Analyse der NSU-Urteilsgründe: Die Schuld der Beate Zschäpe

Auf 3.025 Seiten Urteilsbegründung wird Zschäpes Handeln im NSU untermauert. Der treueste Helfer des Trios wird allerdings entlastet.

Nahe Aufnahme von Beate Zschäpe

An ihrer Schuld besteht kein Zweifel: Beate Zschäpe Foto: PeterKneffel/dpa

BERLIN taz | Es ist ein historisches Dokument. Auf 3.025 Seiten sezieren die RichterInnen des Oberlandesgerichts München in ihrer schriftlichen Urteilsbegründung die Schuld von Beate Zschäpe und vier Mitangeklagter an der NSU-Terrorserie. An den zehn Morden, den zwei Anschlägen in Köln, den 15 Raubüberfällen. Vor wenigen Tagen wurde der Schriftsatz an die Prozessbeteiligten verschickt. Er ist wegweisend. Halten die Urteile der Überprüfung des Bundesgerichtshofs stand? Lassen sich darauf weitere Anklagen gegen NSU-Helfer begründen?

Fünf Jahre hatten die RichterInnen um den Vorsitzenden Manfred Götzl über den Terror des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ verhandelt. Am 11. Juli 2018 fällten sie ihr Urteil: lebenslange Haft für Zschä­pe, mit besonderer Schwere der Schuld, und Strafen von zweieinhalb bis zehn Jahren für die Mitangeklagten. Für das Gericht war klar: Zschäpe handelte gleichwertig neben ihren Untergrundkumpanen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Sie ist voll für die Terrortaten verantwortlich.

Genau das war die zentrale Frage des Prozesses: War Zschä­pe wirklich gleichwertige Mittäterin des Terrortrios? Obwohl sie an keinem Tatort war?

In der Urteilsbegründung, die der taz vorliegt, untermauern die RichterInnen nun ihre Sicht – und das akribisch. Gut 1.900 Seiten widmen sie der Beweiswürdigung von Zschäpes Taten. Und sie lassen keinen Zweifel: Zschäpes Tatbeiträge seien „von überragender Wichtigkeit“ für die Terrorserie gewesen, ja „geradezu Bedingung“. Alle Taten des Trios hätten „gemeinsam, arbeitsteilig in bewusstem und gewollten Zusammenwirken“ stattgefunden.

Zschäpes „unverzichtbare“ Beiträge

Zschäpe habe dabei das Trio mit Alibis getarnt, die Abwesenheiten der Uwes mit Vorwänden verschleiert – und auch mit den Männern die Tatorte und Opfer ausgesucht. Dass sie bei den Taten nicht vor Ort war, sei „unverzichtbarer“ Teil des Plans gewesen – um die Wohnung abzusichern, die als „Zentrale“ diente. Und um dort im Ernstfall Beweise zu vernichten und die Bekenner-DVDs zu verschicken. Wie es Zschäpe im November 2011 tatsächlich tat. Erst da flog der NSU auf. Zschäpe, so die RichterInnen, habe damit die Terrorserie abgeschlossen und als solche erst erkennbar gemacht.

Zschäpe hatte diese Deutung ganz am Ende des Prozesses noch zu zerstreuen versucht. Plötzlich brach sie ihr langes Schweigen und ließ erklären, alle Taten hätten allein Mundlos und Böhnhardt verübt, sie selbst sei stets erst im Nachhinein eingeweiht worden. Über die Taten sei sie „entsetzt“ gewesen. Gegen die Männer habe sie sich aber nicht durchsetzen können, von Böhnhardt sei sie gar geschlagen worden.

Zschäpes Aussagen weist das Gericht als widersprüchlich und unglaubhaft zurück

Die RichterInnen weisen diese Aussagen allesamt als „unglaubhaft“ zurück. Denn Zschäpe selbst verfolge „nationalsozialistisch-rassistische Vorstellungen“, der Terror habe ihrer „ideologischen Interessenlage“ entsprochen. So habe Zschäpe mit Böhnhardt und Mundlos schon vor dem Abtauchen 1998, in der Kameradschaft Jena, dafür plädiert, man müsse „mehr machen“, und dies mit dem Aufstellen von Bombenattrappen auch umgesetzt. Das Trio sei „persönlich und ideologisch aufeinander fixiert“ gewesen und habe sich „zunehmend radikalisiert“. Die Mordanschläge seien dann der nächste Schritt gewesen, „eine Eskalation ihrer Gewaltbereitschaft“. Ein gemeinsamer Schritt.

Senat hält Zschäpes Aussagen für „unglaubhaft“

Zschäpe sei unterdrückt worden? Nein, so das Gericht: Alle Zeugen hätten das Trio harmonisch erlebt und Zschäpe als selbstbewusst. Gewalt von Böhnhardt? Die Angaben seien viel zu „widersprüchlich“: Mal sei von Schlägen die Rede, dann nur von festem Anpacken, mal sei die Gewalt bis 2001 erfolgt, dann bis 2008. Zschäpes behauptetes Alkoholproblem, etwa beim Inbrandsetzen des letzten Unterschlupfs, mit mehreren Flaschen Sekt intus? Habe es nicht gegeben: Zschäpe habe bei der Tat kontrolliert gehandelt, Bekannten sei auch sonst nie ein Alkoholproblem aufgefallen und Zschäpe habe in Haft keine Entzugserscheinungen gehabt.

Für das Bild der machtlosen Zschäpe hatten die Verteidiger auch einen eigenen Gutachter aufgefahren: den Psychiater Joachim Bauer. Er attestierte Zschä­pe eine „dependente Persönlichkeitsstörung“, eine schwere Abhängigkeit – und damit eine verminderte Schuldfähigkeit. Schon im Prozess hatte das Gericht Bauer aber als befangen abgelehnt. In den Urteilsgründen greift der Senat dessen Diagnose nicht mal mehr auf – sondern stellt sich voll hinter den selbst bestellten Gutachter Henning Saß, der Zschäpe „Raffinesse und Disziplin“ attestierte und eine volle Schuldfähigkeit. Saß’ Einschätzungen sei „überzeugend“ und „von großer Sachkunde getragen“. Ebenso bündig wird der zweite Gutachter von Zschäpes Anwälten – Pedro Faustmann, der das methodische Vorgehen von Saß kritisierte – abgehandelt: „Methodische Fehler lassen die gutachterlichen Ausführungen Prof. Dr. Saß soweit nicht erkennen.“

Zschäpes Verteidiger verweisen auch auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), die strenge Maßstäbe für eine Mittäterschaft ansetzt. Anwalt Mathias Grasel kündigte an, in seiner Revisionsbegründung das NSU-Urteil daran zu „messen“. Auf den BGH bezieht sich indes auch Götzls Senat: Er verweist auf eine aktuelle BGH-Entscheidung, wonach für eine Mittäterschaft nicht die Anwesenheit am Tatort nötig sei. Vielmehr reichten Beiträge zur Tat, ein eigenes Interesse daran und ein Einfluss auf die Tatausführung. Und dies, so die RichterInnen, sei bei Zschäpe „in allen Fällen gegeben“.

Der treuste Helfer soll nichts gewusst haben

Bei einem Angeklagten aber war das Gericht überraschend von der Anklage abgewichen: bei André Eminger. Von fast Anfang an bis zum Schluss hielt der Neonazi, der sich „Die Jew Die“ auf den Bauch tätowierte, dem Trio die Treue, besorgte eine Wohnung, Bahncards und Wohnmobile. Mit einem der Fahrzeuge fuhr der NSU zu seinem ersten Bombenanschlag 2001 in Köln. Zwölf Jahre Haft forderte deshalb die Bundesanwaltschaft für Eminger – und fragte, ob er nicht das vierte Mitglied des NSU gewesen sei.

Das Gericht sah und sieht es anders: Es verurteilte Eminger nur zu zweieinhalb Jahren Haft – weil er bei fast allen Hilfen nichts von den Terrortaten gewusst habe. Als Götzl dies im Gericht verkündete, brachen anwesende Neonazis in Jubel aus.

Der Senat unterstreicht nun aber seine Sicht – und benennt Eminger explizit als „Nichtmitglied“ des NSU. Die Begründung: Eminger habe – trotz seiner Hilfen – in den Anfangsjahren nur spärlich Kontakt zum Trio gehabt. Es sei daher „fernliegend“, dass er in die Terrortaten eingeweiht wurde – dafür habe „weder eine Veranlassung noch eine Notwendigkeit“ bestanden. Dem Trio reichte es, Eminger nur den Grund ihres Untertauchens zu erzählen: die Sprengstofffunde in einer Jenaer Garage. Auch habe Eminger nicht ahnen können, dass mit den Wohnmobilen Terror verübt wurde – das Anmieten war „alltägliches Geschäft“.

Erst 2007, als Eminger das Trio vor dem Auffliegen bewahrte, sei er in die Terrorserie eingeweiht worden, glaubt das Gericht. Damals musste Zschä­pe wegen eines Wasserschadens im Haus bei der Polizei vorsprechen. Eminger begleitete sie und behauptete, Zschäpe sei seine Frau. Beide seien nur zu Besuch im Haus gewesen. Der Polizist glaubte es. Erst nach diesem enormen Hilfsdienst habe Eminger von den Morden erfahren. Mit diesem Wissen habe der Zwickauer aber nur noch die Bahncards besorgt – und könne deshalb auch nur dafür als Terrorunterstützer verurteilt werden.

Keine Worte zum Versagen des Verfassungsschutzes

Es ist eine Sicht, die Opferanwälte und die Bundesanwaltschaft stark in Zweifel ziehen. Sie verweisen auf Emingers jahrelangen Kontakt zum Trio, seine Loyalität und Gewalt befürwortende Neonazi-Ideologie: Warum sollte das Trio gerade ihm die Taten verschweigen? Im Fall Eminger hat deshalb auch die Bundesanwaltschaft Revision eingelegt.

Haben die Ausführungen des Gerichts zu Eminger Bestand, sind weitere Anklagen gegen NSU-Unterstützer wohl vom Tisch. Denn wenn nicht mal der langjährigste und engste Helfer als Mitwisser verurteilt werden kann, wie soll dies erst bei anderen gelingen? Opferanwälte nennen in einer Erklärung deshalb „die Frage, wie es mit der Revision der Bundesanwaltschaft weitergeht, die spannendste und wichtigste“.

Die Urteilsgründe bestätigen die Opferanwälte indes auch in einer anderen Kritik: dass sich das Gericht zu wenig mit weiteren Helfern des NSU sowie dem Versagen von Verfassungsschutz und Ermittlern beschäftigt habe. Vielmehr betont der Senat, wie „abgeschottet, vorsichtig und legendiert“ die „drei Personen“ agiert hätten. Von einem womöglich größeren NSU-Netzwerk ist keine Rede. Auch das Agieren des Verfassungsschutzes wird mit keinem Wort erwähnt, ebenso wenig wie dessen einstiger Mitarbeiter Andreas Temme, der beim Kasseler NSU-Mord anwesend war. Das Gericht hält sich nur an den Schuldnachweis für die Angeklagten – und nur den.

Ob die Urteile gegen Eminger, Zschäpe und die anderen Bestand haben, liegt in der Hand des BGH. Einzig Carsten S., der als Überbringer der Mordwaffe verurteilt wurde, zog seine Revision zurück und trat seine Haftstrafe bereits an. Alle anderen Verurteilten haben einen Monat Zeit, ihre Revisionen zu begründen. Nach einem schriftlichen Verfahren werden dann die BGH-Richter über die NSU-Urteile entscheiden – das aber wohl erst 2021.

Aktualisiert am 30.04.2020 um 13:15 Uhr. In einer früheren Version des Artikels stand, dass der Gutachter Joachim Bauer der Angeklagten Beate Zschäpe eine Schuldunfähigkeit attestierte. Dies war falsch und wurde korrigiert. Bauer attestierte Zschäpe eine verminderte Schuldfähigkeit.

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Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

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■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

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