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Debatte über Silvester-GewaltPolitische Pyromanen

Daniel Bax
Kommentar von Daniel Bax

Die CDU nutzt die Silvester-Ereignisse für eine neue Leitkultur-Debatte. Stattdessen ist es an der Zeit, die deutsche Böllertradition zu hinterfragen.

In Deutschland gilt Böllern als eine Art Bürgerpflicht Foto: imago

N achdem sich der Rauch um die Silvesternacht gelichtet hat, sieht man klarer. In vielen Städten wurden Polizisten, Sanitäter, Feuerwehrleute und Unbeteiligte mit Feuerwerkskörpern angegriffen. In Berlin-Neukölln brannte ein Reisebus aus, dieses Bild war in vielen Medien zu sehen. Auch in Hamburg, Leipzig, Hagen und Essen kam es zu ähnlichen Exzessen. Im fränkischen Ostheim wurde die Polizei angegriffen, im sächsischen Borna das Rathaus attackiert.

Trotz dieses breiten Bildes der Zerstörung und der diffusen Ursachen waren die Schuldigen für manche schnell ausgemacht: „Junge Männer mit Migrationshintergrund, die diesen Staat verachten“, wie nicht nur SPD-Innenministerin Nancy Faeser diagnostizierte. Und der Blick richtete sich mal wieder auf Berlin, auf den Bezirk Neukölln.

Dabei war Neukölln an Silvester gar nicht der größte Brennpunkt der Stadt. Die meisten Attacken auf Polizei und Feuerwehr wurden in anderen Berliner Bezirken registriert, etwa in Mitte und Tempelhof-Schöneberg. Auch die Zahl der Festnahmen an Silvester in Berlin musste bei genauerer Betrachtung relativiert werden. Zunächst hatte die Berliner Polizei von 145 Festgenommenen mit 18 verschiedenen Nationalitäten gesprochen.

Später korrigierte der Tagesspiegel die Zahl: Nur 38 Personen seien wegen Böllerattacken auf Polizisten und Feuerwehrleute festgenommen worden – die meisten davon deutsche Staatsbürger, viele minderjährig. Nun will die Polizei diese Zahl nicht bestätigen.

Das Zahlenwirrwarr zeigt, auf welch fragwürdiger Grundlage seit Silvester Stimmung gemacht wird. Während die meisten noch im Raketennebel stocherten, führte CDU-Mann Jens Spahn die Vorkommnisse schon auf „ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat“ zurück. CDU-Chef Friedrich Merz polterte bei „Lanz“ gegen „kleine Paschas“ arabischer Herkunft und behauptete ohne jeden Beleg, „zwei Drittel“ der Tatverdächtigen an Silvester stammten „aus dem Ausland“, sie hätten „in Deutschland nichts zu suchen“.

Die aktuelle Silvesterdebatte zeigt auch, wie wichtig ein seriöser Umgang mit Zahlen und Statistiken ist

Spahn legte noch einmal nach: Das Problem sei die „Macho-Attitüde“ junger Männer in Berlin-Neukölln, die durch ein „bestimmtes kulturell-religiöses Umfeld“ geprägt sei. Damit bedienen Spahn, Merz & Co rassistische Ressentiments, die leider weit verbreitet sind.

Die Silvesterrandale sind mit Ausschreitungen vergleichbar, wie sie auch bei Fußballspielen oder Demonstrationen vorkommen: Ausnahmesituationen, in denen Gruppendynamiken und Zerstörungswut wirken und sich die Kräfteverhältnisse auf der Straße umkehren. Gewaltforscher wissen, dass Jugendgewalt oft mit der sozialen Lage zusammenhängt und sie an Orten mit viel Arbeitslosigkeit und Armut häufiger auftritt: Dort brauen sich Langeweile und jugendlicher Leichtsinn mit Wut und Frust zu einem gefährlichen Gemisch zusammen, das sich bei günstiger Gelegenheit entladen kann. Und Silvester ist eine günstige Gelegenheit. In Vierteln, in denen viele Jugendliche schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, wird die Polizei dann zum Angriffsziel.

Seit Silvester erinnern nun viele, auch CDU-Chef Merz, an das „Neuköllner Modell“ der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig und fordern, die Strafe für eine Tat müsse auf dem Fuß folgen. Der Witz ist nur: Das „Neuköllner Modell“ ist schon seit über zehn Jahren in Kraft, in ganz Berlin. Die Eskalation an Silvester hat es aber offensichtlich nicht verhindert.

Doch von Erfahrungswissen und Fakten hat sich diese Debatte längst gelöst. Sonst müsste man feststellen, dass die Jugendgewalt in ganz Berlin zuletzt wieder zugenommen hat. Auch Angriffe auf Feuerwehrleute und Polizisten haben bundesweit zugenommen. Bereits nach der Silvesternacht 2018 hatten Gewerkschafter und Politiker einen besseren Schutz von Einsatzkräften gefordert. Zuletzt gingen die Angriffe aber überwiegend von Coronaleugnern, vermeintlichen Normalbürgern oder Fußballfans aus. Eine „Integrationsdebatte“ gab es da nicht und auch kaum laute Rufe nach härteren Strafen.

Es wird immer deutlicher, dass die CDU dieses Silvester zum Anlass für eine konzertierte Kampagne nimmt. Sie hat sich entschieden, mal wieder auf dem Rücken von Minderheiten Wahlkampf zu machen, in der Hoffnung, damit AfD-Wähler zurückzugewinnen. Dafür holt sie ihre alten Nullerjahre-Partykracher „Leitkultur“, „Parallelgesellschaft“ und „Islam“ aus der Mottenkiste und hoffen, dass diese noch zünden.

Die AfD ist erstaunlich still

Die Partei hat sich damit erfolgreich wieder ins Gespräch gebracht, mit Rezepten aus der Vergangenheit. Von der AfD hört man dagegen erstaunlich wenig: Sie wird mit ihrer eigenen Methode übertönt.

Leider spielen viele Medien dieses Spiel nur zu gerne mit. Verantwortungsvolle Journalisten sollten hinterfragen, auf welcher Grundlage populistische Schnelldiagnosen gestellt werden und welche Motive dahinterstehen. Die Silvesterdebatte zeigt auch, wie wichtig ein seriöser Umgang mit Zahlen und Statistiken ist. Und selbst wenn viele der Verdächtigen einen Migrationshintergrund haben, bleibt die Frage: Was tut das zur Sache? Einen Migrationshintergrund haben in Städten wie Berlin auch viele Feuerwehrleute, Polizisten und entsetzte Anwohner. Gerade Menschen, die aus Kriegsgebieten geflüchtet sind, können der deutschen Böllertradition oft nichts abgewinnen.

Die Silvesternacht böte Anlass, die deutsche Böllertradition zu überdenken. In anderen Ländern gibt es zentrale Feuerwerke und -konzerte. Das Böllern in die eigenen Hände zu nehmen, ist nicht erlaubt, man hält das aus guten Gründen für zu gefährlich. Nur in Deutschland gilt Böllern als eine Art Bürgerpflicht, was jedes Jahr zum Faustrecht der Straße führt.

Warum eigentlich? Wir könnten vom Ausland lernen. Dann wäre Silvester wieder ein Festtag für alle. Und politische Pyromanen hätten ein Thema weniger, mit dem sie zündeln können.

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Daniel Bax
Redakteur
Daniel Bax ist Redakteur im Regieressort der taz. Er wurde 1970 in Blumenau (Brasilien) geboren und ist seit fast 40 Jahren in Berlin zu Hause, hat Publizistik und Islamwissenschaft studiert und viele Länder des Nahen Ostens bereist. Er schreibt über Politik, Kultur und Gesellschaft in Deutschland und anderswo, mit Fokus auf Migrations- und Religionsthemen sowie auf Medien und Meinungsfreiheit. Er ist Mitglied im Vorstand der Neuen deutschen Medienmacher:innen (NdM) und im Beirat von CLAIM – Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit. Er hat bisher zwei Bücher veröffentlicht: “Angst ums Abendland” (2015) über antimuslimischen Rassismus und “Die Volksverführer“ (2018) über den Trend zum Rechtspopulismus. Für die taz schreibt er derzeit viel über aktuelle Nahost-Debatten und das neue "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW).”
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15 Kommentare

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  • In "anderen Ländern" sind die (Schuß)Waffengesetze weit lockerer als hierzulande, dafür gibt bei bestimmten Vergehen ,wie bspw. Drogenbesitz oder Trunkenheit am Steuer, weit aus längere Haftstrafen. Weiderum anderswo sind Sachen verboten, die bei uns als völlig normal gelten: Unverschleierte Frauen in der Öffentlichkeit,Alkoholkonsum,...



    "Die machen das ja auch so!" ,ist ein zweischneidiges Argument.



    Ich persönlich böllere gar nicht ,aber da wo ich feiere (Zehelndorf) gibt es Leute mit anscheinend zu viel Geld, die es ordentlich krachen lassen. Nicht nur viel ,sondern auch geschmackvoll.Da gibt es regelmäßig Applaus und Zugabe-Wünsche von den Umstehenden. Selber aufgeräumt wird spätestens am Neujahrsvormittag . So kann man eben auch feiern.

  • Es wäre interessant zu erfahren, inwieweit die Lobby der Feuerwerkshersteller ein Böllerverbot bisher ausbremsen konnte. Ich habe noch die Worte des Chefs der NICO-Werke im Ohr, der in einem Interview im Radio seiner Erleichterung und Freude über den nach zwei Jahren wieder gestatteten Verkauf von Feuerwerk Ausdruck gab. Verständlich aus Unternehmerposition – aber auch nur aus dieser.

    • @German Döhm:

      "Verständlich aus Unternehmerposition – aber auch nur aus dieser."



      Wie wär's denn mit der Position von Menschen, die gerne Feuerwerk machen? Oder ist das eine unerlaubte Position, über die nicht gesprochen werden darf?

      • @Encantado:

        "Oder ist das eine unerlaubte Position, über die nicht gesprochen werden darf?"



        Muss man eigentlich bei wirklich jedem Thema gleich Zensur und Cancel Culture unterstellen? Es war halt einfach nicht der Punkt um den German Döhm ging.

  • Hans-Georg M. (ehemaliger VS-Chef) hat in der Weltwoche (Schweiz) einen Artikel veröffentlicht, den das hiesige Anzeigenblatt dank guter Kontakte zu M. während seiner Kandidatur für den BT hier im Wahlkreis zweitverwerten durfte.



    Lt. M. ist die "ungeregelte Migration" die Frucht der "Antideutschen" (LINKE, Grüne, Teile der SPD und der CDU(!) ) mit dem Ziel, umzuvolken.



    [Falls die Welt etwas besser wäre, würde ich verlinken; da die Gefahr besteht, M. auch nur eine*n oder mehrere ihm geneigte*n Leser*innen zuzuführen, verzichte ich...]



    Und eigentlich müsste ja die CDU/CSU/... "ungeregelte Böllerei" regeln wollen. So wegen Dreck und Lärm und jugendgefährdend und überhaupt.

  • Warum sagt eigentlich keiner aus welchen sozialen Hintergrund viele der Attackierer kommen ?

    Dass es vornehmlich Menschen aus dem Prekariat waren?



    Abgehängte.



    Ausgegrenzte.



    Vom System benachteiligte.

    Die Diskussion über Herkunft und Migrationshintergrund ist natürlich schön einfach.

    Gerade für die Rechten (inkl. C*U) .

    Sich mal einzugestehen, dass uns die Integration schon deshalb nicht gelingt weil wir sogar die bestens Integrierten systematisch ausgrenzen, das fällt schon schwerer.

    Sich da mal an die eigene Nase fassen - das will niemand.



    Vor allen Dingen nicht die schwarzrechte Schande !

    Man darf ja nicht so tun, als ob Zuwanderung und Migration neu wären.

    Nein.

    Die existiert seit hundert Jahren. Erst aus Polen, dann aus Italien und später aus der Türkei.



    Und zahlenmäßig weit mehr als heute.

    Gastarbeiter (der Begriff an sich schon eine Verballhornung) kommen schon immer in unser Land. Und sind als Arbeitskräfte willkommen. In der Pflege, bei der Ernte, am Fließband.

    Die Silvestervorkommnisse aber sind neu.

    • @Bolzkopf:

      Das sagt man doch von Anfang an. Auch hier in der taz.

      Aber Abgehängtsein ist kein Grund, einen Rettungswagen in einen Hinterhalt zu locken und die Sanitäter mit Feuerwerk, Steinen und Eisenstangen anzugreifen. Genausowenig, wie Abgehängtsein eine Rechtfertigung dafür ist, ein Flüchtlingsheim anzuzünden.

      Beides sind schlicht und einfach Verbrechen.

      Und die überwältigende Mehrheit der Abgehängten und Prekariatsangehörigen sieht das exakt genauso, weil es sich um grundlegende, jedem verständliche Moral handelt.

      Einfühlungsvermögen ist hier unangebracht.

      Irgendwann muss einfach mal Schluss sein mit dem Reflex, für alles Verständnis aufbringen zu wollen.

  • Dass Herr Merz erstaunlich schlecht informiert ist, fällt ja immer wieder auf. In anderen Ländern sind die Sylvesterexplosionen stark reglementiert und nur an wenigen Plätzen erlaubt. Das wäre das Modell für Deutschland.

  • Nur weil weniger als 1% der Bevölkerung Feuerwerk für Angriffe auf Mitbürger, Polizei und Feuerwehr nutzt, muss man nicht komplett Feuerwerk verbieten, das Millionen Menschen viel Freude bereitet.

    Gerade Menschen, die nicht der Bildungselite angehören - egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

    • @gyakusou:

      Ein zentrales Feuerwerk wie in anderen Metropolen reicht. Haben Sie noch nichts von der Feinstaubbelastung gehört, die das Sylvestergeballere verursacht? Ganz zu schweigen von der Tierquälerei, die die stundenlange, kriegsähnliche Geräuschkulisse verursacht.

      • @Elena Levi:

        Die Feinstaubbelastung zu Sylvester ist eine zeitliche Spitze ,übers Jahr gesehen unbedeutend.Genau wie die Müllberge. Hab gerade nicht die Zahlen zur Hand, aber ich meine es ist unter einem Prozent des jährlichen Berliner Gesamtabfallvorkommens.



        Und in meinen Augen ein größerer der erlaubten Tierhaltung in der Stadt auch Tierquälerei. Und zwar täglich.

      • @Elena Levi:

        Wer das Thema Umwelt und die Belästigung der Haustiere anführt sollte dann bitte auch in den Spiegel schauen. Hunde und Katzen haben eine miese CO2-Bilanz und sind in der Regel keine Veganer.



        Verbieten wir Feuerwerk, dann auch bitte gleich das private halten von Haustieren mit verbieten. Führt ja auch nur zu Verletzungen, Umweltbelastung und Lärm (bellende Hunde). Und das dann 24/7 an 365 Tagen.



        Feuerwerk ist wenigstens nur einmal im Jahr ;).

        Vielleicht mal etwas weniger verkrampfen und die paar Stunden im Jahr ertragen. Leben und Leben lassen.



        Ich habe keinen Bock in einer Gesellschaft zu leben wo eine Gruppe der anderen ständig etwas verbieten möchte, weil es der eigenen Überzeugung widerspricht.

  • Schade.



    90% des Artikels gehen in die Richtung, es ist alles gesagt, nur nicht von jedem.



    Der interessante Punkt "....die deutsche Böllertradition zu hinterfragen...." kommt nur sehr dünn daher.



    Dabei hat es in der letzten Zeit dazu einige Diskussionen gegeben, zB das von Böller-Befürwortern das als Klassismus-Thema aufgemacht wird. Da wäre eine Analyse vielleicht spannend gewesen. Ob der Bürger der bürgerlichen Mitte es als Pflicht begreift? Bürgerinnen böllern wahrscheinlich sowieso nicht.

    • @fly:

      "Bürgerinnen böllern wahrscheinlich sowieso nicht."



      Wo kommen solche sexistischen Behauptungen eigentlich her?

      • @Encantado:

        Nicht alles ist sexistisch was Unterschiede zwischen Männern und Frauen behauptet.