Absage eines Uni-Vortrags in Berlin: Die große Heuchelei
Die HU hat einen Vortrag wegen angekündigter Proteste abgesagt. Ernsthaft? Dann können wir die Meinungsfreiheit gleich aus dem Grundgesetz streichen.
C lownfische können ihr Geschlecht wechseln, wenn es für die Fortpflanzung opportun erscheint. Auch andere Fischarten sind trans – ein Phänomen, das schon in den 1980ern Wissenschaftler faszinierte. Wenn Kritiker*innen also meinen, die Biologin Marie Luise Vollbrecht sei mit ihrer Spezialisierung auf Fische ungeeignet, um über Geschlechter in der Tier- und Pflanzenwelt an der Berliner Humboldt-Universität (HU) einen Vortrag zu halten, sind sie auf dem Holzweg.
Doch ohnehin geht es gar nicht um Fragen der Qualifikation oder der wissenschaftlichen Zuständigkeit. Die HU hat Vollbrechts Vortrag im Rahmen der „Langen Nacht der Wissenschaften“ abgesagt, weil Proteste von Aktivist*innen angekündigt waren, die der Biologin wegen eines Beitrags in der Welt Transfeindlichkeit vorwerfen.
Dieses Argument muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit hört also dort auf, wo Proteste angekündigt werden? Können dann auch auch umgekehrt rechte Burschenschaften Vorträge über Transfeindlichkeit oder die rechtliche Bewertung von Abtreibungen mit Protestankündigungen verhindern? Werden Veranstaltungen abgesagt, weil die AfD vor und nach und währenddessen protestieren will?
Was die HU da abliefert, ist große Heuchelei. In Bezug auf Vollbrechts Vortrag hat sie erschrocken zurückgezuckt. Dass sie nun den Vortrag doch noch nachholen will in einem weniger öffentlichen Zusammenhang, macht es nicht besser. Der Schaden ist da und hat bereits die Botschaft verbreitet, dass die Humboldt-Universität kein offener Diskussionsraum ist.
Der Biologin aufgrund woker Bedenken einfach kurzfristig abzusagen, ist einer wissenschaftlichen Einrichtung unwürdig. Eine Universität muss abweichende Meinungen und Kolleg*innen aushalten können, statt sich der Cancel-Forderung anzuschließen. Proteste, auch laute und unangenehme, sind einer Universität zuzumuten. Die im Grundgesetz verankerten Rechte und Freiheiten können nämlich auch von noch so viel Protest nicht einfach weggecancelt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt