Harris-Niederlage bei den US-Wahlen: Die Lady muss warten
Harris war zu sehr darauf bedacht, keinen zu vergraulen. Jüdische Wähler blieben ihr trotz Vorbehalten treu, andere straften sie ab.
U m vier Uhr morgens Berliner Zeit klingelt der Wecker. Das grelle Funkeln des Handys durchdrängt meine geschlossenen Lider. Als ich dann auf die Hochrechnungen aus den USA blicke, muss ich mir die Augen jedoch eigentlich nicht reiben. Gar nicht vor Verwunderung.
Für einen flüchtigen Moment fühle ich mich allerdings wie in eine Zeitkapsel zurückversetzt, und zwar direkt ins Jahr 2016. Damals vor ziemlich genau acht Jahren hatte ich mich aus dem Fenster gelehnt und ganz ohne Helm vorausgesagt, Donald Trump werde Hillary Clinton besiegen. Dass ich dabei eher im Lager der New Yorker Demokratin stand, hielt mich nicht davon ab, dieses Gefühl artikulieren zu wollen.
Oh, wie meine Prognose als süffisanter Kassandraruf abgestempelt wurde. Linksliberale Bekannte auf beiden Seiten des Atlantiks lachten mich aus und beschimpften mich in einer Kölner Kneipe, während die ersten Ergebnisse nach und nach eintrudelten. Doch die Zahlen gewannen an Momentum, und die Bauchbinde auf Fußrande des Fernsehbildschirms plötzlich berichtete, Trump liege komfortabel vorne. Dann kam das eindeutige Zeichen: Clintons Wahlabendparty wurde abrupt beendet. Die Tatsache, dass sie bundesweit rund 3 Millionen Wählerstimmen mehr als Trump erhielt, verhalf ihr nicht über die Hürden des Electoral College.
Kurz nach halb sechs bin ich live bei den Kolleg:innen Jan Feddersen und Simone Schmollack im taz Talk. Es ist 2024 wieder, und man fragt mich, warum Kamala Harris hinter den Erwartungen zurückbleibe. Meine Antwort: Die Erwartungen, so euphorisch man sie auch ankurbelte, waren unrealistisch. Denn es genügt nicht, die eigenen Anhänger:innen zu begeistern.
Man muss auch neue Wählergruppen ansprechen. Genau das meistert Trump. Der 78-Jährige setzte auf Tiktok, aber eben nicht um Swifties zu gewinnen, sondern um die Inceligentsia und die Trad Chads, wie ich sie persönlich zu nennen pflege. Damit meine ich die sonst schwer erreichbare Gruppe junger Männer, die sich vom sogenannten Wokism nicht sonderlich angesprochen fühlen. Sie sind zwischen 18 und 35 und sehnen sich nach der Übersichtlichkeit der 1950er Jahre.
Misogynoir unterschätzt
Harris unterschätzte leider die wertkonservative Tendenz afroamerikanischer Männer, so überrascht auch es nicht, dass sie ebenfalls die weißen und auch hispanischen Kerle, ob Akademiker oder Fabrikarbeiter, kaum auf dem Radar hatte. Bitter für Harris dürfte dabei auch die Wahrnehmung sein, dass es selbst innerhalb der Schwarzen Community das Phänomen Misogynoir gibt. Nicht nur bei Gangsta-Rappern, um ein billiges und doch akkurates Klischees zu bedienen, sondern auch in der christlich geprägten Mittelschicht gibt es Schwarze, die sich Gedanken machen, ob eine Black Lady die Durchsetzungskraft besitze, um mit toxisch männlichen Demagogen auf der Weltbühne zünftig umgehen zu können.
Hinzu kommt die politische und auch mediale Überbewertung des Reizthemas Abtreibung. Viele gemäßigte weiße Frauen geben seit Monaten offen an, dass die ökonomische Stabilität und nicht das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch für sie das Wahlentscheidende sei. „Alles wird immer teurer und ich kann es mir nicht einmal leisten, meine Rechnungen zu bezahlen“, so zitierte eine Studie von Galvanzie Action eine Befragte (April 2024).
Studien missachtet?
Offenbar haben die Democrats auf solche Hinweise nicht flexibel genug reagiert, und fast alle Umfragen lassen erkennen, dass die meisten Amerikaner:innen eher dem mehrmals insolventen, 34-fach verurteilten Geschäftsmann nolens volens vertrauen.
Nicht minder deutlich waren die Umfragen, was den sich ausweitenden Nahostkonflikt betrifft. Wie ich jüngst im Meinungsstück Zwischen Pech und Kamala prognostizierte, spielten die Ängste und die Unzufriedenheit jüdisch-amerikanischer Wähler:innen eine tragende Nebenrolle. Besonders in Pennsylvania, wo auch nur wenige tausend abgebrochene jüdische Wahlstimmen als Zünglein an der Waage fungierten.
Seit dem markanten Anstieg antisemitischer Gewalt im Lande und rund um den Globus fühlen sich Juden von den Demokraten wie im Stich gelassen. Dass Harris mantraartig beteuerte, dass das Existenzrecht Israels nicht verhandelbar sei, vermochte die Sorgen zahlreicher jüdischer Menschen nicht zu besänftigen.
Besonders unerfreulich für viele den Demokraten gegenüber loyal gebliebene Juden in Pennsylvania war, dass Harris den dort beliebten jüdischen Gouverneur Josh Shapiro nicht als ihren Vizekandidaten gewählt hatte. Man gab sich mit Tim Walz, dem Gouverneur Minnesotas, teils nur zähneknirschend zufrieden, war dann aber entsetzt, als Walz die betont antiisraelische Abgeordnete Ilhan Omar lobte.
Ungeachtet dessen deuten Exit-Polls (NBC News) daraufhin, dass Harris bundesweit sage und schreibe 79 Prozent der jüdischen Wählerstimmen erhalten hat, während Trump das diesbezüglich schlechteste Ergebnis der Republikaner seit 24 Jahren eingefahren hat.
Rein numerisch betrachtet, und zwar auf Ebene der gesamten Vereinigten Staaten, sind jüdische Wählende den US-Demokrat:innen also trotz allem eigentlich treu geblieben, so sehr es dringenden Gesprächsbedarf gibt. Sollten „israelkritische“ Linke versuchen, dem amerikanischen Judentum die Schuld an Trumps Sieg zu geben, wäre dieser tendenziöse Vorwurf nicht fundiert.
Harris wollte zu sehr niemanden vergraulen
Seit 9 Uhr heute zeigen Ergebnisse aus Michigan, wo Trump die Führung früh übernahm, dass arabischstämmige Amerikaner:innen Harris spürbar abgestraft haben. Einige wählten die weltfremde Jill Stein (Green Party), andere sogar Trump. Oder sie blieben zu Hause. Harris’ Parteikollegin, die Abgeordnete Rashida Tlaib, hatte darauf verzichtet, die 60-Jährige zu unterstützen. Denn viele muslimische Amerikaner:innen halten Harris für zu israelfreundlich.
So oder so hatte die noch amtierende Vizepräsidentin einen Drahtseilakt gewagt. Aber in ihrer voreiligen Siegerlaune hat sie im wortwörtliche Sinne das Netz vernachlässigt. Die Brat-Queen mit der Steilvorlage verschätzte sich und geriet nach und nach auf die hinteren Plätze. Lange vermied sie das obligate Fernsehinterview, selten artikulierte sie die Details ihrer Politik.
Das tat Trump übrigens auch. Aber ein alter, weißer Populist kann es sich leisten, Gretchenfragen auszuweichen und wirres Zeug zu reden. Harris war zu sehr darauf bedacht, keine potenzielle Wählergruppen zu vergraulen. Sie wurde zum feschen Liebling der Saison, wenn auch nur in der eigenen Echokammer. Trump begehrt zwar auch das Bad in der Menge, aber er möchte vor allem nicht geliked, sondern gefürchtet werden. Seine Fans lieben sein bestialisches Brusttrommeln. Wer sonst kann E-Autos öffentlich für Mist erklären und trotzdem Elon Musk als Cheerleader gewinnen?
Die Lady muss warten
Auch Kamala sagte wie einst Hillary ihre Wahlabendparty frühzeitig ab. Es war Madam Clinton immerhin gelungen, das populäre Votum überzeugend zu gewinnen. Diesmal hat Mrs. Harris nicht einmal das geschafft. Wird es jemals eine US-Präsidentin geben? Die Freiheitsstatue, die seit 1886 vor dem New Yorker Hafen steht, bleibt geduldig. Sie hat offenbar keine andere Option.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!