Armutsdiskussion bei steigender Inflation: Ärmer heißt nicht arm

Die Inflation liegt auf einem Rekordhoch. „Wir werden ärmer“, sagen nun Politiker*innen. Aber wer sind eigentlich „wir“?

Auf rotem Hintergrund liegt eine Wassermelone, von der etwa ein Viertel abgeschnitten ist. Das abgeschnittene Stück liegt neben der restlichen Melone.

Zu wenig Geld für eine Wassermelone: Solche Momente beschreiben Armutsbetroffene auf Twitter Foto: Robert Pola/plainpicture

Anfang der Woche twitterte Luffy Lumen: „#IchBinArmutsbetroffen hieß für mich heute im Supermarkt zu stehen, die Preise zu sehen und fast zu weinen. Eigentlich wollte ich heute endlich meinen Kindern den Wunsch nach einer Wassermelone erfüllen, die sie seit Wochen haben wollen. Ich musste sie wieder enttäuschen.“ Hinter dem Twitter-Handle verbirgt sich eine 31-jährige Mutter, die sich aktuell zur Pflegefachkraft ausbilden lässt und ihren Lohn aufstocken muss, um zu überleben.

Sie ist eine von vielen armen Menschen, die seit gut einer Woche unter #IchBinArmutsbetroffen Ausschnitte ihrer Lebensrealitäten teilen. Es gibt Berichte darüber, wie es sich anfühlt, wenn ab Mitte des Monats nur noch 80 Euro auf dem Konto sind oder wenn das Geld nicht mehr fürs Heizen reicht. Die Menschen erzählen von unangenehmen Amtsbesuchen, von Stigmatisierung, Scham und Ausgrenzung, die sie tagtäglich erfahren.

Laut Statistischem Bundesamt ist man dann arm, wenn man als Singlehaushalt weniger als 1.074 Euro monatlich zur Verfügung hat. 16 Prozent der Deutschen fallen unter diese Armutsgefährdungsschwelle, das sind mehr als 13 Millionen Menschen. Und diese Zahlen sind von 2019, also noch vor der Pandemie und der starken Inflation, sie bilden nicht die gegenwärtige Realität ab.

Flucht in Wir-Zuschreibungen

In der gesellschaftlichen Wahrnehmung bleiben diese Menschen in der Regel unsichtbar. In der Mehrheitswahrnehmung wird Armut als Beleg für persönliches Versagen gelesen. Arme Menschen sind demnach entweder faul oder Leistungsverweiger*innen. Kein Wunder also, dass viele Menschen versuchen, ihre finanziellen Nöte zu vertuschen. Der Hashtag will nun ein Zeichen setzen gegen diese Unsichtbarkeit. Er gibt trockenen Zahlen Gesichter und Geschichten, die sich abgrenzen von den sonst häufig verbreiteten Aufsteiger­erzählungen, die einem immer irgendwie vermitteln wollen, es gebe doch eine Form der Chancengleichheit.

Armut in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfestigt, die soziale Mobilität schwindet. Heißt: Wer arm ist, bleibt arm, statistisch gesehen. Dass dieser Zustand gewollt ist, zeigt die Politik. Oder warum wird sonst zwanghaft an einem System festgehalten, das so vielen Menschen kein würdiges Leben ermöglicht? Krisenbedingt verschlechtert sich die finanzielle Lage momentan für viele, doch statt mit wirkmächtigen Maßnahmen die Situation aufzufangen, verharren wir in einem Zustand, in dem Tipps gegeben werden, wie Individuen mit der Teuerung umgehen sollen – und viele Po­li­ti­ke­r*in­nen flüchten sich in unkonkrete Wir-Zuschreibungen.

Wie kann es sein, dass wir erneut nach individuellen Lösungen für strukturelle Probleme suchen?

In den vergangenen Wochen sagte Robert Habeck: „Wir werden ärmer“, Christian Lindner: „Der Krieg macht uns alle ärmer“, und Friedrich Merz: „Wir haben wahrscheinlich den Höhepunkt unseres Wohlstandes hinter uns.“ Die Po­li­ti­ke­r*in­nen haben wohl mitbekommen, dass die Inflation momentan die größte Sorge der deutschen Bevölkerung ist, noch vor der Klimakrise, dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine und der Pandemie. Das geht auch aus einer repräsentativen Umfrage der Unternehmensberatung McKinsey hervor, die am vergangenen Montag veröffentlicht wurde.

Gesellschaft, die auf Ungleichheit beruht

Doch welches „Wir“ ist hier gemeint? In einer Gesellschaft, die auf Ungleichheit beruht, kann es kein „Wir“ geben. Die Lebensrealität eines Immobilienanwalts, der Zehntausende Euro Erspartes hat und die Preissteigerung im Supermarkt nicht einmal bemerkt, hat nichts gemeinsam mit jener der alleinerziehenden Mutter, die nicht weiß, wie sie ihren Kindern noch täglich drei Mahlzeiten bezahlen soll. Die aktuelle Teuerung von Energiekosten und Lebensmittelpreisen trifft uns eben nicht alle gleich, Menschen mit niedrigen Löhnen, Sozialhilfeempfänger*innen, Studierende, Rent­ne­r*in­nen und kinderreiche Familien sind von der Inflation am stärksten betroffen.

Trotz allem dominieren in der medialen Berichterstattung Themen, die diejenigen Menschen betreffen, die unter der Inflation am wenigsten leiden. So veröffentlichte Zeit Online diese Woche ein Q & A unter der Überschrift: „Bin ich machtlos gegen die Inflation?“ Darin werden Fragen verhandelt wie: Sollte ich jetzt Gold kaufen oder doch lieber eine Immobilie? Und auch die Tagesschau lässt in einem Text Ex­per­t*in­nen zu Wort kommen, die als Gegenmittel zur Inflation zu Aktien- und Immobilienkäufen raten.

Im besten Fall kann eine Person, die nicht weiß, ob sie sich diesen Monat noch genügend Toastbrot leisten kann, über solche Texte nur trocken lachen. Eine berechtigtere Reaktion wäre ein Wutanfall. Denn wie kann es sein, dass wir als Gesellschaft in der aktuellen Krise wieder die armen Menschen aus dem Blick verlieren? Wie kann es sein, dass wir erneut nach individuellen Lösungen für strukturelle Probleme suchen?

Politisches Handeln statt Spartipps

Statt individueller Spar- und Anlegetipps – wie sie auch unter den Posts von #IchbinArmutsbetroffen zuhauf zu lesen sind – braucht es schnelles politisches Handeln. Ein Entlastungspaket hat die Ampelregierung auf den Weg gebracht: Kinderbonus, erhöhte Pendlerpauschale, das 9-Euro-Ticket, Anhebung von Freibeträgen und eine Energie-Einmalzahlung. Doch diese Maßnahmen kommen nur bedingt bei den Menschen an, die sie benötigen. Alleinerziehende und Rent­ne­r*in­nen hat die Inflation im Schnitt jetzt schon mehr gekostet, als sie durch die Entlastung bekommen werden. Das geht aus einer Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung hervor, über die zuerst die Süddeutsche Zeitung berichtete.

Kurzfristig muss also jetzt Geld her. Und anstatt mit dem Gießkannenprinzip zu kommen, sollte das Geld direkt bei den Menschen landen, die es am nötigsten haben. Die sofortige Anhebung des Mindestlohns und der Sozialhilfen wäre ein erster wichtiger Schritt. Langfristig müssen Po­li­ti­ke­r*in­nen dafür sorgen, dass wir nicht mehr in einer Wirtschaftsform leben, die systematisch soziale Ungleichheit fortschreibt, sondern in einer, die auf echte Umverteilung setzt.

Dutzende Menschen haben Luffy Lumen mittlerweile angeboten, ihrer Familie eine Wassermelone zu kaufen. Eine nette Geste, doch hoffentlich bewirkt #IchBinArmutsbetroffen mehr als das. Im Bundestag sind die Tweets auf jeden Fall schon angekommen, die Linken-Vorsitzende Janine Wissler hatte einige in ihrer Rede vorgelesen. Jetzt wird es Zeit, an den Strukturen zu rütteln und die Regierung unter Druck zu setzen, damit das Geld bei denen ankommt, die es dringend brauchen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.