wie sie es schon oft in meine Richtung getan hat. Die obdachlose Frau ist von dieser Reaktion überrascht und versucht mit den Schülerinnen zu diskutieren, doch die schimpfen jetzt im Pulk auf sie ein. Die Frau drückt sich gegen die Schiebetür und ringt mit den Tränen. In diesem Moment schäme ich mich, für diese Jugendlichen verantwortlich zu sein.
Am nächsten Morgen scheitert mein Versuch, mit der Gruppe die Szene zu besprechen. „Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr gesehen habt, dass die Frau weint?“, frage ich in die Runde. Die Antwort besteht aus Verweigerung. Vincent findet einen Grund, sauer zu sein, und stürmt aus der Klasse.
Toni hält einen Vortrag darüber, dass man Obdachlosen kein Geld geben dürfe, weil sie sich damit Drogen kaufen. Sein Vater habe ihm das erzählt. „Das war nicht die Frage“, sage ich, aber Toni redet weiter über Geld. Die letzten Tage vor den Ferien sind die schlimmsten des Jahres. Ich bin müde, zähle Tage, Stunden. Warum mache ich den Scheiß hier? Warum machen meine Kollegen das alles mit? Oder ist ihre Situation eine andere als meine?
Die älteren Kolleg:innen erzählen viel davon, dass es früher besser war – vor Covid und vor allem vor Smartphones. Die jüngeren Kolleg:innen scheinen den Beruf bereits mit weniger Erwartungen angetreten zu haben. Die Mit-Quereinsteiger, mit denen ich Kontakt habe, erlebe ich als ähnlich vorsichtig und verunsichert wie mich. Eine Gemeinschaft, ein Quereinsteiger-Kollektiv sind wir nicht, dafür fehlt uns das Standing.
Auf einer Lehrerkonferenz geht es um das Thema Unterbesetzung. Wir Quereinsteiger kriegen Applaus, wie die Krankenpfleger:innen vom Balkon. Mir ist es unangenehm. Weder erlebe ich meine Arbeit als Leistung, dafür klappt zu wenig, noch erlebe ich diese Form der Würdigung als positiv.
Bezahlt mich halt besser, denke ich. Oder reduziert wenigstens die Klassengrößen, schafft Whiteboards und funktionierende Drucker an, repariert Heizungen und Vorhänge … Immer wenn ich meine Co Antonia zum Lachen bringen will, frage ich sie nach den Umzugsplänen der Schule. Die Pläne dafür lagen schon beim Architekten, bevor sie, Mitte 40, Lehrerin wurde. „Zur Rente vielleicht“, sagt sie dann.
Das meiste, was mich beschäftigt, betrifft meine voll studierten Kolleg:innen genauso. Manchmal rollt eine:r mit den Augen aufgrund meiner fehlenden Ausbildung, einmal werde ich von einer Sonderpädagogin „Fachidiot“ genannt, nachdem eine von mir geplante Deutschstunde zu anspruchsvoll geriet. Meistens sind die Kollegen aber dankbar, dass es mich gibt. Eine Position weniger, die es zu ersetzen gilt.
Wir alle tun, was wir können. Lehrer:in zu sein heißt, Löcher zu stopfen. Manch ein Kollege streckt einer Schülerin das Geld für die Klassenfahrt vor und wartet darauf bis heute. Andere machen Hausbesuche, haben Termine am Freitagabend mit dem Jugendamt oder organisieren bis tief in die Nacht Visa für die Englandfahrt. Das System „Schule in Deutschland“ scheint immer gerade so vor dem Kollaps zu stehen. Aber nicht wegen der Lehrerschaft sind alle am Anschlag, sondern ihretwegen kommt es immer geradeso nicht zum Erliegen.
Von alldem bekommt die Schüler- und Elternschaft nur wenig mit. Unausgesprochen haben wir gegenüber unseren Schüler:innen ein Ziel: Stabilität. Als Gegengewicht zu all den Brocken, all den unterschiedlichen Bedürfnissen, die die meisten in ihren jungen Jahren bereits mit sich herumschleppen. Allein in der 6b gibt es Jugendliche mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, emotional-sozialer Schwäche, diagnostiziertem und nicht diagnostiziertem ADHS, Heimkinder, Kinder von Alkoholiker-Eltern, Kinder mit Geflüchtetenbiografien, Schüler:innen mit Gymnasialempfehlung und einige, denen eine Förderschule besser tun würde. Dazu kommt: Covid war gerade. Und die Pubertät ist im vollen Gange.
Doch erst wenn es existenziell bedrohlich wird, schreiten wir ein. Wie bei Isa, die zu Hause verwahrlost. Sie kommt ohne Materialien, Essen und im Winter nur im T-Shirt zur Schule. Wenn sie frei hat, bleibt sie im Gebäude, und wenn sie erst zur zweiten Stunde da sein muss, steht sie um kurz vor acht vor der Tür und fragt, ob sie bei mir im Unterricht in der Parallelklasse sitzen dürfe. Ihre Freunde sind ihr Zuhause. Wir schalten das Jugendamt ein.
Sommer
Nach einem langen Montag schließe ich die Tür hinter mir ab und will gerade in den Feierabend gehen, als ich Cassandra, Isa und Miriam am Ende des Ganges sitzen sehe. „Ihr wollt noch nicht nach Hause?“, rufe ich ihnen über den Flur zu. „Nee“, sagt Cassandra, während sie die Kordel ihres Kapuzenpullovers zwischen ihren Fingern dreht. „Glauben Sie eigentlich an uns, Herr Hain?“, fragt sie.
Eine Frage so direkt, wie sie Erwachsene nie stellen würden. Ich überlege, was ich ihr antworten soll. „Ich glaube, ihr habt noch gar nicht verstanden, welche Möglichkeiten ihr eigentlich habt“, fange ich an. Erstaunte Augen, Schweigen. Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben.
Ich versuche es anders: „Ich glaube, ihr seid alle ganz toll. Aber viele von euch wissen das gar nicht.“ „Wie sind wir toll?“, fragt Miriam. „Alle Lehrer verlassen uns immer. Erst Frau Meierhof, dann Herr Böllmann.“ – „Und du glaubst, das liegt an euch?“, frage ich. Schulterzucken. „Also“, nehme ich erneut Anlauf, „pass auf, ihr seid ganz tolle Freundinnen, und das ist viel wert. Meine Frage ist nur, warum es euch so schwer fällt, im Unterricht auch so zu sein?“
Ich blicke zurück und erinnere mich an das Feedback meiner Hospitationsstunde, wenige Wochen nach Dienstantritt. In dieser waren meine Schüler:innen still gewesen und die Schulleitung legte mir dies als Haupterfolg aus. „Sie mögen dich, sie wollen, dass du Erfolg hast.“ Normalerweise ist die Beziehungsarbeit zwischen Lehrer- und Schülerschaft die Basis für Lernerfolg. Bei uns ist sie der Lernerfolg. Mehr lässt sich nicht erwarten.
Wie das Ganze besser werden könnte? Geld. So viel und an so vielen Stellen wie möglich. Wer A (Inklusion) sagt, muss auch B (Finanzierung) sagen. Sodass meine Rolle als Vertretung und Lückenfüller obsolet werden würde.
Kurz vor den Sommerferien sitzen Antonia und ich ein letztes Mal zusammen mit der 6b im Stuhlkreis und haben jenes Gespräch, das diese Klasse schon kennt. Antonia sagt: „Herr Hain und ich sind nächstes Jahr nicht mehr Tutorinnen dieser Klasse.“ Mit einem Mal ist es still im Raum. „Aber Sie sagten, Sie bleiben bei uns“, sagt Toni. „Die Schulleitung hat diese Entscheidung getroffen“, antwortet Antonia. „Aber es ist uns ganz wichtig, dass ihr wisst: Es liegt nicht an euch.“ Was man so sagt, um Schmerz zu lindern. In Momenten wie diesen wird deutlich: Alle Schüler:innen der 6b sind noch Kinder, auch wenn ihr Verhalten häufig anders wirkt.
Zum Abschluss laden wir alle auf ein Eis ein. Als sie versorgt sind, stehen Antonia und ich etwas abseits und schauen dem Treiben zu. „Wie schnell die heute den Stuhlkreis aufgestellt haben“, sagt Antonia. „Ich glaube ja, dass das Einzige, was sich in diesem Jahr verändert hat, meine Ansprüche sind“, sage ich. „Ne, find ich nicht“, sagt Antonia: „Eigentlich kann diese Klasse alles außer Unterricht.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich zustimme, aber wenigstens hat das Pochen am Hals aufgehört.
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