Willkür in Russland: Jeder lebt in seinem Versteck für sich
Schon das Lesen unabhängiger Nachrichten in der Metro kann eine Haftstrafe nach sich ziehen. Furcht, Verbitterung und Unterwerfung bestimmen den Alltag.
Es ist mitten in der Nacht. Der Mann fängt an, Fragen zu stellen. Warum es so lange dauere, er wolle doch nur wieder zu Frau und Kind, von denen er an den Passkontrollschaltern getrennt worden sei. Sie seien zusammen in Antalya gewesen, am Meer spazieren, die Sonne genießen. Der Grenzer greift zum Telefon. „Folgen Sie mir“, sagt schließlich ein herbeigerufener Uniformierter. „Aber ich will doch nur nach Hause“, stottert der Mann.
Der russische Grenzschutz führt immer wieder Reisende in graue Räume ab. Ukrainischen Frauen stellt er Fragen nach ihrem Aufenthaltsstatus und ihren weiteren Plänen, russischen Männern nach geleistetem Militärdienst und dem Dienstgrad, ausländischen Journalist*innen nach ihren Verbindungen zur Ukraine und ihrer Haltung zum Krieg, den die Offiziellen niemals so nennen. Es kann jeden treffen, der Grenzübergang ist ein sichtbarer Teil der Willkür, die den Alltag in Russland prägt. Der Staat zeigt seine Macht, der niemand entkommt. Und er sät Angst.
„Sie haben ihn mitgenommen. Hoffentlich stecken sie ihm nicht gleich den Einberufungsbescheid zu“, sagt die Ehefrau des Abgeführten aufgeregt ins Telefon. „Wir waren doch einfach im Urlaub, haben nichts getan.“ Viele Russ*innen leben ein Leben, als ginge sie der Krieg nichts an – bis der Staat ihnen unmissverständlich klarmacht, dass sie ein Teil der Kriegsmaschinerie sind, letztlich Geiseln des Systems, das sie mittragen.
Relikt aus Sowjetzeiten
Die Frau weint ins Telefon. Ihren Mann kann sie nicht erreichen, ihr Kind hüpft zwischen den Koffern hin und her. „Man sollte lieber ruhig zu Hause hocken und sich bedeckt halten“, sagt sie dem Menschen am anderen Ende der Leitung, umarmt ihre Tochter und wartet an den Gepäckbändern zwischen Passkontrolle und Zoll.
„Bloß nicht aufmucken“ ist ein Satz, der die Sowjetzeit überlebt hat, bis heute bestimmt er das Leben vieler Menschen im Land. Er wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die Menschen fügen sich dieser Haltung, der Satz hat sich als eine Art historisches Trauma in ihr Dasein geschlichen. Wie auch nicht, wenn die Vorfahren abgeführt und erschossen wurden, weil sie aufgemuckt hatten? Weil sie das falsche Aussehen, die falsche Nationalität, die falschen Ansichten hatten?
Jedes Aufmucken – und sei es nur ein kindliches Hinterfragen dessen, warum Zöpfe bei Mädchen im Kindergarten Pflicht sein sollen, oder ob nun wirklich jeder zum Schulausflug samt Kalaschnikow-Auseinandernehmen müsse – führt zur Vorführung und Erniedrigung dieses Aufmuckenden vor anderen. Es führt zum Bloßstellen, zum Aussortieren. Zur Ächtung von „Verrätern“, die angeblich das „Normale“ – das Traditionelle, das Einzigartige, das Russische – besudelt hätten.
Die Menschen in Russland lernen schnell, dass sie lediglich Ressource sind, vom Staat nach Belieben einsetzbar. Stellt das jemand in Frage und verlangt nach Menschsein, spürt er die Grenzen eines Systems, das der russische Politikbeobachter Andrei Kolesnikow mittlerweile als „hybriden Totalitarismus“ bezeichnet.
Keine Schamgrenze
Dabei gingen der allgemeine Gehorsam und die Gleichschaltung, die mittels Propaganda und Repression erreicht werde, mit freiwilligen Aktionen zugunsten des Staats einher. Denunzianten und Einverstandene bildeten so die Basis des Putin-Regimes. Erlaubt sei mittlerweile alles, es gebe keine Schamgrenze mehr, weil der Staat eine massenhafte Unmoral fördere.
Lehrerinnen beschimpfen ihre Schüler als „Nichts“, schreien sie an, sie gehörten erschossen, weil die Jungs bei einer Schulveranstaltung nicht mitmarschieren wollten. Schüler*innen zeigen ihre Lehrer*innen an, weil diese angeblich das Handeln der Ukraine nicht vehement genug verurteilten. So ist es unabhängigen russischsprachigen Medien und Berichten von Organisationen zu entnehmen, die in Strafangelegenheiten helfen.
Väter zerren ihre Töchter zur Polizei, weil diese die „falsche“ Haltung verträten. Staatsmedien berichten über Kinder, die die Sowjetunion nie erlebt haben und Stalin besingen. Tiktok-Videos zeigen Kinder, die zum Spaß bei ukrainischen Kindern anrufen, um ihnen zuzuschreien, diese mögen doch endlich krepieren.
Das Koordinatensystem hat sich mit dem 24. Februar 2022 geändert. Wie das neue System aussieht und was es bedeutet, versteht niemand. Manche schlagen um sich, voller Aggressivität und Menschenverachtung, andere ziehen sich zurück, weil sie eingetrichtert bekommen haben, nicht aufzumucken.
Anklage wegen Terrorismus
Und weil sie gelernt haben, die Augen zu verschließen, weil Gleichgültigkeit sie vermeintlich schützt. Sie unterstützen das Regime, aktiv wie passiv, laut wie schweigend. Und sie akzeptieren das Land als Gefängnis, in dem niemand etwas darf, weil sonst etwas Schlimmes passieren könnte. Sie leben quasi im Versteck, jede:r für sich.
Freies Denken in einem unfreien Land führt zum direkten Zusammenprall mit der Staatsmacht. Es führt in die Zelle. An dem russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, der eine Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok überlebte, führt der russische Staat gnadenlos vor, was geschieht, wenn einer, allen möglichen Warnungen zum Trotz, immer noch „aufmuckt“.
Er sperrt ihn in Einzelzellen, er lässt keine Ärzte und Verwandten zu ihm, nicht einmal Briefe seiner Kinder erreichen ihn. Der Staat überhäuft ihn mit immer wieder neuen Anklagen, nun auch wegen Terrorismus. Er droht mit lebenslanger Haft. Nawalny, gesundheitlich immer weiter geschwächt, hört nicht auf, sich für seine Rechte als Mensch einzusetzen, der Staat nimmt ihm langsam das Leben.
Wie er auch dem Moskauer Oppositionspolitiker Ilja Jaschin das Leben zu nehmen versucht, indem er ihn wegen „Diskreditierung der Armee“ für achteinhalb Jahre ins Gefängnis sperrt. Jaschin hatte in einer Youtube-Sendung über die Gräueltaten der russischen Armee in Butscha informiert.
Zerschlagene Opposition
Der Moskauer Kommunalpolitiker Alexei Gorinow bekam sieben Jahre Haft, ebenfalls wegen „Diskreditierung der russischen Armee“. Gorinow wagte es, einen Malwettbewerb für Kinder infrage zu stellen, während nicht einmal 1.000 Kilometer weiter ein Krieg tobt.
Der russisch-britische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa wurde zu 25 Jahren Haft wegen „Staatsverrats“ verurteilt. Er hatte im Ausland den russischen Staat kritisiert. Lilia Tschanyschewa drohen 12 Jahre Haft wegen Extremismus. Die 41-Jährige hat Nawalnys Organisation in Ufa, knapp 1.500 Kilometer östlich von Moskau, geleitet. Und Jewgeni Roisman, dem Ex-Bürgermeister von Jekaterinburg, drohen fünf Jahre Haft, ebenfalls wegen „Diskreditierung der russischen Armee“.
Doch längst trifft es nicht mehr nur Vertreter*innen der zerschlagenen Opposition. Der Moskauer Juri Samoilow war mit der Metro unterwegs, als zwei Polizeibeamte erst sein Telefon sehen wollten und ihn dann abführten. 15 Tage Haft, weil er „falsches Material“ im Handy angeschaut haben soll. Ein Mitfahrer hatte ihn beim Lesen von Texten beobachtet, die Russlands Taten in der Ukraine hinterfragten. Er rief die Polizei.
In Krasnodar, nah der russisch-ukrainischen Grenze, hatten sich Olesja und Iwan Owtschinnikow in einem Restaurant darüber unterhalten, welche Untaten in russischem Namen in der Ukraine geschehen. Die Polizei rückte an, warf sie zu Boden, ein Gericht ordnete 15 Tage Haft und eine Geldstrafe an. Die beiden hätten die russische Armee „diskreditiert“.
Ein Schwebezustand
Jede kritische Äußerung ist potenziell gefährlich. Was gestern richtig war, kann heute falsch sein und morgen wieder richtig. Es ist ein Schwebezustand, von Schikanen und Willkür geprägt, der Schadenfreude und Verbitterung hervorbringt. Die Menschen unterwerfen sich teils vollkommen gedankenlos der Apathie. Manche folgen ihren totalitären Reflexen, weil sie dadurch ein Gefühl des Zusammenhalts erleben. Die Verwerfungen sehen sie nicht.
„Wir leben, ohne das Land unter uns zu fühlen“, hatte der sowjetische Dichter Ossip Mandelstam 1934 geschrieben. Die Zeilen führten zu seiner ersten Verhaftung. Sie sind heute erschreckend aktuell.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
BSW-Gründungsversammlung in Bayern
Es geht um Selenskyj, nicht um Söder