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Israels Regierung im Nahost-KonfliktRingen um Macht

Die Waffenruhe hat vorerst Bestand. Doch Netanjahus-Gegner werfen ihm vor, bewusst auf Eskalation gesetzt zu haben – um sich selbst zu retten.

Ist vielleicht korrupt, darf aber vielleicht auch bald die Regierung bilden: Benjamin Netanjahu Foto: reuters

Jerusalem taz | „Der Hüter der Mauern“, so nannte das israelische Militär die letzte Runde militärischer Auseinandersetzungen zwischen Israel und Gaza. Doch israelische Linke und Kri­ti­ke­r*in­nen des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, unter ihnen auch die israelische Tageszeitung Haaretz, haben ihr einen anderen Namen gegeben: „Der Hüter des Mandats“.

Es ist Kritik mit Tobak, die sich hinter diesem Wortspiel verbirgt. Sie suggeriert nichts weniger, als dass Regierungschef Netanjahu die Ausschreitungen in Jerusalem, die in einem elftägigen Krieg zwischen Israel und der Hamas und in Ausnahmezuständen in den Städten mit arabisch-jüdisch gemischter Bevölkerung endeten, mit Absicht habe eskalieren lassen.

Mit Mandat ist das Regierungsmandat gemeint. Vor gut zwei Wochen war Benjamin Netanjahu an der Regierungsbildung gescheitert und hat das Mandat zur Regierungsbildung an Staatspräsident Reuven Rivlin zurückgeben müssen. Der beauftragte daraufhin Oppositionsführer Yair Lapid von der Zukunftspartei, der das Unmögliche möglich zu machen schien. Jüdische Parteien von weit rechts über Mitte-Links hin zur islamisch-konservativen Partei Ra'am hätten sich, so hieß es kurz vor den Eskalationen in den Medien, im Groben geeinigt. Noch am nächsten Tag solle eine Regierungsvereinbarung unterschrieben werden.

Zum ersten Mal in der israelischen Geschichte wäre eine arabische Partei direkt an der Regierung beteiligt gewesen, und Netanjahu – oder König Bibi, wie ihn seine An­hän­ge­r*in­nen nennen – wäre seit zwölf Jahren ununterbrochener Führung abgelöst worden.

Die Siedlerpartei bricht weg

Doch dann stürmte die israelische Polizei den Tempelberg, auf dem die Stimmung bereits seit Tagen und Wochen aufgeheizt war. Die Hamas stellte ein Ultimatum und ließ kurz danach mit den ersten Raketen auf israelisches Gebiet Taten folgen. Auf den Straßen der Städte mit jüdisch-arabischer Bevölkerung gingen Gangs gegeneinander vor, bei denen Ara­be­r*in­nen genauso wie Jüdinnen getötet wurden.

Drei Tage später warf Naftali Bennett von der Siedlerpartei Yamina das Handtuch und erteilte der breiten Einheitsregierung unter seiner Beteiligung eine Absage. „Eine Regierung des Wechsels kann in der geplanten Art und Weise nicht den Problemen in den gemischten Städten begegnen“, begründete er seinen Schritt: „Solche Dinge können nicht getan werden, wenn man sich dabei auf Mansour Abbas stützen muss.“ Dabei bemühte sich Abbas, der Chef der islamisch-konservativen Partei Ra'am, die Wogen zu glätten. In der gemischten Stadt Lod besuchte er die Familie Hassouna, deren Sohn von jüdischen An­woh­ne­r*in­nen erschossen wurde, aber auch eine Synagoge, die von arabischen Israelis abgebrannt wurde, und rief beide Seiten zu Ruhe auf.

Bennetts Absage an eine Einheitsregierung war für Netanjahu ein Glücksfall. Der wegen Korruption in drei Fallen Angeklagte klammert sich mit aller Macht an seinen Posten und versucht nach wie vor, mit einem Immunitätsgesetz einer möglichen Verurteilung zu entkommen.

Besonders scharfe Kri­ti­ke­r*in­nen werfen Netanjahu vor, er habe Itamar Ben Gvir, den neu ins israelische Parlament gewählten rechtsextremen Verbündeten von Netanjahu, instrumentalisiert, um die Flammen weiter anzuheizen und so Lapids Regierung zu verhindern.

Polizei und ein Parlamentsbüro

Sie verweisen darauf, dass dieser einige Tage vor Ausbruch des Krieges ein „Parlamentsbüro“ in dem umkämpften Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem aufgebaut hat, um mehr Polizeischutz für die Siedler zu fordern, die dort Tür an Tür mit Ostjerusalemer Familien wohnen. Familien, von denen viele von Zwangsräumung bedroht sind, weil Siedler auf die Häuser Anspruch erheben. Kri­ti­ke­r*in­nen werfen Netanjahu vor, er habe Ben Gvir bewusst, aber inoffiziell damit beauftragt, dieses „Parlamentsbüro“ zu eröffnen.

Auch die guten Verbindungen, die Netanjahu zur Polizei hat, führen seine Geg­ne­r*in­nen als Kritikpunkt an. Dass diese ausgerechnet im Monat Ramadan mit Blendgranaten auf die muslimischen Gläubigen und palästinensischen Protestierenden auf dem Tempelberg geschossen und so die Situation eskaliert hätten, sei kein Zufall.

Beweise für beide Behauptungen gibt es keine.

Auffällig sei außerdem, dass Netanjahu, der eigentlich nicht als Kriegstreiber gilt, kurze Zeit nach Beginn des Krieges davor gewarnt habe, dass diese Operation länger andauern könnte.

Deadline für Lapid

Auch Oppositionsführer Lapid, der um seine Einheitsregierung gebracht worden ist, suggerierte, dass politische Kalküle die Situation beeinflusst hätten: „Wenn wir eine Regierung hätten, hätte sich niemand gefragt, warum das Feuer immer dann ausbricht, wenn es für den Premierminister am bequemsten ist“, postete er am letzten Wochenende auf Facebook.

Lapid kündigte zwar nach Bennetts Ausscheiden an, weiterhin mit aller Kraft an einer Einheitsregierung zu bauen, doch seine Möglichkeiten dazu sind denkbar gering. Am 2. Juni läuft sein Mandat zur Regierungsbildung aus. Dann liegt es an Staatspräsident Rivlin: Er kann den Auftrag an die Knesset geben. Je­de*r Abgeordnete könnte dann versuchen, die erforderlichen 61 Sitze hinter sich zu versammeln. Auch Netanjahu hätte damit eine erneute Chance.

Gerüchteweise hat Gideon Sa'ar, der angetreten war, um Netanjahu abzulösen, angekündigt, doch zu einer gemeinsamen Regierung bereit zu sein, sofern er im Rotationsverfahren als erster Ministerpräsident würde. Sa'ar hat diese Berichte dementiert. Bennett wäre wohl mit im Boot, er hatte bereits zuvor seine Bereitschaft dazu erklärt, eine Regierung mit Netanjahu zu bilden.

Rivlin kann sich allerdings auch entscheiden, Neuwahlen anzuordnen. Es wären die fünften innerhalb von zweieinhalb Jahren. Umfragen, die vor dem Krieg durchgeführt wurden, sagten für den Fall von Neuwahlen eine erneute Pattsituation voraus.

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14 Kommentare

 / 
  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Vielleicht sollten mehr Frauen in der Knesset mitspielen?

    www.israelnetz.com...nd-in-stadtraeten/

  • Eine andere Leseart des Geschehens liefert Oliver Vrankovic in der Jungle World:

    jungle.world/blog/...dC_XD3uUS5MQk6Ym-U

    • @Jim Hawkins:

      wenn man um die krassen Auslassungen in dem Artikel nicht weiß, oder nicht wissen will... Nur mit bloßen Meinungsverschiedenheiten lassen die sich nicht wegerklären.

  • Fakt ist zumindest, er hatte Möglichkeiten im Vorfeld Spannung aus dem Konflikt zu nehmen. Er hat Warnungen eigener Sicherheitskräfte ignoriert, die vor genau dem gewarnt haben, was nach den Zusammenstößen an der Al-Aqsa Moschee passiert ist.

    Dass die Hamas nach dem Disaster um die Gaza Wahl und aufgrund der eh aufgeheizten Stimmung nach den geplanten Enteignungen in Ost Jerusalem nur darauf gewartet hat, mit Terror loszuschlagen und die Schutzmacht zu spielen, war zu erwarten.

    Dass das alles in einer Zeit passiert, wo Netanjahu politischer Machtverlust droht, arabische Kräfte kurz vor einem möglichen Einzug ins Parlament standen und er auch juristisch mit dem Rücken zur Wand steht, kann man nur schwer als Zufall ansehen.

    Unzählige Konflikte dieser Welt verlaufen nach genau diesem Muster. Nationalisten schüren Angst vor dem Feind, um anschließend mit Stärke ihre Basis zu mobilisieren und ihre Macht abzusichern.

  • Zu allen Zeiten gelang es den Regierenden, das Volk durch Krieg gegen äußere Feinde bei der Stange zu halten. Netanjahu und die Hamas haben es mal wieder eindrucksvoll vorgeführt. Am Ende haben sich beide als „Sieger“ präsentiert – und das (jeweilige) Volk jubelt! Die Toten waren halt der Preis für den „Sieg“.

  • RS
    Ria Sauter

    Dieser Gedanke liegt nahe.



    Der israelische Regierungschef sowie der Führer der Hammas legitimieren damit ihre Stellung.



    Jeder von den beiden festigt so sein Amt.

    • @Ria Sauter:

      Wenn man sich Bibis Werdegang anschaut ist es nicht unwahrscheinlich. Ist halt ein alter Scharfmacher.

  • " Sie suggeriert nichts weniger...."

    "Dass diese ausgerechnet im Monat Ramadan mit Blendgranaten auf die muslimischen Gläubigen und palästinensischen Protestierenden auf dem Tempelberg geschossen und so die Situation eskaliert hätten, sei kein Zufall.

    Beweise für beide Behauptungen gibt es keine."

    "Gerüchteweise hat Gideon Sa'ar, der angetreten war, um Netanjahu abzulösen, angekündigt"

    Irgend etwas wird schon hängen bleiben.

    • @Jim Hawkins:

      Netanjahu ist zu lange in der Politik und einfach zu gerissen, dass er solche Dinge wie in Jerusalem einfach mal unabsichtlich laufen ließe. Wenn man mal die Eskalationsmuster der vorigen Gazakriege mit dem jetzigen vergleicht so wird klar, das Netanjahu ganz genau gewusst hat wie er die Lage dahin treibt, das Hamas die Hutschnur platzt. Wie auf Bestellung. Gerade jetzt wo er sie am meisten braucht. Ich glaube eine neue Wahl wird es jetzt nicht geben, diesmal werden sich wohl alle zusammenreißen- weil sie meinen eine 5.Wahl in 2 Jahren dem Wähler nicht zumuten zu können. Ob die Chancen für eine Mehrheit für Netanjahu bei einer Neuwahl jetzt besser stünden bezweifeln aber manche Beobachter, bis zu 50% der Leute im Norden haben keinen Bunker und wünschen sich da schon seit langem Geld von der Regierung, bis jetzt erfolglos, selbst in der Nähe des Gaza- Streifens, in Ashkelon und Sderot sollen Baugenehmigungen für Bunker über Jahre verschleppt worden sein... da kann man vielleicht auch als treuer Likud- Wähler darauf kommen das hätte was mit der Regierung zu tun.

      • @ingrid werner:

        Ich sage ja nicht, dass Netanjahu auch am Rad gedreht hat, keine Frage.

        Aber, dass der Hamas "die Hutschnur geplatzt" ist, halte ich für ein sehr kühnes Bild.

        Als würde Haniyya mit den Seinen in Gaza sitzen und erst voller Geduld das Geschehen am Tempelberg beobachten, bis ihm eben die Hutschnur platzt.

        Das ist schon eine Verharmlosung eines islamistischen Terroristen, an dessen Händen reichlich Blut klebt.

        • @Jim Hawkins:

          Netanjahu hat einfach genau gewusst wo die roten Linien der Hamas liegen und wenn ich es richtig verfolgt habe, hat Netanjahu in den letzten Jahren häufiger mit dem Zugang/ Schließungen, Kontrollen zu Al-Aqsa bewusst gespielt (was auch zu diplomat. Verwicklungen mit Jordanien u Saudi-A geführt hat), schikaniert die Bewohner Ost-Jerusalems darüber hinaus mit dauernden Kontrollen, die Polizei oder die Soldaten sehen bewusst weg, wenn Siedler Palästinenser dort attackieren... Und nicht zum ersten Mal hat sich aus einzelnen Übergriffen, darauffolgenden Krawallen und der überzogenen Niederschlagung durch die Polizei ein Anlass für die Hamas ergeben Raketen zu schießen, natürlich ebenfalls überzogen, aber die Hamas hat nun mal wenig andere Möglichkeiten auf sich aufmerksam zu machen um das zu zeigen, was man im polit Kontext sonst als Entschlossenheit demonstrieren oder Machtdemonstration bezeichnen würde. Die Hamas könnte natürlich auch genauso Ansprachen in ihrem Fernsehkanal halten u dort verdammen, verurteilen etc, aber das würde niemanden interessieren. Nicht mal das eigene Publikum. Maas zeigt sich besorgt über die Flugzeugentführung Lukaschenkos und verurteilt es auf das schärfste. So what? Der Hamas, wie der Fatah, stehen um als vollwertige politi. Organisationen wahrgenommen zu werden nicht einmal zahnlose Sanktionsmittel zur Verfügung. Wenn man das Reaktions- u Eskalationsmuster kennt, ist es doch sehr naheliegend, dass man, bedrängt durch Korruptionsprozesse, auch mal der Versuchung nachgibt, hier ein paar Hebel in Gang zu setzen mit dem Ziel die (angebl) vielversprechenden Koalitionsverhandlungen der Gegenseite zu sprengen. Das solche Vermutungen nun überall ausgesprochen werden, hängt einfach damit zusammen dass sie leider Netanjahu zuzutrauen sind.

    • @Jim Hawkins:

      Im Ramadan mit Blendgranaten die al Aqsa zu stürmen ist schon mehr als ein Zufall

      • @Rinaldo:

        Es kann natürlich auch eine Entwicklung gewesen sein, wo man zeitweise die Kontrolle verloren hat. Auch sowas gibt es. Nobody is perfect.



        Letzlich ist doch alles nur Spekulation, solange es keine klaren Beweise für oder wider gibt.