Islamistische Anschlagsserie: Die Rückkehr des Terrors
Paris, Nizza, Avignon: Die neue islamistische Terrorwelle passt in eine Zeit, in der Respekt für Andersdenkende und Dialogbereitschaft schwinden.
E s war zuletzt still geworden um islamistischen Terror in Europa. Die Anschlagswelle von 2015 bis 2017 – über 300 Tote in Paris und Nizza, Brüssel und Berlin, Manchester und London – war zu Ende gegangen, hauptsächlich als Folge der Zerschlagung des „Islamischen Staats“ (IS) als organisiertes Gebilde in Syrien und im Irak. Die öffentliche Aufmerksamkeit wandte sich ab. Aber die Mörder im Namen Gottes waren nie verschwunden. In anderen Weltregionen ging ihr Kampf weiter, und selbst in Europa war islamistische Gewalt nie Geschichte. Sie wurde nur weniger wahrgenommen.
Gemessen an dieser blutigen Vergangenheit fallen die beiden jüngsten Terrorangriffe in Frankreich zahlenmäßig nicht ins Gewicht. Aber ihre Wirkung ist ungleich größer. Denn mit dem brutalen Mord an dem Lehrer Samuel Paty, gefolgt von der nicht minder grausigen Attacke von Nizza, stehen wieder die Mohammed-Karikaturen der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Mittelpunkt, mit deren Rächung durch das Massaker an der Belegschaft des Blattes im Januar 2015 die neue islamistische Blutspur quer durch Europa ihren Anfang nahm. Der Mord an Paty geschah in dem Kontext des in Frankreich sehr aufmerksam verfolgten Terrorprozesses gegen die mutmaßlichen Mittäter von damals. Es ist, als springe die Geschichte zurück auf Start.
Aber Geschichte wiederholt sich nicht, und die Welt von 2020 ist nicht mehr die von 2015. Respekt für Andersdenkende gehört immer weniger zur politischen Kultur. Selbstüberschätzung und das Recht des Stärkeren haben in der internationalen Politik Dialogbereitschaft und regelbasierte Zusammenarbeit verdrängt.
Die Toleranz für konträre Meinungen schwindet, Konsenssuche ist nicht mehr angesagt. Was radikale Prediger schon immer glaubten – dass es zu zentralen Themen des Lebens nur eine einzige erlaubte Haltung gibt –, ist mittlerweile verbreitet, selbst bei ansonsten rationalen Menschen. Dass eine empfundene Beleidigung oder Diskriminierung unter keinen Umständen Gewalt rechtfertigt, ist im Zeitalter der Identitätspolitik nicht mehr selbstverständlich. Der Geist von „Je suis Charlie“ ist weitgehend verschwunden. Der Terror hat freies Feld.
Viel wurde darüber sinniert, was das Ende des Multilateralismus und die Ära von Trump und Xi, Putin und Erdoğan und ihren vielen Nachahmern für die Weltpolitik bedeutet. Es erweist sich: Die großen Führer verstehen sich untereinander ganz gut. Aber die von ihnen verkörperte politische Kultur vergiftet die Gesellschaft. Sich für unfehlbar zu halten ist legitim geworden. Es beginnt mit Worten. Es endet mit abgeschlagenen Köpfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
US-Präsidentschaftswahlen
Die neue Epoche
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
US-Präsidentschaftswahlen
Warum wählen sie Trump?