Diversität bei den Grünen: Kommt jetzt eine Diversitätsquote?

Die Grünen wollen vielfältiger werden. Maßnahmen aus dem Jahr 2020 zeigen erste Wirkung, es bleibt aber viel zu tun – etwa bei der sozialen Herkunft.

Blick von hinten in einen Saal mit Grünen-Mitgliedern

So vielfältig wie die Gesellschaft? Mitgliederversammlung der Bremer Grünen am Samstag

BERLIN taz | Tabikan Runa fühlt sich wohl in seinem Ortsverband, da will er nicht falsch verstanden werden. Der 22-Jährige kommt aus Singen, einer kleinen Industriestadt im Hinterland des Bodensees. Vor vier Jahren beschloss er, politisch aktiv zu werden. Er wälzte die Programme der verschiedenen Parteien und weil ihm das der Grünen am besten gefiel, trat er schließlich ihnen bei. Bereut hat er es nie. Er mag die Leute dort. Er hat es auch schon bis in den Kreisvorstand geschafft. Und trotzdem: Manchmal fühlt er sich in seiner Partei ein bisschen einsam.

„In Singen war ich lange Zeit eines der wenigen jungen Mitglieder, die immer am Start waren. Der einzige mit ausländischen Wurzeln bin ich im Ortsverband sowieso“, erzählt er am Telefon. „Auf Kreisebene sieht es ein bisschen anders aus. Wegen der Uni in Konstanz ist es dort gemischter. Aber auch da bin ich einer der wenigen, die nicht aus einem Bildungshaushalt kommen.“ Runas Eltern kamen als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Die Mutter ist alleinerziehend. Lange lebte die Familie von Sozialleistungen. Eine typische Grünen-Biografie hat er also nicht.

Akademisch, gutverdienend und weiß: Das ist das Image, das die Grünen für gewöhnlich mit sich herumtragen. In ihren Programmen werben sie zwar für eine vielfältige Gesellschaft, sie selbst geben nach außen aber oft ein homogenes Bild ab. Der Ruf der Eliten-Partei kommt nicht von ungefähr.

Immerhin: Sie arbeiten an dem Problem. Knapp zwei Jahre ist es her, dass der Parteitag einen Maßnahmenplan verabschiedet hat. In ihrem damals beschlossenen Vielfaltsstatut attestierte die Partei sich selbst und ihren Strukturen „Barrieren, Hürden oder Vorurteile“, die es abzubauen gelte. Das erklärte Ziel für die Grünen der Zukunft: „Die Repräsentation von gesellschaftlich diskriminierten oder benachteiligten Gruppen mindestens gemäß ihrem gesellschaftlichen Anteil.“ Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Alter oder Bildungsstatus – in jeder Hinsicht wolle man diverser werden.

„Wir Grüne sind in den vergangenen Jahren schon an vielen Stellen vielfältiger geworden. Aber wir haben noch viel zu tun, um wirklich teilhabegerecht zu sein“, sagt zwei Jahre später Pegah Edalatian. Die Düsseldorferin ist stellvertretende Vorsitzende und zugleich vielfaltspolitische Sprecherin der Partei – ein Amt, das mit dem Statut neu eingeführt wurde. In der Bundesgeschäftsstelle kann Edalatian auf ein eigens geschaffenes Vielfaltsreferat zurückgreifen.

Neues Gremium, eigenes Budget

„Aus der Partei spüre ich starken Rückenwind für unsere Arbeit“, sagt Edalatian. Der Kulturkampf um Diversity und Identitätspolitik, gesamtgesellschaftlich seit einigen Jahren erbittert geführt, geht zwar auch an den Grünen nicht ohne Verwerfungen vorbei. Ein offener Brief gegen „linke Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“, im vergangenen Jahr vom umstrittenen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und einigen Ex-Abgeordneten unterschrieben, ist dafür nur ein Beispiel. Die Bemühungen um mehr Vielfalt in den eigenen Reihen stoßen bisher aber zumindest nicht auf offene Ablehnung.

Dabei sind die Maßnahmen ambitioniert. Durch das Statut wurde neben der Beauftragten im Vorstand und dem Referat in der Parteizentrale auch ein Diversitätsrat eingeführt. Im Frühjahr konstituierte sich das neue Gremium; an diesem Wochenende kamen die 50 Delegierten in Hannover zu ihrer zweiten Sitzung zusammen.

Unter anderem entscheidet der Rat über die Verwendung eines Vielfaltsbudgets in Höhe von einem Euro pro Jahr und Parteimitglied, für 2022 also über 100.000 Euro. Aktuell fließt ein großer Teil in den Aufbau eines „Train the Trainer“-Programms: Der Diversitätsrat verordnete den Landesverbänden Antidiskriminierungstrainings, geleitet von Mitgliedern, die im Rahmen des Projekts ausgebildet werden.

Erfolg ist umstritten

Neben solchen Programmen geht es aber auch darum, dass die Partei Vielfalt mitdenkt, wenn Jobs zu vergeben sind. An prominenter Stelle sind die Grünen seit 2020 schon diverser geworden. Die Wahlerfolge der vergangenen Jahre, durch die viele neue Posten zu besetzen waren, haben dabei sicherlich geholfen. Im sechsköpfigen Bundesvorstand, vor einem Jahr noch komplett weiß, sitzen mit Edalatian und Parteichef Omid Nouripour mittlerweile zwei Menschen mit Migrationshintergrund. Ins Bundeskabinett haben die Grünen Cem Özdemir geschickt, in Schleswig-Holstein wurde Aminata Touré – Tochter von Flüchtlingen aus Mali – neue Sozialministerin. Hannovers Oberbürgermeister heißt Belit Onay, seine Eltern kamen in den 1970er Jahren als Gastarbeiter aus Istanbul nach Deutschland.

Auf der anderen Seite: In das neue schwarz-grüne Kabinett in Nordrhein-Westfalen schickte die Partei kein einziges Mitglied mit Migrationserfahrung. In Berlin hat es nach der Wahl im vergangenen Jahr noch nicht mal ein Ostdeutscher in den Senat geschafft. Und auch bei Listenaufstellungen ist Diversität oft noch kein entscheidendes Kriterium.

„Bei uns in Schleswig-Holstein ging es bei der Liste für die Landtagswahl vor allem darum, dass die Kreisverbände ausgewogen vertreten sind. Abgesehen von einer Trans*person, die es in die Fraktion geschafft hat, war es das dann aber auch schon mit der Vielfalt“, sagt Gazi Freitag, Grüner aus Kiel, Kandidat für den Landesvorsitz und selbst Mitglied im Diversitätsrat.

In Zukunft, auch das ist im Statut festgeschrieben, werden die Grünen den Erfolg der neuen Maßnahmen regelmäßig wissenschaftlich evaluieren. Noch in diesem Jahr wird die erste Erhebung starten. Bis hinab in die Kreisvorstände wird die Partei abfragen, wie divers ihre Gremien besetzt sind. Im kommenden Jahr werden die Resultate auf einem Parteitag vorgestellt.

Debatte um Quoten

Je nachdem, wie das Ergebnis ausfällt, könnte dann eine Debatte neu aufkochen, die es schon vor der Verabschiedung des Vielfaltsstatuts gab: Soll die Partei für ihre Gremien und Listen neue Quoten einführen? Die Frauenquote, bei den Grünen seit Jahrzehnten vorgeschrieben, hat unbestritten zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Partei geführt. Könnte das nicht auch für andere Vielfaltsmerkmale funktionieren?

„Ich verschließe mich der Diskussion um Quoten nicht, wenn die Evaluation zeigen sollte, dass wir anders nicht vorankommen“, sagt Pegah Edalatian. „Bei der Umsetzung gäbe es aber viele offene Fragen.“

Tatsächlich wären neue Quoten komplex. Welche Kriterien legt man zum Beispiel beim Migrationshintergrund an? Zählt eine Person mit französischer Großmutter genauso wie ein Mensch, der aus Syrien nach Deutschland geflohen ist? Und wie bekommt man all die anderen Dimensionen von Diversität unter einen Hut? Es geht im Vielfaltsstatut schließlich nicht nur um Menschen, die Migrationserfahrung haben oder von Rassismus betroffen sind – auch wenn diese Merkmale in der Debatte oft im Vordergrund stehen.

Kein Geld fürs Bier

Andere Aspekte sind weniger sichtbar. Während der Sitzung des Diversitätsrats in Hannover erinnert Pegah Edalatian an den Parteitag, bei dem sie in das Vielfaltsamt gewählt wurde. „Ich sprach in meiner Rede von LGBTIQ, Menschen mit Behinderung, PoCs. Direkt danach bekam ich eine Nachricht: ‚Ey Pegah, was ist mit dem Thema sozioökonomische Herkunft?‘“ Ein „erstes Learning“ sei das für sie gewesen: Die Benachteiligung von Mitgliedern mit wenig Geld, schlechter Arbeit oder niedrigem Bildungsabschluss dürfe man nicht vergessen.

Die Europa-Abgeordnete Katrin Langensiepen stimmt ihr in der Debatte zu: Sie selbst sei zu den Grünen gekommen, während sie Hartz IV bezog – und beinahe hätte sie die Partei gleich wieder verlassen. Zum einen habe sie sich über die elitäre, schwer verständliche Sprache geärgert. Zum anderen hatte sie Probleme mit den Gepflogenheiten: „Nach der Mitgliederversammlung noch mal hier einen Kaffee oder dort ein Bierchen trinken zu gehen, ist mit einem Hartz-IV-Regelsatz nicht drin.“

In einem Beschluss erhebt der Diversitätsrat schließlich Forderungen zur „gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status“ in der Partei. Grünen-Veranstaltungen sollen zum Beispiel an Orten ohne Verzehrzwang stattfinden. Fahrtkosten sollen Mitglieder nicht auslegen oder selbst zahlen müssen. Der Bundesvorstand soll einen Kongress organisieren, um noch mehr Maßnahmen auszuarbeiten.

Ab in den Gemeinderat

Workshops und Schulungen könnten dazugehören. In Baden-Württemberg betreibt der Landesverband der Grünen eigene Vielfaltsprojekte. In diesem Jahr hat er ein Förderprogramm für Mitglieder aus gesellschaftlichen Gruppen gestartet, die in der Partei unterrepräsentiert sind. Tabikan Runa, der 22-Jährige aus Singen, der nicht nur Eltern aus der Türkei hat, sondern auch Armut aus eigener Erfahrung kennt, nimmt daran teil.

Alleinerziehende, Queere, Menschen mit Migrationshintergrund: Die Gruppe, die sich im Juli zur Auftaktveranstaltung in Stuttgart getroffen hat, sei gemischt gewesen. Und doch habe es eine Gemeinsamkeit zwischen den 20 Teil­neh­me­r*in­nen gegeben. „Das coolste war, wie empowernd das Programm ist“, sagt Runa. „Man spürt den Support von Leuten, die alle ähnliche Erfahrungen gemacht haben: Um etwas zu erreichen, müssen wir immer eine Extra-Meile laufen.“

Wie geht zum Beispiel Networking? Wie tritt man auf Veranstaltungen auf, wie geht man auf andere zu? Andere Menschen hätten das von zu Hause mitbekommen, er musste es erst lernen. In Stuttgart gab es dazu einen Workshop.

Das Ziel des Programms: Die Teil­neh­me­r*in­nen auf Kandidaturen bei der Kommunalwahl in zwei Jahren vorzubereiten. In Singen heißen die Mitglieder der aktuellen Grünen-Fraktion Eberhard, Regina, Dietrich, Karin, Sabine und Isabelle. 2024 könnte es eine Premiere geben: Für die Wahl will es dann auch Tabikan Runa auf die Liste schaffen.

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