Christian Lindner über Alleinerziehende: Lindners Reizwäscheladen
Der Finanzminister bedient das Klischee der alleinerziehenden Mutter in der sozialen Hängematte. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache.
I mmer dann, wenn in der Sozialpolitik von vermeintlichen „Anreizen“ die Rede ist, um Menschen zu irgendwas zu bewegen oder von irgendwas abzuhalten, sollten rote Warnlampen angehen. Sozialpolitik ist kein Reizwäscheladen, und schon gar nicht, wenn der Finanzminister falsche Behauptungen aufstellt. Der Verband der Alleinerziehenden (VAMV) und die Stiftung Alltagsheldinnen ziehen jetzt gegen die öffentliche Diffamierung Alleinerziehender durch Lindner zu Felde. Die Stiftung hat mit anderen Gruppen einen offenen Protestbrief an Lindner und Bundesfamilienministerium Lisa Paus geschickt. Sie haben recht.
Lindner hatte bei der Vorstellung der Kindergrundsicherung erklärt, es sei eine „beklagenswerte Tatsache, dass die Erwerbsbeteiligung von Alleinerziehenden im vergangenen Jahrzehnt trotz des Ausbaus der Kinderbetreuungsstruktur zurückgegangen ist“. „Wir wollen nicht zusätzliche Anreize geben, sich nicht um Arbeit zu bemühen“, sagte Lindner. Durch die neue, verbesserte Anrechnung der Unterhaltsvorschüsse, die Alleinerziehende in Haushalten mit Schulkindern nur im Falle einer Erwerbstätigkeit bekommen, gebe man „einen Anreiz, dass es eine Arbeit braucht“.
Da ist es wieder, das Klischee der alleinerziehenden Mütter, die es sich angeblich mit ihren Kindern im Sozialstaat gemütlich machen und sich nicht ausreichend um einen Job bemühen. Das Klischee ist falsch: Die Erwerbstätigkeit alleinerziehender Mütter mit Kindern unter 18 Jahren ist im vergangenen Jahrzehnt beständig gestiegen und lag 2020 bei 72 Prozent. In den Jahren danach weist die Erhebung einen kleinen Rückgang aus, ergeben Zahlen des Statistischen Bundesamts.
Dieser Rückgang lässt sich aber mit den Coronamaßnahmen erklären, als Betreuungsmöglichkeiten eingeschränkt wurden und Jobs verloren gingen. Es ist zutiefst unseriös von Lindner, solche Zahlen zu nutzen, um alleinerziehenden Frauen mangelhafte Arbeitsmotivation zu unterstellen, die ja Hauptleidtragende waren in der Pandemie. Und es ist beklemmend, dass die Familienministerin Lindner nicht widerspricht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“