Als Schwarzes Kind auf dem Dorf: Die Wut kam später
Sprüche im Bus, AfD-Plakate vor der Haustür: Als Schwarze Person auf dem Dorf aufzuwachsen ist nicht einfach. Aber es gibt auch gute Seiten.
D as typische deutsche Dorfkind läuft barfuß durch Wald und Wiese. Das typische deutsche Dorfkind trägt kurze Hosen und friert als letztes – auch im Winter. Es klettert liebend gern auf Bäume, sammelt Steine und andere Dinge, kennt sich super mit Tieren aus und trinkt in Jugendjahren auf Partys alle anderen unter den Tisch. Und das typische deutsche Dorfkind ist natürlich weiß.
Auf mich trifft eigentlich nur eines dieser Klischees zu: Ich würde behaupten, dass ich mich gut mit Tieren und Pflanzen auskenne. Ansonsten bin ich kein typisches deutsches Dorfkind. Und ich bin Schwarz.
Vielleicht überrascht es Sie, dass ich Schwarz großschreibe. Das tue ich deshalb, weil Schwarz in diesem Zusammenhang ein politischer Begriff ist, der nicht auf den Hautton abhebt, sondern auf die Diskriminierungserfahrungen, die Schwarze Menschen erleben und erlebt haben.
Laut deutschland.de leben 15 Prozent der Menschen hierzulande in Orten unter 5.000 Einwohner*innen. Erhebungen dazu, wie viele Schwarze Personen darunter sind, gibt es nicht. Das Statistische Bundesamt zählte 2018 über 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. 12,7 Prozent von ihnen wohnten laut Bundeszentrale für politische Bildung in ländlichen Regionen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Zu „Menschen mit Migrationshintergrund“ zählen auch die, die einen deutschen Pass und eine Migrationsgeschichte haben. Wie meine Familie und ich.
„Ach krass, du kommst vom Dorf? Wie war es da so?“, werde ich oft von Leuten aus der Stadt gefragt, mit denen ich die Diskriminierungserfahrung teile, nicht weiß zu sein. Und ein kurzes Zögern meinerseits wird auch schon als negative Reaktion gewertet. Trotzdem habe ich auf diese Frage bis heute keine Antwort.
Denn insbesondere die letzten beiden Sommer in der Coronapandemie haben mir vor Augen geführt, wie schön und wertvoll meine Kindheit auf dem Dorf war – weil ich gerne dorthin zurückkehre. Dabei spreche ich natürlich nicht für jede nichtweiße Person, die in einem Dorf aufwächst. Ich hatte das Glück, in einem kleinen Ort groß zu werden, in dem die Menschen zum größten Teil nett und freundlich zu mir waren. Doch gibt es eben auch die anderen Erfahrungen; je nachdem, in welchem Umfeld und in welcher Region man groß geworden ist.
Bisher gibt es noch keine Studien, die die Erfahrungen und Gefahren erfassen, denen Schwarze Menschen und Menschen of Color ausgesetzt sind, die auf dem Dorf aufwachsen. Doch dass sich diese Erfahrungen von denen der weißen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, das weiß ich – aus meiner eigenen Kindheit, aus Gesprächen mit meinen Geschwistern und aus Gesprächen mit Miri, Kofi, Virginnia, Josephine und Stephanie, die in verschiedenen ländlichen Regionen Deutschlands groß geworden sind und die ich bei der Recherche zu diesem Artikel befragt habe. Zu ihrem persönlichen Schutz nenne ich nur ihre Vornamen und benenne auch nicht die Dörfer, in denen sie ihre Kindheit verbracht haben.
Hier will ich unsere Geschichten erzählen, die sich weit entfernt von belebten Stadtzentren zugetragen haben. Wie ist es also, als Schwarzes Kind in einem kleinen Dorf in Deutschland groß zu werden?
Meine Familie zog in den späten 1990er Jahren aufs Land. Meine Familie, das sind mein Schwarzer Vater, meine weiße Mutter, meine ältere Schwester und meine beiden älteren Brüder. Mein Vater war damals Schichtleiter in einer Getränkefirma, die ihren Standort gewechselt hatte. Nach zwei Jahren, in denen mein Vater pendelte, entschieden sich meine Eltern, der Firma hinterherzuziehen.
Also ging es aus der Millionenstadt Berlin in ein niedersächsisches Dorf mit 600 Einwohner*innen zwischen Wolfsburg und Hannover. Aber auch aus einer Vierzimmerwohnung in ein Haus mit großem Hof und Garten. Ein Jahr lebte meine Familie schon dort, dann wurden meine Zwillingsschwester und ich geboren.
Wir wuchsen in einem Dorf auf, durch das man in weniger als zehn Minuten gehen kann. Drumherum alles grün, viele Felder, auf denen Raps, Mais, Weizen oder Gerste wachsen, ein paar Wiesen, auf denen Pferde grasen oder Gänse watscheln, dazu viel Wald. Auch das Dorf selbst ist nicht gerade hässlich, wenn man sich auf die Fachwerkhäuser konzentriert und die grau verputzten Fassaden außer Acht lässt. Und das Beste ist, dass mittendurch ein kleiner Bach fließt, in dem wir den ganzen Sommer über in unseren Gummistiefeln planschen und kleine Fische fangen konnten.
Der Bus fuhr nur stündlich
Nicht so schön fanden wir hingegen, dass der Bus nur stündlich fuhr – obwohl wir uns eigentlich nicht beklagen konnten, immerhin fuhr er damit deutlich häufiger als in den Nachbardörfern. Dafür findet sich bei uns weit und breit kein Supermarkt, sodass meine Zwillingsschwester, meine beste Freundin und ich die Tankstelle ansteuern mussten, wenn wir Hubba-Bubba-Kaugummis und Lakritzlollis wollten. Zum Glück gab es damals schon den Tennisplatz, wo ich die Massen an Zucker in Energie umsetzen konnte, außerdem Fußballturniere, ein kleines Festival, Freibadpartys, Dorf- und Schützenfeste – irgendwas war immer los.
Auf dem Dorf hatten wir mehrere Banden: In der Grundschule waren wir „Die Wilden Kerle“. Wir hatten sogar Ausweise, auf denen die Namen der Charaktere standen. Ich war Fabi, „der schnellste Rechtsaußen der Welt“. Zwei Jahre später habe ich mich mit meiner Zwillingsschwester und unserer besten Freundin zu den „Wilden Hühnern“ zusammengeschlossen. Mit Bandenbuch! Während die anderen Dorfkinder in größeren Gruppen zusammen im Garten spielten oder ins Freibad fuhren, blieben wir zu dritt und zogen auf unseren Fahrrädern durch den Ort.
Da hatte meine Entfremdung von dem Dorf schon begonnen. Sie passierte schleichend und lässt sich am besten am Musikgeschmack festmachen: Ich weiß noch, wie irritierend ich es fand, wenn auf den Dorffesten Mickie Krauses „Geh mal Bier hol’n“ gespielt wurde. Während die meisten anderen Kinder solche Ballermann-Hits leidenschaftlich mitsingen konnten, ging ich lieber vor die Tür und schnappte frische Luft.
Bei uns zu Hause wurde andere Musik gehört. In Videos aus unserer Kindheit sieht man meine Schwester und mich mit drei oder vier Jahren zu R&B-Songs von Whitney Houston, Usher und D’Angelo tanzen. Diese Künstler*innen prägten mich, und so kommt es auch nicht von ungefähr, dass mein erstes Konzert nicht von Helene Fischer war, sondern von Alicia Keys. Durch ihre Musik lernte ich auch Klavier spielen, „If I Ain’t Got You“ war der erste Song, den ich singen und wozu ich mich selbst begleiten konnte.
Mit zehn Jahren fing ich außerdem an, Geige zu spielen. Erst unfreiwillig, dann mit immer mehr Begeisterung. Weil meine Mutter im Dorfkindergarten arbeitete, war sie gut vernetzt, sie hatte Kontakt zum Bürgermeister, und so kam es, dass meine Zwillingsschwester und ich öfters als Streichduo für Senior*innenfeiern engagiert wurden. Zwei Schwarze Kinder, die für eine Gruppe alter weißer Menschen Musik machen: Das mag aus heutiger Sicht wie eine exotisierende Zurschaustellung wirken – doch das war es bei uns nicht. Als viel unangenehmer sind mir die Auftritte beim Musikwettbewerb „Jugend musiziert“ in Erinnerung geblieben. Der machte seinem Ruf, eine klassische weiße und elitäre Musikszene zu repräsentieren, alle Ehre. Wir waren die einzigen Schwarzen Kinder dort und konnten die Blicke der anderen Teilnehmer*innen auf unseren Körpern förmlich spüren.
Bis auf die Sache mit der Musik war das Dorfleben für mich und meine Geschwister als akzentfrei sprechende light-skinned Personen, also Schwarze mit hellerem Hautton, aber eigentlich ziemlich gut. Andere hatten da weniger Glück, wie ich aus dem Gespräch mit Miri erfahre.
Miri wuchs, ebenfalls in den späten 1990er Jahren, in einem Dorf mit 800 Einwohner*innen in Thüringen auf. Sie hat eine Schwarze Mutter, einen weißen Vater und einen jüngeren Bruder.
Im Dorf zog sich die rechte politische Gesinnung deutlich durch die Gesellschaft und äußerte sich auch ihr gegenüber, erzählt sie mir am Telefon. Zum Beispiel, als ihr kleiner Bruder aus dem Schulbus stieg und vor der Schule von Nazikindern in den Schwitzkasten genommen wurde, weil seine Schwester – im Gegensatz zu ihm – „nicht deutsch“ aussieht. Es zeigte sich auch in der Schule: Ein Mitschüler und Kind von NPD-Wähler*innen beleidigte sie über Jahre hinweg im Unterricht. „Ich bin immer ruhig geblieben, aber als er das N-Wort zu mir sagte, da musste der Frust raus und ich habe zurückgeschrien“, sagt Miri. Die Lehrer*innen machten nichts, und am Ende bekam sie Ärger und musste zur Schulleitung. Für ihren Mitschüler gab es keine Konsequenzen.
Sie kann es nicht ignorieren
Miris Mutter, die in den 1970er Jahren ebenfalls auf dem Dorf aufwuchs, sagte ihr stets: „Du musst es ignorieren, irgendwann hört es auf.“ Für die Mutter hat das vielleicht funktioniert, für deren Schwester, Miris Tante, allerdings nicht. Sie kam nicht mit den rassistischen Äußerungen zurecht und verließ das Dorf, in dem sie groß wurde, sobald es ging. Sie konnte die rassistischen Erfahrungen nicht ignorieren.
Denn es hörte nicht einfach auf. Damals nicht und auch nicht später, wie Miri erzählt. Wie sollte sie auch darüber hinwegsehen, dass ihre weißen Kolleginnen und Kollegen vor ihrer geplanten Reise nach Australien zu ihr sagten: „Wenn das so weitergeht mit den ganzen Flüchtlingen, dann kannst du gleich in Australien bleiben.“ Das war 2015, als vermehrt Menschen nach Deutschland geflüchtet sind und sich der Hass auf die, die nicht der typischen Vorstellung vom „Deutschsein“ entsprachen, auch in Miris Umfeld verstärkte.
Auch Kofi fühlte sich während seiner Kindheit und Jugend unwohl, wie er mir erzählt. Er wuchs in einem Dorf in Brandenburg auf, das in den 2000er Jahren Schwerpunkt der rechten Szene war. Auch wenn er damit glücklicherweise selten direkt konfrontiert wurde, beeinflusste allein das Wissen darum sein Lebensgefühl.
Josi hingegen empfindet das Dorf, in dem sie aufwuchs, als einen Ort, an den sie auch heute gerne zurückkommt. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schule, die sie als einen Ort des Unwohlseins beschreibt, der von rassistischen Sichtweisen geprägt war.
In Josis Schilderungen finde ich mich wieder. Denn sobald ich mich aus der Geborgenheit meines Dorfes hinausbewegte, wurde ich mit rassistischen Übergriffen konfrontiert. Das fing schon mit der Busfahrt zur Schule an, wo immer mindestens zwei Schüler*innen meine Zwillingsschwester und mich beleidigten. Entweder bewarfen sie uns mit Murmeln oder flüsterten das N-Wort und andere rassistische Beleidigungen. Ich trainierte mir anfangs an, alles zu ignorieren, so zu tun, als hörte ich es nicht. Aber in mir brodelte es. Und das Brodeln wurde immer lauter. Kochte hoch, flachte ab und nahm wieder zu.
Witze über meinen Namen führten so weit, dass meine Schwester vorschlug, einen anderen Bus zu nehmen, um diese Kinder zu meiden. Irgendwann konnte ich die Wut nicht mehr unterdrücken und wollte sie rauslassen. Ich wollte mich wehren und warf die Murmeln zurück. Es fühlte sich gut an, nicht alles herunterzuschlucken, es war erleichternd: wie eine Last, die abfiel. Danach warfen sie nicht mehr mit Murmeln und ließen uns in Ruhe.
Doch selbst in meinem Dorf änderte sich die Stimmung. Eines Tages entdeckten wir, wie jemand ein AfD-Wahlplakat an die Laterne direkt vor unserem Grundstück gehängt hatte. Es folgten viele weitere. Meine Zwillingsschwester und ich entfernten sie ein ums andere Mal, um unserer Wut Luft zu machen, auch wenn es nur eine kleine Aktion war. Meine Familie fasste es zwar als Provokation auf, wir machten uns aber eher darüber lustig, als uns Sorgen zu machen. Trotzdem gab es mir ein Gefühl von Unwohlsein: Durch die Plakate war die Bedrohung näher gerückt und sichtbarer geworden.
Wut verspürte ich auch, als mein Lehrer im Sportleistungskurs beim Thema Doping die kenianischen Langstreckenläufer*innen als Beispiel nahm und sagte: „Die ernähren sich da unten auch nicht nur von Reis und Wasser“ – mit einem Lächeln im Gesicht, weil er schon wusste, dass ein paar meiner Mitschüler*innen über seine Bemerkung lachen würden. Denn, ja klar, in „Afrika“ gibt es nur Reis und Wasser und sonst nichts – da müssen die „Afrikaner*innen“ ja irgendetwas Leistungssteigerndes genommen haben, um gute Läufer*innen zu sein.
Die Wut orchestrieren
Ich wollte damals etwas erwidern, aber ich schwieg. Ich hatte keine Begriffe, um zu sagen, was an seinen Aussagen falsch war. Alles spannte sich in mir auch an, als Mitschüler*innen beim Thema Kolonialismus in Geschichte das N-Wort benutzten und danach diskutierten, was denn die „politisch korrekte“ Bezeichnung für Schwarze Menschen wäre. Ich bekam alles mit, hörte, wie meine weißen Mitschüler*innen über Begrifflichkeiten redeten, die mich betrafen, aber konnte nichts sagen, weil ich selbst noch keinen Begriff dafür hatte. Auch das machte mich wütend.
Die Schwarze Schriftstellerin Audre Lorde beschrieb, was in uns brodelte, in ihrem Essay „Vom Nutzen unseres Ärgers“ so: Wir mussten lernen, schrieb sie, „unsere Wut zu orchestrieren, damit sie uns nicht zerriß. Wir mußten lernen, uns durch sie hindurchzubewegen und sie zu nutzen: wir mußten Kraft und Stärke und Einsicht für unser tägliches Leben aus ihr ziehen.“
Ich war in meinem zweiten Studienjahr, als ich auf den Text aufmerksam wurde. Er war eine Erleuchtung für mich, ein Aha-Moment. Denn endlich erfuhr ich, dass meine Wut berechtigt ist und es auch gut ist, sie zu zeigen. Seitdem halte ich, wenn es mir das wert ist, bei rassistischen Bemerkungen verbal dagegen. Denn Wut zu unterdrücken hat das Potenzial, sich selbst zu erdrücken.
Wut wird oft mit Aggression gleichgesetzt, aber es gibt noch so viele andere Arten, sie zu äußern – und sie ist nicht immer laut. Man kann sie auch durchs Schreiben ausdrücken, durch Proteste, Demos, durchs Aussprechen. Wut ist wichtig. Wut auszudrücken ist wichtig. Wut hat eine Daseinsberechtigung, und sie ist auch politisch.
Das alles erfuhr ich, als ich nach Bremen gezogen war, um dort Germanistik und Musikwissenschaften zu studieren. In einem Germanistikseminar sprach mich die einzige Schwarze Kommilitonin außer mir auf die Black Student Union (BSU) Bremen an. Nach dem ersten Treffen war ich überwältigt, so viele Schwarze Menschen in einem Raum zu sehen, die sich aktivistisch engagierten! Ich lernte tolle Menschen kennen, unter denen ich mich schnell wohlfühlte und die ich bewunderte. Seitdem wusste ich, was Empowerment bedeutet.
Die BSU Bremen war die erste ihrer Art in Deutschland und wurde von Schwarzen Studierenden gegründet. Sie veranstaltete Lesekreise, in denen wir Texte von Frantz Fanon, dem Combahee River Collective oder Audre Lorde lasen. Texte von Schwarzen Aktivist*innen und Schriftsteller*innen, die die Mehrheit von uns im sonstigen Universitätsalltag vermisste. So auch Sojourner Truth’ beeindruckende Rede „Ain’t I a Woman?“. Die Schwarze Frauenrechtlerin und Abolitionistin thematisierte darin zum ersten Mal die Mehrfachdiskriminierung von Schwarzen Frauen, die etwa von weißen Feminist*innen rassistische und aus der eigenen Community sexistische Diskriminierung erfuhren.
In der BSU lernte ich, dass die Phänomene, die ich in meiner Schulzeit erlebt hatte, tatsächlich Dinge sind, die benannt werden können. Im Laufe meines Studiums, als ich anfing, strukturelle Diskriminierung zu sehen und durch Gruppen Empowerment und Bestätigung bekam, lernte ich Begriffe wie Intersektionalität, also die Verschränkung von verschiedenen Diskriminierungsformen, zu verstehen und zu nutzen. Rückblickend kann ich einige Erfahrungen nun benennen und habe verstanden, wie wichtig Community ist und welches Glück ich hatte, dass ich in meiner Kindheit und Jugend nicht alleine war.
In Gemeinschaft stärker
Denn ich hatte meine Eltern und meine älteren Geschwister, die mir sagten, was ich erwidern konnte, wenn mich eine Person beleidigte. Ich hatte meine Schwestern, die genau wussten, von welchen Gefühlen ich sprach, wenn ich erzählte, dass mir wieder mal fremde Kinder in die Haare gefasst hatten. Und ich hatte meine Zwillingsschwester immer um mich. Wir waren immer zu zweit und mussten die Rassismuserfahrungen nicht alleine durchstehen.
Miri konnte ihre Erfahrungen und ihre Gedanken dazu nicht mit ihrer Familie teilen. Sie war die Einzige, die sie nicht ignorierte. Ihr Vater und ihr Bruder konnten sie nicht verstehen. Ihre Mutter wollte sie nicht verstehen. Nur mit ihrer Tante konnte sie sich austauschen.
Auch Stephanie empfindet so. Sie wuchs in einem Dorf in Schleswig-Holstein mit ihrer Mutter, einer Person of Color, und ihrem weißen Vater auf. Dadurch, dass sie die Rassismuserfahrungen mit ihrer Mutter teilen konnte und Unterstützung von ihr erhielt, wuchsen die beiden enger zusammen.
Virginnia wurde als einzige Schwarze Person in einer weißen Pflegefamilie in einem nordrhein-westfälischen Dorf groß. Für sie war ein anderes Schwarzes Mädchen im Dorf eine Bezugsperson, sagt sie. Sie waren zwar nicht befreundet, aber immer, wenn sie bei ihr und ihrer Schwarzen Familie zu Besuch war, spürte sie ein anderes Gefühl von Zugehörigkeit – das war ihre „Community“.
Und jede Community braucht ihren Safe Space. Unserer war unser Zuhause, wo wir tun und lassen konnten, was wir wollten; der Hof, auf dem meine Zwillingsschwester und ich mit unserem Vater Fußball spielten, auf dem ich von meinen Geschwistern Basketball lernte, ohne dass ältere Jugendliche kamen und den Platz für sich beanspruchten oder dumme Sprüche machten. Wir hatten viele Bäume, auf die wir klettern konnten, und einen Garten hinter dem Haus, der von Bäumen und Büschen gesäumt war, sodass wir dort unter uns waren. Hier konnte ich abschalten von allem, was sonst um mich herum passierte. Hier konnte ich herumalbern, diskutieren, lachen, Freundschaften vertiefen, die bis heute anhalten. Sie sind neben dem Besuch meiner Eltern ein Grund, warum ich immer wieder aufs Dorf fahre.
Nicht den Mund halten
„Wenn ich mit dem Wissen und Selbstbewusstsein von heute noch mal in der Schule wäre, dann würde ich meinen Mund aufmachen und viel mehr kritisieren“, sagen meine Schwarzen Freund*innen, Freund*innen of Color und ich heute. „Wenn ich mit dem Wissen, das ich heute habe, noch mal in mein elfjähriges Ich vom Dorf in Thüringen schlüpfen würde, wäre ich der unglücklichste Mensch auf Erden“, sagt Miri. Denn die rassistischen Strukturen, die für sie als Kind noch nicht zu überblicken waren, hätten sie zerrissen: zu wissen, dass man eigentlich nicht erwünscht ist, sondern nur geduldet wird – oder nicht einmal das.
Miri würde ihre Kinder, wenn sie welche bekommt, deshalb auch in einer Stadt großziehen, sagt sie. Die Freiheit und Unbeschwertheit, die man auf dem Dorf genießen kann, wiegen weniger als die Aussicht, sich die Leute, mit denen man sich umgibt, aussuchen zu können. Denn das Dorf ist eine Welt für sich, die oft noch nach Regeln funktioniert, die in den Städten längst gestrig sind. „Selbst wenn man seine Kinder dann antirassistisch und feministisch erzieht, läuft man im Dorf gegen eine Wand. Das Denken ist da immer noch genauso wie vor zwanzig Jahren“, sagt Miri. Und auch die meisten anderen meiner Gesprächspartner*innen schildern, dass bei ihnen auf dem Land eher eine „Früher war alles besser“- oder „Das war schon immer so“- Stimmung vorherrsche.
Doch es gibt auch heute noch Schwarze Menschen, die ganz bewusst wieder raus aufs Dorf ziehen. Meine ältere Schwester lebte über 20 Jahre in Berlin und entschied sich vor einigen Jahren, aufs Land zurückzugehen, wo sie jetzt mit ihrer Familie lebt. Sie kann sich inzwischen nicht mehr vorstellen, in einer Stadt zu wohnen. Auch mein Vater, der in einem kleinen Dorf in Gambia aufwuchs, würde nur noch in eine Stadt ziehen, wenn er dort seine Kumpel hätte. Die Gartenarbeit würde ihm fehlen und auch die Ruhe und entspannte Atmosphäre.
Würde ich meine Kinder auf dem Dorf großziehen? Will ich noch mal auf dem Land leben? Würde ich anderen Menschen raten, ihre Schwarzen Kinder auf dem Dorf großzuziehen, wenn sie mich fragen?
Das weiß ich noch nicht. Ich weiß aber, dass ich es nicht bereue, auf dem Land aufgewachsen zu sein – im Gegensatz zu den Annahmen vieler. Für mich war mein Dorf der schönste und sicherste Platz der Welt.
Niemand kann sich aussuchen, an welchem Ort sie oder er geboren wird. Ich hatte Glück, dass es in einem guten Dorf war, und ich wünschte, dass noch mehr Schwarze Menschen und Menschen of Color so schöne Erinnerungen mit einem Landleben in Deutschland verbinden wie ich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl