Kneipe, Wein, K.-o.-Tropfen?: Ein ganz normaler Typ
Ein Mann lädt sie zum Wein ein, dann hat sie einen Filmriss. Am Tag danach erfährt sie, dass er Sex mit ihr hatte. Sie sagt: Ich wurde vergewaltigt.
W ir waren im Restaurant, eine Freundin und ich, wir hatten uns viele Sachen zu sagen an diesem 13. November. Ich war schwer mitgenommen von einer kürzlich erlebten Fehlgeburt; nach zahlreichen medizinischen Fahrlässigkeiten war ich in der Notaufnahme gelandet und hatte den Embryo allein in meinem Krankenhauszimmer in Berlin verloren. Mein Bett stand neben dem einer im sechsten Monat schwangeren Frau, die meine Schmerzensschreie glücklicherweise nicht gehört hatte, weil sie gehörlos war.
Es gab also viel zu erzählen an diesem 13. November, ich wollte meiner Freundin erklären, was ich gefühlt hatte, ihr sagen, wie es mir im Moment ging, ich brauchte Trost.
Wir waren da, in diesem kleinen Restaurant nahe dem Kanal, das wir so mochten. Wir tranken Wein, wir aßen Tapas, das Essen war gut, das Restaurant klein und niedlich, die Fenster waren beschlagen, draußen war es kalt, drinnen hatten wir es warm. Die Deutschen haben dafür ein Wort: gemütlich.
Während einer Zigarettenpause war ein ganz normaler Typ aufgetaucht. Ein ganz normaler Typ, er spricht, er raucht Selbstgerollte, er stellt uns zwei oder drei Fragen, er ist ein bisschen mit den Besitzern des Restaurants befreundet. Bald kommen andere Gäste raus und rauchen auch, vielleicht wäre das alles nicht passiert, wenn man drinnen hätte rauchen können, wer weiß.
Die Leute rauchen und ich bleibe da, mit ihnen, auch wenn ich nicht mehr rauche. Wir reden, es ist ein intensiver, aber ein normaler Abend. Später wieder im Restaurant sitzt der normale Typ nicht weit weg von uns, mir und meiner Freundin. Er trinkt ein Glas Wein mit einer sehr schönen Farbe, ich frage ihn, was es für einer ist, er antwortet etwas und fügt hinzu: „Wenn du möchtest, bestelle ich dir ein Glas davon.“ Ich sage: Ja.
Stunden später wache ich auf. Es ist ungefähr 7 Uhr morgens und ich habe das Gefühl, in einem Flugzeug zu stecken, das eine Bruchlandung gemacht hat. In meinem Kopf dreht es sich, ich fühle mich benommen, ich weiß nicht, was hier los ist, ich bin nackt, liege in einem violetten, mir unbekannten Zimmer, der ganz normale Typ schläft neben mir. Er ist auch nackt, ich bin entgeistert und greife nach meinem Telefon. Eine Nachricht meiner Mitbewohnerin, die besorgt ist, weil sie mich nicht heimkommen gehört hat. Ich beruhige sie, indem ich ihr sage, alles sei gut, immerhin bin ich nicht tot.
Ich bin besorgt, mich nackt an diesem Ort wiederzufinden. Ich verspüre vor allem ein ungeheures Schuldgefühl. Denn seit einigen Wochen treffe ich mich mit einem Typen, ich mag ihn sehr und will ihn nicht betrügen. Nun scheint mir aber offensichtlich, dass sich in dieser Nacht mehr oder weniger sexuelle Dinge abgespielt haben, also bin ich beunruhigt.
Um mich zu beruhigen, schreibe ich an meine Mitbewohnerin: „Ich glaube, ich habe mit einem Typen geschlafen, aber gut, ich habe keinerlei Erinnerung daran, also kann man nicht wirklich sagen, dass ich es war, die das getan hat, oder?“
Der Typ wacht auf, ich frage ihn:
„Was ist passiert, haben wir miteinander geschlafen?“
„Ja, klar.“
„Aber das ist nicht möglich, ich habe keinerlei Erinnerung daran.“
„Aber doch.“
„Was genau ist passiert?“
„Also, wir sind hierhergekommen, es war ungefähr Mitternacht, du hast dich angezogen auf mein Bett gelegt, als wolltest du schlafen, aber du lagst verkehrt herum zum Kopfkissen, also habe ich dich herumgedreht, und dann haben wir miteinander geschlafen.“
Er fügt ein Detail hinzu, das seitdem in meiner Erinnerung festklebt, „ich habe dich von hinten genommen“, ich stelle mir vor, wie ich in Embryonalstellung auf der Seite liege, bewusstlos.
„Aber das ist nicht möglich, ich erinnere mich an nichts! Hast du ein Kondom benutzt?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil ich keines zu Hause hatte.“
„Aber ich hatte gerade eine Fehlgeburt, ich darf jetzt nicht schwanger werden, das wäre gefährlich, und ich nehme die Pille nicht.“
„Keine Sorge, ich bin nicht in dir gekommen.“
Der ganz normale Typ ist ganz entspannt. Dass ich keine Erinnerungen an die Nacht habe, scheint ihn nicht zu überraschen. Er ist weder geschockt noch verunsichert. Ich stehe auf, ich suche meine Kleider, sie liegen auf einem Stuhl. Ich ziehe mich an, ich gehe aus dem Zimmer und sage „Tschüß“, er antwortet „Tschüß“.
Als ich die Treppen heruntersteige, bin ich etwas benommen, aber ich merke mir den Namen der Straße und suche die U-Bahn, ich fahre nach Hause und sitze ein paar Stunden einfach so auf dem Sofa in meinen Kleidern vom Vorabend. Ich sage ein Mittagessen mit einer Freundin ab, ich bleibe auf dem Sofa, ohne mich zu waschen und umzuziehen, und erst mit einem Austausch von ein paar Nachrichten mit meiner Freundin fängt alles richtig an. Erst jetzt beginne ich zu realisieren, was all das bedeutet.
Eine Freundin schreibt mir auf WhatsApp:
„War dein Abendessen gestern gut?“
Ich: „Ja …“
Sie: „Warum die drei Punkte?“
Ich: „Na ja, es ist etwas Seltsames passiert.“
Zu dem Gefühl vom Morgen kommt ein Wort dazu: Vergewaltigung. Und es nimmt alles Fahrt auf: Ich gehe zum Arzt, der mich in die Notaufnahme schickt. Dort rufen sie die Polizei an, man testet mein Blut und meinen Urin, um zu wissen, ob mir Drogen gegeben wurden. Es ist aber zu spät, um K.-o.-Tropfen festzustellen, ich habe zu langsam reagiert. Sie sind nur bis maximal zwölf Stunden, nachdem sie in den Körper gelangt sind, nachweisbar.
Anders, als viele denken, knocken einen K.-o.-Tropfen nicht sofort aus. Es kommt auf die Dosis an, aber viele Betroffene können danach noch weiter laufen, tanzen, reden. Nebenwirkungen können Übelkeit und Schwindel sein. Die Substanz wirkt enthemmend und irgendwann einschläfernd. Eine klassische Folge ist ein Filmriss. Vieles davon trifft auf mich zu, aber ich werde es nie mit Sicherheit wissen.
Die Kriminalpolizei befragt mich, einmal, zweimal, dreimal, ich wiederhole die Geschichte, sie hören mir zu, nehmen meine Kleider für die Spurensicherung mit und geben mir Krankenschwestern-Kleider. Eine Gynäkologin des Krankenhauses untersucht mich mit Freundlichkeit und Mitgefühl, sie sagt: „Sie haben leichte Verletzungen an der Scheide“, ich bin erleichtert, das zu hören, ich habe den Eindruck, den Beweis dafür zu haben, dass mein Körper das nicht wollte.
Mein Kopf hat keine Erinnerung, nichts, nichts. Ich weiß nicht, ob ich wegen des Alkohols und der Emotionen einen Blackout hatte oder möglicherweise wegen K.-o.-Tropfen. Ich werde es niemals wissen. Was ich weiß: Ich habe schon ein paarmal in meinem Leben zu viel getrunken, aber ich hatte noch nie einen solchen Blackout wie in dieser Nacht. Diese Nacht hat sich anders angefühlt.
Was ich aber sicher weiß: Ich wollte nicht mit diesem Typen schlafen.
Johanna Luyssen
Nach den Untersuchungen wird mir eine präventive Tritherapie gegen eine mögliche HIV-Infektion verschrieben. Tabletten alle zwölf Stunden, weil er kein Kondom zu Hause hatte.
Als ich ein paar Tage später in der Klinik im Wedding ankomme, wo ich mein Rezept erneuern muss, informiert man mich, dass die Behandlung nicht von meiner Krankenversicherung übernommen wird und die Tritherapie 900 Euro kostet. Ich weine. Die Angestellte fühlt sich offensichtlich unbehaglich angesichts meiner Tränen. Sie sagt mir: „Warten Sie, ich schaue nach.“ Sie kommt wieder: „Nein, alles gut, es wird übernommen.“
Die Polizei informiert mich, dass sie mich vorladen wird. Ich warte drei Monate ohne irgendeine Neuigkeit. An einem Februartag bekomme ich einen Brief der Staatsanwältin, der mir sagt: „Es steht nicht zu erwarten, dass ein Gericht allein aufgrund Ihrer bisherigen Angaben (…) zu einer Verurteilung gelangen würde, weil sie nicht zur polizeilichen Vernehmung erschienen sind.“
Der Brief ist in einem normalen Umschlag gekommen, er ist auf den 8. Februar datiert und wir haben heute den 14., es bleibt also nicht mehr als eine Woche. Ich habe die Vorladung der Polizei nie bekommen. Ich bin aufgelöst, aber mir wird von einem Freund geholfen, einem in Berlin sehr bekannten Anwalt, und ohne ihn wäre diese Geschichte im Februar zu Ende gewesen. Er verlangt eine neue Vorladung, die Einladung kommt dieses Mal an, ich antworte darauf, ich gehe hin. Vier Stunden lang erzähle ich der Kriminalpolizei erneut meine Geschichte. Von jetzt an habe ich eine Anwältin, sie ist großartig, sie hört mir zu, sie gibt mir Ratschläge und versteht mich. Sie ist geradeheraus, sie sagt mir: „Die Chancen sind gering, dass die Beschwerde erfolgreich ist.“
Im deutschen Recht reichte es bis 2016 nicht aus, dass ein Vergewaltigungsopfer bewies, dass es Nein gesagt hatte. Der Täter musste den Geschlechtsverkehr mit Gewalt oder Drohungen für Leib und Leben erzwungen oder eine schutzlose Lage ausgenutzt haben.
Das ist heute ein wenig anders. Aber in meinem Fall ist es so wie bei vielen Fällen kompliziert: eine Vergewaltigung, verübt in der Intimität eines Schlafzimmers, ohne Zeugen. Eine Frau, die Alkohol getrunken hat und sich an nichts erinnert. Aus dem Restaurant habe ich keinerlei Erinnerung, aber offenbar hat er mich geküsst, das ist es, was seine Freunde der Polizei bestätigt haben. Als ob dieser Kuss ein Passierschein für den Rest wäre, eine Bescheinigung für die Zustimmung zu allem, was folgte.
Meine Freundin hat ihn auch gesehen, diesen Kuss, er hat sie sehr überrascht. Generell fand sie mich sehr seltsam an diesem Abend, ich machte einen merkwürdigen Eindruck, benahm mich komisch. Sie war so beunruhigt, dass sie mir um 1 Uhr morgens eine SMS schrieb, die ich in den frühen Morgenstunden beantwortete mit: „Mach dir keine Sorgen, mein Häschen.“
Diese Nachricht wurde von der Justiz ebenfalls als Beweis dafür interpretiert, dass ich nicht vergewaltigt wurde, weil ich meiner Freundin sagte, dass alles in Ordnung sei. Sie hat sich große Vorwürfe gemacht, an dem Abend vor mir gegangen zu sein, sie hatte mir vorgeschlagen, mich nach Hause zu begleiten, was ich abgelehnt habe, auch wenn ich mich daran nicht erinnere. Ich habe ihr gesagt, dass es nicht sie sei, die sich für irgendetwas schuldig fühlen müsse.
Er, der sich als Einziger schuldig fühlen muss, hat nichts gesagt, als die Polizei kam, um ihn zu befragen. Er hat das Recht dazu. Er hat ganz einfach von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Wenn ich an ihn denke, denke ich an die Abwesenheit jeglicher Überraschung, als ich ihm sagte, dass ich mich an nichts erinnere, an nichts. Seine kalte Gleichgültigkeit, seine Gelassenheit, all das lässt mich immer noch erstarren.
Ich wiederhole unablässig, dass ich mich an nichts erinnere, wie um mich zu rechtfertigen. Ich kann mich an nichts festhalten, außer an diesem Satz.
Ein langer Brief des Staatsanwalts weist mich ein paar Tage später daraufhin, dass die von der Gynäkologin festgestellten vaginalen Läsionen ein Zeichen eines ungewünschten Verkehrs sein können, aber auch nicht zwangsläufig. Man betrachtet es also als Zeichen für nichts.
Der Brief sagt auch, dass ich eine große Menge Alkohol getrunken hatte, und dieser Umstand lasse – kombiniert mit meinem Verhalten (dem Kuss) – nicht den Rückschluss zu, dass es eine fehlende Zustimmung gegeben haben könne. Der Brief sagt, indem ich meine Freundinnen per SMS beruhigt habe, hätte ich gewissermaßen nachgewiesen, dass ich nicht vergewaltigt wurde, weil ich nicht bestätigt habe, es zu sein. Der Brief vertritt außerdem die Meinung, dass meine seltsame Stimmung nach dem erheblichen Alkoholkonsum an diesem Abend vom Gespräch über die Fehlgeburt erklärt werden könne.
Meine Anwältin schreibt mir schließlich: „Wir können weitermachen, aber die Erfolgschancen sind fast null. Und es wird Sie Geld kosten.“ Ich habe kein Geld. Der Fall wird also eingestellt.
Seit einem Jahr schlafe ich schlecht und wache alle zwei, drei Stunden auf, fast jede Nacht, manchmal schweißgebadet. Die Deckung herunterzulassen, mich dem Schlaf hinzugeben, beunruhigt mich. Ich habe seitdem Schwierigkeiten, neben anderen Menschen, egal ob Männer oder Freundinnen, zu schlafen. Vor allem da ich in der Nacht sehr unruhig bin. Manchmal wechsle ich in der U-Bahn das Wagenabteil, wenn ich einem Typen begegne, der ihm ähnelt. Wenn ich an ihn denke, empfinde ich Wut. Wut und Angst.
Aus einem Schreiben der Anwältin
Ich habe meine Bürogemeinschaft monatelang gemieden, weil sie sich in der Nähe von seinem Zuhause befindet. Aber seit einigen Wochen gehe ich hin, ich mache es, ich wage es. Vieles andere schaffe ich noch nicht. Zum Beispiel lesen – ich habe noch nicht den Frieden, den es dafür braucht. Aber ich weiß, das wird wieder kommen. Ich schaffe es dagegen, zu schreiben, und das ist wichtig, weil es mein ganzes Leben ist.
Außerdem habe ich gemerkt: Ich bin nicht allein. Am 24. November, einige Tage später also, war ich in Paris und ich habe an der Place de l’Opéra gegen die Gewalt an Frauen demonstriert. Wir waren alle da – wir alle, #noustoutes, so heißt die Bewegung auf Französisch, die zur Demo aufgerufen hat. Und das hat mich getröstet.
Es ist ein Jahr her, und der Fall ist eingestellt. Diese Vergewaltigung existiert rechtlich nicht, aber sie ist da. Sie ist da, genauso wie die Geschichten, die mir seit einem Jahr Personen aus meinem Umfeld erzählen. Frauen und auch Männer, vergewaltigt, als sie Kinder waren oder Jugendliche – auch sie sind unsichtbar. Es gibt noch viele Geschichten wie meine.
Man wird ohne Zweifel sagen, dass es wichtig ist, dass die Justiz auch die Beschuldigten schützt, wenn es sich um Geschichten solcher Art handelt, die schwierig zu beweisen sind. Und das ist nicht falsch; aber man muss auch wissen, dass wir da sind. Wir, die unsichtbare Grauzone.
Seit diesem 13. November habe ich so was wie einen Feuerball in meinem Bauch, wenn ich an diese Vergewaltigung unter dem Radar, an diese Grauzone unter so vielen anderen, denke. Nirgendwo habe ich Frieden, außer wenn ich diese Zeilen schreibe.
Aus dem Französischen übersetzt von Eva Oer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge