Anschläge auf Nord-Stream-Pipelines: Spekulationen mit Sprengkraft
ARD und „Zeit“ berichten von „Spuren in die Ukraine“ bei den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines. Doch es gibt weiter Unklarheiten.
Wer hat im September 2022 drei der vier Nord-Stream-Pipelinestränge in der Ostsee gesprengt? Eine Reihe sich gegenseitig widersprechender Presseberichte hat in den vergangenen Tagen Verwirrung gestiftet.
„Spuren führen in die Ukraine“, titelten ARD und Zeit am Dienstagabend, als sie eine gemeinsame Recherche darüber veröffentlichten, was deutsche Ermittlungsbehörden herausgefunden haben sollen. Es sei den Ermittlern „gelungen, das Boot zu identifizieren, das mutmaßlich für die Geheimoperation verwendet wurde. Es soll sich um eine Jacht handeln, die von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden sei, die offenbar zwei Ukrainern gehört“, führt der Bericht aus.
Ein Team aus fünf Männern und einer Frau unbekannter Nationalität sei auf diesem Boot am 6. September 2022 aus Rostock losgefahren. Das Material für die Anschläge sei zuvor auf einem Lieferwagen dorthin transportiert worden – von wem, bleibt offen. Das Team bestand demnach „aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin, die den Sprengstoff zu den Tatorten transportiert und dort platziert haben sollen“.
Nach den Anschlägen sei das Boot „dem Eigentümer im Anschluss in ungereinigtem Zustand zurückgegeben worden. Auf dem Tisch in der Kabine haben die Ermittler den Recherchen zufolge Spuren von Sprengstoff nachweisen können.“
Rede von „proukrainischen“ Gruppen
Am Mittwoch bestätigte die Generalbundesanwaltschaft, das Boot bereits im Januar durchsucht zu haben. Das fragliche Boot wird auf tagesschau.de als „Schiff einer deutschen Charterfirma, das von einer polnischen Firma angemietet worden war“ bezeichnet. Die Firma wiederum soll zwei Ukrainern gehören.
Die Auswertung der sichergestellten Spuren und Gegenstände dauere an, erklärte eine GBA-Sprecherin in Karlsruhe gegenüber dpa auf Anfrage. „Die Identität der Täter und deren Tatmotive sind Gegenstand der laufenden Ermittlungen. Belastbare Aussagen hierzu, insbesondere zur Frage einer staatlichen Steuerung, können derzeit nicht getroffen werden.“
Die Pipelines Die Pipelines Nord Stream1 und Nord Stream 2 sollen russisches Gas durch die Ostsee nach Deutschland bringen. Nord Stream 1 ging 2011 in Betrieb, Nord Stream 2 nie. Russland stoppte die Gaseinleitung über Nord Stream1 im Juli 2022.
Die Anschläge In der Nacht zum 26. September 2022 wurde ein unerwarteter Druckverlust in Strang A von Nord Stream 2 gemeldet, am Abend darauf auch in beiden Strängen von Nord Stream 1. Ursächlich waren Explosionen. Die erste verursachte um 2.03 Uhr ein Leck in Strang A von Nord Stream 2. Mindestens zwei Lecks entstanden um 19.03 Uhr in den beiden Strängen von Nord Stream 1, ein drittes betraf erneut Strang A von Nord Stream 2. Strang B von Nord Stream 2 blieb intakt. Die Lecks befinden sich in 70 bis 80 Meter Tiefe im Abstand von mindestens einer Seemeile. Eine der Nord-Stream-1-Röhren wurde auf einer Länge von 250 Metern zerstört.
Zuvor war verschiedentlich auch von einer „proukrainischen“ Gruppe die Rede gewesen. So berichtete die New York Times in den USA am Dienstag unter Berufung auf anonyme Regierungsquellen, laut neuen US-Geheimdienstinformationen sei eine proukrainische Gruppe, womöglich bestehend aus ukrainischen oder russischen Staatsbürgern oder einer Mischung aus beidem, für die Sprengung verantwortlich.
Staatsbürger der USA oder Großbritanniens – beide zuvor von Russland verantwortlich gemacht – seien nicht beteiligt gewesen. Für eine irgendwie geartete Verwicklung der ukrainischen Regierung gebe es keinerlei Hinweise. Aus den Informationen gehe auch wenig über die mutmaßlichen Täter oder ihre Auftraggeber hervor.
Dicke Betonwände in 70 Metern Tiefe
Dies folgt auf eine Veröffentlichung des ehemaligen US-Starjournalisten Seymour Hersh, der unter Berufung auf eine einzige anonyme Geheimdienstquelle den gesamten Vorlauf und Verlauf des Anschlags rekonstruiert haben will und dafür die USA zusammen mit Norwegen verantwortlich machte, und zwar im Rahmen eines Nato-Manövers zur Minenräumung. Viele Details in Hershs Bericht sind mittlerweile widerlegt, aber manche seiner Fans verdächtigen die New York Times nun, von der Täterschaft der USA ablenken zu wollen.
In keinem der neuen Berichte steht etwas über die Art, wie die Anschläge ausgeführt wurden. Vorherige Berichte darüber, was für einen Aufwand es erfordert, drei durch dicke Betonwände geschützte Pipelines auf dem Meeresboden in über 70 Meter Tiefe zu zerstören, eine davon auf einer Länge von mehreren hundert Metern, passen kaum zu den neuen Berichten.
Die Times berichtete am Mittwoch, bereits eine Woche nach den Anschlägen seien Geheimdienstler eines skandinavischen Landes informiert worden, dass die Anschläge von einem „privaten Vorhaben mit Ursprung in der Ukraine“ verübt worden seien: „Der Name des mutmaßlichen privaten Sponsors, eines Ukrainers ohne Verbindungen zu Präsident Selenski, zirkuliert in Geheimdienstkreisen seit Monaten, aber wird nicht preisgegeben“.
Verifizierbar ist von alldem bislang überhaupt nichts, aber zumindest zwingen all diese Berichte in Kyjiw zu einer Reaktion. Als Erster hat Verteidigungsminister Oleksij Resnikow bestritten, dass offizielle ukrainische Strukturen an den Anschlägen beteiligt waren. „Für mich ist das eine ziemlich seltsame Geschichte, die nichts mit uns zu tun hat“, sagte Resnikow laut dem Nachrichtenportal Ukrainska Pravda. „Es wäre ein gewisses Kompliment für unsere Spezialkräfte, aber das ist nicht unsere Tätigkeit“, fügte er am Mittwoch hinzu.
Verteidigungsminister zurückhaltend
In Moskau scheint man wenig glücklich über die neuen Berichte zu sein. Auf einem Telegram-Kanal warf die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, am Mittwoch den USA und Großbritannien vor, damit „die Agenda, die sie brauchen“, zu erstellen. Laut der Staatsagentur Tass bezeichnete Sacharowa die Recherchen als „erfundene Versionen der Ursachen des Vorfalls“.
In Deutschland äußerte sich zunächst Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Er finde die Rechercheergebnisse interessant, „aber wir müssen mal abwarten, was sich davon bestätigt“, sagte er am Mittwochmorgen im Deutschlandfunk. Es könne genauso gut eine False-Flag-Aktion gewesen sein, um es proukrainischen Gruppierungen in die Schuhe zu schieben – „die Wahrscheinlichkeit für das eine wie für das andere ist gleichermaßen hoch“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos