Nazimorde in Deutschland: Der fatale Mythos vom Einzeltäter
Auch 40 Jahre nach den Oktoberfest-Morden nimmt die Justiz rechte Netzwerke nicht ernst. Ein Umdenken findet nur langsam statt.
K iller des NSU leben zehn Jahre unentdeckt im Untergrund und ermorden Mitbürger aus Migrantenfamilien, weil diese keine Deutschen sind. Ein Neonazi exekutiert kaltblütig den CDU-Politiker Walter Lübcke, weil er sich für Geflüchtete einsetzt. Ein Antisemit scheitert nur knapp mit seinem Versuch, am Versöhnungstag Jom Kippur ein Massaker in der Synagoge von Halle anzurichten; er will die Gottesdienstbesucher töten, weil sie Juden sind. Ein Rassist erschießt in Hanau auf offener Straße und in verschiedenen Lokalen zehn Menschen, weil er nur „reinrassige Deutsche“ in Deutschland dulden will.
Terror von rechts und mörderischer Antisemitismus und Rassismus sind in Deutschland im Jahr 2020 bittere Realität. Niemand kann das heute noch leugnen oder totschweigen. Aber das war nicht immer so. Es gab auch vor 40 Jahren solche Verbrechen, doch ihr Ursprung wurde verdrängt und uminterpretiert, mit fatalen Folgen. Sie wurden nicht aufgeklärt. Und sie wurden vergessen.
Das erste judenfeindliche Gewaltverbrechen in Deutschland nach dem Ende des Nationalsozialismus fand im Dezember 1980 in Erlangen statt – nur drei Monate nach dem rechtsradikalen Oktoberfest-Anschlag in München. Das Attentat von Erlangen ist, anders als das Oktoberfest-Attentat mit 12 getöteten Menschen, weitgehend vergessen. Getötet wurden in Erlangen der jüdische Rabbiner und Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke.
Der enge inhaltliche und personelle Zusammenhang des Erlanger Verbrechens mit dem Oktoberfest-Attentat hat sich erst in jüngster Zeit erschlossen. Das Bindeglied ist eine antisemitische Verschwörungstheorie aus der Feder des faschistoiden Milizenführers Karl-Heinz Hoffmann. Sie induzierte den tödlichen Hass im Kopf des mutmaßlichen Erlanger Täters Uwe Behrendt und trieb ihn zu dem Mord an dem Paar an. Der Doppelmord von Erlangen blieb auch nach einem längeren Gerichtsverfahren ungesühnt.
Das Oktoberfest-Attentat ist mittlerweile, als Ergebnis der wieder aufgenommenen Ermittlungen, als rechtsterroristische Tat eingestuft und trotzdem bis heute nicht wirklich aufgeklärt. Ich fürchte, dass es in beiden Fällen dabei bleiben wird, aus guten, schlechten Gründen: Sie sind im polizeilichen, justiziellen und geheimdienstlichen Umgang mit rechtsextremistischen Tätern und Taten zu finden. Zu meinen irritierenden Erfahrungen gehört, dass einige derjenigen, die für die Aufklärung der Verbrechen und für die Bestrafung der Täter zuständig waren, voreingenommen dachten und nicht ergebnisoffen nachforschten.
„Nicht politisch motiviert“
Im Dezember 2014 verfügte Generalbundesanwalt Harald Range die Wiederaufnahme der Ermittlungen. Damit kam die von der Bundesanwaltschaft 1982 festgezurrte Version des Geschehens beim Oktoberfest-Attentat vom Tisch: Den eingestellten Ermittlungen des damaligen Generalbundesanwalts Kurt Rebmann zufolge hatte der Attentäter mit der von ihm gelegten Bombe gar keinen politisch motivierten Terroranschlag im heißen Bundestagswahlkampf 1980 verübt.
Nein, Gundolf Köhler, aktiv bei der völkischen Wiking-Jugend und der von dem Rechtsextremisten Hoffmann geführten Wehrsportgruppe, soll aus privater Verzweiflung Suizid begangen haben – ausgerechnet inmitten der auf dem Heimweg befindlichen vorbeiströmenden Oktoberfestbesucher. Der Typus des Einzeltäters wurde von den deutschen Ermittlern, Staatsanwälten bei den Ermittlungen wie ein Golem aus Aktenpappmaschee geformt, mit Vulgärpsychologie verkleistert und auf die Terrorbühne gestellt.
Solch ein Einzeltäter mag gelegentlich rechtsextrem schwadroniert und sich sogar so engagiert haben. Wenn er aber eines Tages in Aktion tritt, so tut er dies vor allem als allein vor sich hin tickende Zeitbombe mit unberechenbarer emotionaler Selbstzündung. Den ideologischen und organisatorischen Netzwerken, in denen diese Einzeltäter sozialisiert und beeinflusst wurden, wird keine oder nur wenig Bedeutung beigemessen.
Bei der RAF war jedes Mitglied ein Täter
Der rechtsextreme Einzeltäter ist von Polizisten, Kriminalisten und Juristen auf wundersame Weise als Komplementärmodell zum linken Attentäter à la RAF erschaffen worden, mit dem sich Polizei, Justiz und Politik zuvor in den 1970er Jahren zu befassen hatten. Was immer der einzelne linke Terrorist tat, er wurde als ein ideologischer Klon all seiner Genossen begriffen. Nach dieser Logik war jeder, der einer Gruppe zugerechnet werden konnte, Teil eines kollektiven Hirns, genauso am Entschluss zur Tat beteiligt, Teil eines Netzwerks und – vor Gericht gelandet – im gleichen Maß dafür verantwortlich gemacht.
Ganz anders wurde verfahren, als parallel zum in den 1970er Jahren dominierenden Linksterrorismus auch erste Gewalttaten von Rechtsextremisten begangen wurden. Das gilt zum Beispiel für den Mordanschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke im April 1968. Schon der Dutschke-Attentäter Josef Bachmann wurde 1969 vor Gericht als Einzeltäter eingestuft und seine Einbindung in die rechtsextreme Szene Niedersachsens verschleiert.
Dieses Muster wird seit dem Aufflammen des Rechtsterrorismus im Jahr 1980 wiederholt: Weisen Verdachtsmomente nach einer Gewalttat auf einen Täter aus der rechten Szene, soll es stets ein allein verantwortlicher Einzeltäter gewesen sein, so auch im Dezember 1980 bei dem Erlanger Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke. Dabei war der mutmaßliche Mordschütze Uwe Behrendt bis zum Verbot der Wehrsportgruppe des Rechtsextremisten Karl-Heinz Hoffmann dessen rechte Hand und wohnte bei ihm.
Die Richter des Landgerichts Nürnberg-Fürth pulverisierten die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Karl-Heinz Hoffmann wegen Anstiftung zum Mord: Aus Uwe Behrendt modellierten die Richter einen außer Kontrolle geratenen todbringenden Zauberlehrling, an dessen Entschluss, Plan und Mordaktion sein Herr und Meister Hoffmann keinen Anteil gehabt und von dem dieser nichts gewusst haben soll. So befand das Gericht, dass Behrendt für den Doppelmord von Erlangen ganz allein verantwortlich sei. Vor dem Nürnberger Gericht Stellung nehmen konnte auch dieser Einzeltäter nicht – er soll sich vor Beginn des Prozesses im Hoffmann’schen Wehrsportcamp im Libanon selbst getötet haben.
Umdenken bei der Polizei
Der Mythos vom Einzeltäter begleitet die halbherzige polizeiliche, juristische und politische Bekämpfung des Rechtsextremismus bis heute. Aber seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wird Verharmlosungen, Individualisierungen und Personalisierungen mit wacher Skepsis begegnet. Die kritische Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nimmt allmählich zu. Polizeiliche Ermittler vermeiden heute meist den traditionellen Reflex, sich frühzeitig auf einen Einzeltäter festzulegen. Und allmählich schärfen Polizistinnen und Polizisten ihre Aufmerksamkeit gegenüber rassistischen und antisemitischen Motiven bei Angriffen auf migrantische, jüdische oder muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger – nicht immer, aber immer öfter.
Nur auf der Ebene der Justiz halten Staatsanwaltschaften inklusive der Bundesanwaltschaft, aber auch Gerichte, wo immer möglich, am Einzeltätermythos fest. Im spektakulären Fall des NSU haben die Bundesanwaltschaft und das Oberlandesgericht München das Schema variiert: Aus dem Einzeltäter wurde ein verschworenes, angeblich abgeschottetes Trio: Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe. Nur einige der dem Trio besonders nahen Helferinnen und Helfer standen mit vor Gericht und kamen mit geringen Strafen davon.
Alle weiteren Strukturen, deren Gefährlichkeit am Fall NSU im öffentlichen Bewusstsein so deutlich wie nie zuvor geworden ist, wurden von der Bundesanwaltschaft und dem Gericht vollständig ausgeblendet: Das hatte mit dem rechtsextremen, ausländerfeindlichen Kameradschaftsnetzwerk mit dem harmlosen Namen „Thüringer Heimatschutz“ begonnen. Aus ihm rekrutierte und radikalisierte sich das spätere Trio zum Mordkommando, das, unterstützt von einem großen Umfeld, vom Jahr 1998 an im Untergrund leben konnte. Zu dritt planten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Banküberfälle und Morde; mit logistischer Hilfe des Umfelds, das Waffen beschaffte und Tatfahrzeuge besorgte, gingen sie zu Werk.
In der Reduktion der terroristischen Vereinigung NSU auf das Trio, dem die Bundesanwaltschaft die gesamte Täterschaft zuschrieb, offenbarte sich, dass rechte Netzwerke auch weiterhin nicht ernst genommen und konsequent bekämpft werden. Dabei war die bundesweite Mordserie der aus der Ferne anreisenden Mörder nicht denkbar ohne Hilfe vor Ort. Die Polizei war den NSU-Tätern nach ihrem Abtauchen in den Untergrund und noch vor dem Beginn ihrer Mordserie auf den Fersen, aber fasste sie nicht.
Verfassungsschützer finanzierten den Aufbau des Thüringer Heimatschutzes und hatten damit von Anfang an V-Leute auch im Umfeld der später untergetauchten NSU-Aktivisten. Anstatt sie ausfindig zu machen, sie der Polizei zu melden und den Erfolg der Ermittlungen gegen das Trio zu befördern, warnten sie die Szene und behinderten diese Ermittlungen.
Der Einzeltäter neuen Typs
In den vergangenen Monaten wurde ein weiteres rechtsextremes Netzwerk sichtbar, das sich in einer für unsere Sicherheit und die Aufrechterhaltung des Rechtsstaats fundamental wichtigen Institution eingenistet hat – in der Polizei: Nicht nur die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız erhielt mit „NSU 2.0“ unterzeichnete Mails mit Morddrohungen, sondern auch Janine Wissler, die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei in Hessen, und ihre Parteikolleginnen Anne Helm und Martina Renner. Die dabei verwendeten persönlichen Daten der Betroffenen in Hessen bezogen die Drohbriefschreiber aus einem Frankfurter Polizeicomputer.
Kurz zuvor hatten sich die Erkenntnisse über rechtsextreme Netzwerke im Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr so verdichtet, dass Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Notbremse zog und sich veranlasst sah, mit der Auflösung des gesamten Verbandes zu drohen, in dem sich Zellen miteinander verschworener Rechtsextremer gebildet haben, die Waffen, Munition und Sprengstoff horten und für den Tag X des Aufstands planen.
Es ist nur ein schwacher Trost, dass in diesen Fällen heute begriffen wird, dass wir es tatsächlich mit vielen zu tun haben, die sich in schlagkräftigen Netzwerken organisieren und radikalisieren. Die Einzeltäter, sie gibt es auch und zusätzlich immer noch – Einzeltäter neuen Typs. Sie müssen nicht mehr vor einem operettenhaften selbst ernannten Wehrsportgeneral exerziert werden und sich dessen krude Verschwörungserzählungen angeeignet haben. Diese gibt es heute auch frei Haus per Internetanschluss, samt Bauanleitung für Waffenteile aus dem 3D-Drucker.
Dieser Text ist das gekürzte erste Kapitel des Buchs „Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen. Wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden“, Ch. Links Verlag, das jetzt in einer erweiterten und aktualisierten Auflage vorliegt.
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