Debatte um den Nahost-Konflikt: „Ich werde nicht mehr gesehen“
Politiker fordern von arabischstämmigen und muslimischen Menschen, sich von Terror zu distanzieren. Das schließt sie aus, sagt Raid Naim.
Mir geht es nicht gut. Ich bin extrem müde. Und zerrissen zwischen Wut und Angst, Kampf und Kapitulation.
ist 47, IT-Manager für Higher Education und Digitalisierung von Bildung. Die taz protokolliert, was er erzählt hat.
Mein ganzes Leben ist geprägt von meiner Beziehung zum Nahostkonflikt und zu Deutschland. In jedem Krieg zwischen Israel und Gaza gab es für mich bisher immer einen Weg, mit den Widersprüchen klarzukommen. Ich habe im deutschen Diskurs Punkte gesehen, an die ich anknüpfen konnte. Ich hatte den Eindruck, man kann nachempfinden, wie es mir als jemandem mit enger Familie in Gaza geht. Doch dieses Mal ist da vollkommene Dunkelheit.
Zum ersten Mal überkommt mich das Gefühl: Ich werde nicht gesehen als der, der die letzten 45 Jahre in Deutschland gelebt hat. Als der, der die deutsche Gesellschaft mitgestaltet hat. Die Politik adressiert mich als Teil eines Kollektivs und greift dieses heftig an: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fordert bei einem runden Tisch, dass Menschen „mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln“ sich persönlich von der Hamas und von Antisemitismus distanzieren sollen. Warum? Weil ich und die Hamas dieselbe Haut- oder Haarfarbe haben? Niemand hat nach den Enthüllungen über Aiwanger von den Bayern gefordert, sich von Antisemitismus zu distanzieren. Es wird immer einen Unterschied zwischen Deutschen aus Bayern und Deutschen mit arabischen Wurzeln geben.
In den 90ern habe ich gegen Abschiebungen demonstriert, neben Politiker*innen wie Claudia Roth, die jetzt die Entscheidungsträger in den Parteien sind. Aber jetzt bricht gerade etwas aus: Als der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz gefordert hat, Einbürgerungen an Bekenntnisse zu knüpfen, und dann pauschal alle „jungen Männer“ aus Gaza des Antisemitismus bezichtigte, dachte ich, das zeige ich an! Dann wache ich eines Morgens auf und sehe Olaf Scholz auf dem Spiegel-Cover. Ich dachte erst, das ist eine Montage.
Der große Bruch ist für mich die fehlende Empathie
Aus der FDP fordern sie nun, zwischen „Grundrechten für deutsche Staatsbürger“ und „Jedermannsrechten“ zu unterscheiden. Auch Aiwanger kann sich wieder rehabilitieren. Der kann vom importierten Antisemitismus fabulieren, und niemand protestiert. Der rassistische, bösartige, extremistische Diskurs ist innerhalb weniger Tage Mainstream geworden. Der Kolumnist Jan Fleischhauer redet von „Aggro-Arabern“, Politiker*innen teilen lobend die rechtsextremen Aussagen eines Douglas Murray, und Jens Spahn ordnet Judenhass als Teil von migrantischer Kultur ein.
Die deutsche Diskussion läuft ja gerade unabhängig davon, was in Israel und Gaza passiert. So etwas gab es früher auch schon, etwa nach dem 11. September. Es gab einen echten Diskurs. Jetzt glaube ich nicht mehr daran. Wir sind jenseits des Punktes, an dem wir noch sinnvoll einsteigen, argumentieren und den Diskurs drehen können. Wir sind schon tief im reaktionären Deutschland angekommen.
Der große Bruch ist für mich die fehlende Empathie. Aus meinem deutschen Netzwerk kommt kaum eine Reaktion, wenn ich mich äußere. Von israelischen und arabischen Freund*innen oder aus dem internationalen Kontext bekomme ich viele Nachfragen und Mitgefühl. Sie erkennen an, dass ich gerade Schreckliches erlebe.
Aber von offizieller Seite hieß es in der Bundespressekonferenz zur Frage nach 10.000 getöteten Palästinenser*innen nur: „Zu den Zahlen können wir nichts sagen.“ Die wollen uns nicht sehen. Lebend nicht, tot auch nicht. Wir sind unsichtbar geworden. Dabei hätte es dutzende diplomatische, genauso nichtssagende Floskeln gegeben, die aber menschlicher wären. Nicht mal das sind wir wert.
Es geht „euch“ um euch selbst
Ein Freund sagte mir, das ist Ratlosigkeit. Im Zweifel stellt man sich auf eine Seite, weil man bisher gut damit gefahren ist. Die Ratlosigkeit in der Politik erklärt aber nicht die Empathielosigkeit auf der menschlichen Ebene. Meine Theorie dazu ist: Es ist Ratlosigkeit für die einen. Für die anderen befriedigt es ein Verlangen nach einer nationalen Identität. Für Teile der Gesellschaft gibt es eine Projektion auf Israel und Israel muss nun herhalten als Identität, die man grenzenlos bis fanatisch feiern kann. Es geht „euch“ gar nicht um Jüdinnen und Juden oder um Israel. Es geht „euch“ um euch selbst.
Bis vor etwa drei Wochen war bei Problemen in Deutschland immer mein Gedanke: Das ist auch mein Problem. Jetzt denke ich: Das ist euer Problem. Ein sehr deutsches Problem. Und das müsst ihr lösen. Denn genau bei diesem „Problem“ durfte ich nie mitreden.
Es ist ja nicht so, dass ich eine andere Zugehörigkeit oder ein anderes Zuhause hätte. Ich habe noch nie in Gaza gelebt. Aber so, wie es jetzt ist, muss ich mir etwas anderes, Neues aufbauen. Keine nationale Identität, das brauche und will ich nicht. Ich brauche einen kulturellen und intellektuellen Bezug, der mich nicht kollektiv ausschließt.
Dieser Aufruf in der Rede von Steinmeier, sich zu distanzieren, bedeutet, dass ich mitverhaftet bin. Als deutscher Staatsbürger bin ich nicht sicher davor, in Sippenhaft genommen zu werden. Wir müssen verstehen, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht dauernd das Recht hat, von einer ethnischen Minderheit zu verlangen, sich zu positionieren oder distanzieren. Dahinter steht die Annahme, dass man von Geburt an, über die DNA oder die Identität mit etwas verbunden ist. Solche Annahmen sollten in einer Demokratie gar nicht möglich sein.
Die Frage ist grundsätzlicher, als es vielen erscheint. Es geht darum, ob wir als Individuen zusammenleben können – oder nicht.
Protokoll: Uta Schleiermacher
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Privatjet auf Sylt besprüht
Haftstrafen für Letzte Generation – ohne Bewährung
Stellenabbau in der Autoindustrie
Kommt jetzt die Massenarbeitslosigkeit?
Zwangsbehandlung psychisch Kranker
Im eigenen Zuhause
Pressefreiheit in Israel
Bibis Medien-Blockade
Freihandelsabkommen Mercosur
Gegen die Isolation
Merkel zum Afghanistan-Abzug
„Ein furchtbares Scheitern“