
Parteitag der Linken: Habemus Linke
Lässt sich die Linkspartei harmonisch so gut auf Kurs halten, wie sie derzeit erfolgreich unterwegs ist? Analyse eines lebhaften Parteitags.
D ie Inszenierung wirkt etwas pompös. Weißer Rauch steigt auf, rotes Licht flackert und der Bass wabert durch die Messehalle Chemnitz. Rapper Flaiz aus Görlitz ruft in einer ohrenbetäubenden Lautstärke „Alerta, alerta“. Was wie eine Mischung aus Papstwahl und Antifa-Demo klingt, ist der Beginn des Bundesparteitags der Linken am vergangenen Freitagnachmittag.
„Die Linke ist zurück“, ruft die Bundestagsfraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek in ihrer Auftaktrede strahlend in den Saal. „Wir haben das geschafft, woran fast niemand mehr geglaubt hat.“ Es sei „so ein verdammt gutes Gefühl, endlich mal wieder gewonnen zu haben“. Die rund 540 Delegierten jubeln.
Für zwei Tage hat sich die Linkspartei im früheren Karl-Marx-Stadt versammelt, um ihre Wiederauferstehung zu feiern. Der Parteitagstermin war schon im vergangenen Jahr festgelegt worden, als die Linke noch glaubte, sich einer Bundestagswahl diesen September entgegenzittern zu müssen. Nun ist alles anders gekommen: Die Partei hat bei der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar mit 8,8 Prozent ein spektakuläres Comeback geschafft. Und statt der ursprünglich geplanten Bundestagswahl-Programmdiskussion steht jetzt Selbstvergewisserung auf der Tagesordnung.
Einer der neuen Linken ist Emilio. Mit seiner Cousine ist der 17-Jährige in Wollpulli und Jeans als Zuschauer nach Chemnitz gekommen. „Das ist ein sehr nices Feeling hier, die Leute sind alle lieb“, sagt er. Vergangenes Jahr ist Emilio der Partei beigetreten, seit diesem Jahr sitzt er im Kreisvorstand im nordrhein-westfälischen Steinfurt. Er wollte „was machen, weil der Rechtsruck zunimmt“ und findet „das Soziale bei der Linken gut“. Ein Video für Tiktok und Insta wird er mit Co-Parteichefin Ines Schwerdtner heute noch drehen – eines seiner Highlights. Eher zäh findet Emilio die Antragsdebatten. „Manchmal ist es schon ein bisschen langweilig, wenn man nicht Delegierter ist und die ganzen Anträge besprochen werden.“
Das Parteitagsmotto lautet in Chemnitz „Die Hoffnung organisieren“. In Richtung der schwarz-roten Koalition von Friedrich Merz sagt die Vorsitzende Schwerdtner: „Wir sind zurück, und die sollen sich warm anziehen“. Die Linke verstehe sich als „die soziale Opposition“ im Bundestag. „Wir haben in diesem Wahlkampf wirklich unendlich viel gewonnen: an Vertrauen, an Glaubwürdigkeit und an Schlagkraft“, so Schwerdtner, die nach Reichinnek spricht. Jetzt stehe ihre Partei vor einer großen Aufgabe. „Unser Weg zu einer organisierenden Klassenpartei hat gerade erst begonnen“, sagt Schwerdtner. Dazu zähle, die Linke zu einer Partei weiterzuentwickeln, „die wie eine Art Universität für alle ist“. Sie solle eine Partei werden, in der „erfahrene Genoss:innen den Schatz ihres Wissens weitergeben können“ und „viele junge Menschen, die zu uns gekommen sind, eine Perspektive auf eine andere, eine solidarische Gesellschaft entwickeln“.
Seit dem Abgang von Sahra Wagenknecht und ihrem Anhang befindet sich die Linkspartei in einem Transformationsprozess. Noch Ende 2023 mit rund 50.000 Mitgliedern auf einem historischen Tiefstand, zählt sie inzwischen mehr als 112.000 Mitglieder. Sie ist jünger und weiblicher geworden. Zwar legte sie in allen Landesverbänden zu, besonders jedoch im Westen. So verfügt die Linke laut einer für den Parteitag erstellten Erhebung nun über etwa 69.000 Mitglieder in West- und gut 43.000 in Ostdeutschland. Aber wie stabil oder fragil ist der gegenwärtige Aufschwung? Das ist die große Frage.
Ella ist erst 16. „Richtig interessant“ sei das hier, sagt die junge Chemnitzerin. Es ist ihr erster Parteitag, den sie sich anschaut. Aber sie war schon einmal auf einem Bundeskongress der Grünen Jugend. Da sei es ein bisschen freundschaftlicher gewesen, „vielleicht weil es da nicht so große Altersunterschiede gibt“. Trotzdem ist sie guter Dinge. Ellas Clique, mit der sie zum Linken-Parteitag gekommen ist, hat sich ausgestattet mit Linken-Schals oder Jutebeuteln, auf denen „Keine Profite mit der Miete“ steht. Im Januar sind sie alle der Linksjugend beigetreten. Ella findet, dass die Linke von allen Parteien noch am meisten für junge Menschen tut. „Hier in Chemnitz zum Beispiel brauchen wir mehr Orte, wo wir Jugendlichen uns aufhalten können“, sagt sie. Dafür setze sich die Linkspartei ein.
Entscheidend dafür, ob Menschen wie Emilio und Ella nicht nur kurzfristig in der Linken aktiv sein werden, dürfte sein, ob es der Partei gelingt, Lehren aus ihrer vergangenen langen Krisenzeit zu ziehen. Das gilt vor allem für den klassischen linken Hang zur Selbstzerfleischung, dessen Überwindung sich die heutige Parteiführung auf die Fahnen geschrieben hat. Wenn sie von „revolutionärer Freundlichkeit“ spreche, meine sie das ernst, sagt Ines Schwerdtner. Ihr sei es „wichtig, dass wir eine neue Parteikultur entwickeln“. Es gehe „nicht darum, keine Fehler zu machen oder nicht mehr zu streiten, es geht darum, eine Kultur zu entwickeln, die uns nicht mehr zerreißt“. Denn nur eine Partei, die untereinander solidarisch ist, könne glaubhaft vermitteln, für eine solidarische Gesellschaft zu kämpfen.
Erfolgreich hat sich die Parteiführung im Vorfeld darum bemüht, unterschiedliche, auch sich widersprechende Vorstellungen mittels etlicher Kompromissformulierungen und einiger Wortakrobatik unter einen Hut zu bringen. Beim Leitantrag funktioniert das recht gut: Von 211 Änderungsanträgen bleiben mit einigem diplomatischen Geschick nur ein paar wenige übrig. Größere Diskussionen über sie gibt es nicht, das sieht die Geschäftsordnung nicht vor. Es ist ein eingeübtes Ritual: Eine Minute gibt es für die Einbringung eines Änderungsantrags und jeweils noch eine Minute für eine Gegen- und eine Fürrede. Dann wird abgestimmt. Platz für Diskussionen ist nicht vorgesehen.
Letztlich bekommt nur ein einziger Änderungsantrag eine Mehrheit: Rausgestrichen aus dem Leitantrag wird die ambitionierte Zielstellung, innerhalb von vier Jahren auf 150.000 Mitglieder anwachsen zu wollen. Abschließend wird der Leitantrag mit einer großen Mehrheit und nur wenigen Gegenstimmen beschlossen. Die Linkspartei nehme „eine zentrale Rolle im Protest gegen Aufrüstung, Sozialabbau, Klimazerstörung und Rechtsruck ein“, ist in dem Beschluss zu lesen. Sie müsse „die Zuversicht stärken, dass eine bessere Welt möglich ist“.
Während die Delegierten im Saal routiniert ihrer Antragsberatungspflicht nachkommen, spielt Paul Kölbel aus Rudolstadt in Thüringen auf dem Platz vor der Messehalle in der Sonne Tischtennis. Er ist Mitglied des Orga-Teams. Hinter ihm liest auf einer kleinen Bühne ein junger Mann aus einem Buch vor, rund zehn Leute hören zu. Daneben gibt es einen Stand der Linken-Arbeitsgemeinschaft Cuba Sí mit Flugblättern und Getränken. In einem kleinen Vortragszelt sprechen rund 20 Leute über das NS-Gedenken in Chemnitz. Außer ihnen, Kölbel, seinem Spielpartner und ein paar Leuten in Liegestühlen ist es ansonsten ziemlich leer. Organisiert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sollte hier eigentlich ein kleines „Festival“ für Interessierte, vor allem die vielen Neuen in der Partei stattfinden. Keine schlechte Idee. Aber geklappt hat es nicht so ganz.

Im Saal zeigt sich am frühen Freitagabend, was das Problem ist, hier einfach nur möglichst alles unter einen Hut bringen zu wollen. Auf der Tagesordnung steht ein Thema, das ursprünglich identitätsstiftend für die Linke war: die Friedenspolitik. Was bedeutet es angesichts einer komplizierter gewordenen Weltlage heute noch, sich als „Friedenspartei“ zu verstehen? Darüber gehen die Auffassungen weit auseinander. Trotzdem ist es dem Parteivorstand gelungen, aus vier Anträgen einen einzigen mit dem Titel „Ohne Wenn und Aber: Sage Nein zu Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit!“ zu machen.
„Gerade jetzt braucht es eine klare und eindeutige Haltung“, heißt es darin. Doch genau daran fehlt es, weil es keine gemeinsame Einschätzung gibt, ob und welche Gefahr vom russischen Imperialismus ausgeht. Also wird sich darum herumgedrückt. Stattdessen heißt es nur: „Mit der Behauptung, Russland könne bald Nato-Territorium angreifen, werden bewusst Ängste geschürt.“ Es wird nicht einmal benannt, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Auch die Forderung nach einem russischen Rückzug fehlt. Stattdessen wird nur beklagt, dass die EU keinerlei diplomatische Initiativen ergriffen habe, „um den Krieg zu beenden und wieder zu einer eigenständigen Entspannungspolitik in Europa zu gelangen“. Die Solidarität mit der Ukraine beschränkt sich auf die Forderung nach einem Schuldenschnitt.
Kritiklos passiert der Antrag den Parteitag nicht. „Ob es uns gefällt oder nicht: Die Welt verändert sich ziemlich rasch“, sagt der Bremer Landessprecher Christoph Spehr. „Das, was in dem Antrag vorgestellt wird, konnte man früher mal glauben.“ Von einer „Realitätsverweigerung“ spricht die Wiesbadener Stadträtin Brigitte Forßbohm. Sie finde „es schon ein ziemliches Kunststück, es fertigzubringen, sich für Frieden auszusprechen und dabei den schlimmsten Krieg, der in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine stattfindet, so zu verharmlosen“. Russland setze unverdrossen auf einen militärischen Sieg. „Also bitte Leute, kommt doch mal auf den Boden der Tatsachen“, fordert sie.
Er wisse, dass in dem Antrag „Sätze drinstehen, die nicht von dem ganzen Parteitag geteilt werden“, räumt Parteivorstandsmitglied Wulf Gallert ein. Doch bei aller Kritik werbe er für die Annahme, weil es wichtig sei, „eine ganz klare Alternative zur militaristischen Debatte in der Bundesrepublik“ zu formulieren. Mit einer breiten Mehrheit folgen ihm die Delegierten, auch um des lieben innerparteilichen Friedens willen.
Als am Freitagabend langsam die Dämmerung einsetzt, füllt sich der „Festival“-Platz dann doch noch. Die Delegierten strömen aus dem Tagungssaal auf die Bierbänke. Inzwischen ist es etwas kalt geworden. Doch alle sind guter Laune. Die bessert sich noch weiter, als Schwerdtner mit ihrem Co-Vorsitzender Jan van Aken und Reichinnek mit ihrem männlichen Pendant Sören Pellmann gemeinsam die Bühne betreten.
Der Moderator Honey Balecta, ein Content Creator und „Linksfluencer“ aus München, lobt das Linken-Führungsquartett über den grünen Klee. Dann befragt er van Aken nach der Kanzlerwahlklatsche für Friedrich Merz am vergangenen Dienstag. „Der Typ kann das nicht“, sagt van Aken. Der habe ja nicht mal seine Koalition im Griff, wie wolle er denn da das Land vereinen? „Der Typ spaltet, wo er nur hinkommt.“
Zweimal an einem Tag Nein zu Merz sagen
Schwerdtner und Pellmann werden dazu befragt, warum die Linksfraktion zugestimmt hat, dass der zweite Wahlgang für Merz noch am gleichen Tag stattfinden kann. „Wir standen vor der Frage, ob wir die Chaotisierung des politischen Alltags hinnehmen sollten und dass die Faschisten von der AfD uns über drei Tage vor sich hertreiben, oder ob wir für klare Verhältnisse sorgen“, antwortet Pellmann. „Ich wollte an einem Tag zweimal Nein zu Friedrich Merz sagen“, frotzelt Schwerdtner.
Auch Reichinnek, die sich vom Cuba-Sí-Stand inzwischen den zweiten Mojito auf die Bühne hat reichen lassen, teilt gegen Merz aus: „Wenn so ein Hardliner wie Dobrindt jetzt das Innenministerium übernehmen darf“, dann sei ja klar, wohin der neue Kanzler dieses Land lenken wolle, „und das ist das Problem“. Aber Linke wüssten ja, „dass man sich im Kampf gegen Nazis halt auf Staat und Polizei nicht verlassen kann“, fügt sie hinzu. Das sei nun „keine neue Erkenntnis“. Sie brauche auch keinen Verfassungsschutz um zu wissen, dass die AfD rechtsextrem sei, deshalb müsse „diese verdammte Partei“ endlich verboten werden.
Auch für Reichinnek ist der Applaus erwartungsgemäß groß. Nachdem die Gesprächsrunde der vier beendet ist, bleiben sie alle noch lange auf der Bühne. Geduldig stehen sie für Gruppenfotos mit Gästen und Fans bereit. Der Andrang ist groß, das Quartett umgibt eine Aura wie bei Popstars.
Am Samstag trifft sich die Linken-Politikerin Caren Lay vor der Halle mit einer Gruppe von Influencer:innen. Sie wollen mit ihr ein Video drehen und schlagen vor, ein paar Szenen vor dem „Nischel“ aufzunehmen, dem großen Karl-Marx-Monument in der Chemnitzer Innenstadt. Lay will sich das noch mal überlegen. In der Bundestagsfraktion kümmert sie sich um die Mieten- und Wohnungspolitik, außerdem ist sie für Clubkultur zuständig. Nebenbei hat sie auf Tiktok eine zweite Karriere gemacht. „Heidi war die Pionierin, ich bin gefolgt“, erzählt Lay. Im vergangenen Oktober sorgte sie mit einem Video für Aufsehen, für das sie den Song „Bauch Beine Po“ der Rapperin Shirin David emanzipatorisch umdichtete.
Erst vor einem halben Jahr hat die Linke erstmals Influencer:innen zu einem Parteitag eingeladen. Eine davon ist Klara Simon. Die 22-jährige Berlinerin mit roten Locken postet auf Tiktok zu Feminismus und Politik. Eine andere, Laura Gumo aus Bielefeld, trägt ein weißes T-Shirt und sonst viel Schwarz, ihr Look geht in Richtung Gothic. Um die Schultern trägt sie eine schwarz gemusterte Kufiyah. Am Morgen hat sie ein Video gepostet, in dem sie sich zusammen mit dem linken Bundestagsabgeordneten Ferat Koçak und anderen Genoss:innen mit den Menschen in Palästina solidarisiert.
Der dritte Influencer mit dem alias @its.daniel.brln ist schon etwas älter, nämlich 40. Er hat 20 Jahre lang für eine Medienagentur gearbeitet und auf Tiktok über 230.000 Follower:innen. Beim Parteitag hat er mit dem Bundestagsvizepräsidenten Bodo Ramelow ein Video aufgenommen, in dem er mit ihm über die SED-Vergangenheit der Partei spricht. Alle drei Influencer:innen sind Mitglieder der Partei. Sie posten privat, verbreiten aber auch politische Inhalte der Linkspartei.
Am Samstagnachmittag wird es noch mal spannend. Die linksjugend.solid und der Studierendenverband Die Linke.SDS fordern den Rücktritt der linken Minister:innen und Senator:innen in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, die im Bundesrat für das von Union, SPD und Grünen ausgehandelte milliardenschwere Finanzpaket und die Aufhebung der Schuldenbremse fürs Militärische gestimmt haben.
„Wer so abstimmt, zerstört die Geschlossenheit der Partei“, kritisiert ein Antragssteller. Parteichefin Ines Schwerdtner zeigt Verständnis für den Unmut, bittet aber darum, an Einzelnen kein Exempel zu statuieren. „Wir haben ein verbindliches Verfahren beschlossen, dass es nie wieder passieren kann, dass Landesregierungen anders abstimmen als wir im Bundestag“, sagt sie. Der Antrag wird nur knapp abgelehnt, mit 219 zu 192 Stimmen.
Heftige Diskussionen hatte es hinter den Kulissen über mehrere Anträge zum Gazakrieg gegeben. Auch hier gelingt es der Parteiführung, die internen Differenzen mit der Verständigung auf einen gemeinsamen Antrag zu überbrücken. Er trägt den Titel „Vertreibung und Hungersnot in Gaza stoppen“. Sein zentraler Satz lautet: „Unsere Solidarität gilt den Menschen in Israel, Palästina und weltweit, die für ein sofortiges Ende des Krieges und ein Ende der Besatzung kämpfen und sich gegen die ultrarechte Netanjahu-Regierung, die Hamas und die globalen Profiteure wenden.“ Co-Parteichef van Aken verkündet selbst am Mikrofon die Verständigung und wirbt um Zustimmung. Ohne Diskussion wird der Antrag mit sehr großer Mehrheit angenommen.
Ein weiterer Antrag fordert, sich die Antisemitismus-Definition der „Jerusalemer Erklärung“ zu eigen zu machen, die 2020 von Wissenschaftler:innen und Antisemitismusexpert:innen aufgestellt wurde. Sie ist allerdings umstritten, weil ihre Definition enger ist als die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), an der sich beispielsweise der Bundestag orientiert. Der Antrag steht nicht das erste Mal auf dem Programm eines Linksparteitags. Bereits im Oktober 2024 gab es ihn in Halle, er wurde dort jedoch an den Parteivorstand überwiesen, der sich damit nicht weiter beschäftigte. Das gleiche Verfahren schlägt die Antragskommission jetzt wieder vor. Doch damit geben sich die Antragsteller:innen diesmal nicht mehr zufrieden – und auch eine Mehrheit des Parteitags nicht.
Also sieht sich van Aken gezwungen, noch mal kurz vor Schluss ans Mikrofon zu treten. Nachdem Aussitzen diesmal nicht geklappt hat, plädiert er dafür, den Antrag abzulehnen. „Das ist eine wissenschaftliche Debatte“, die Partei solle ihr nicht vorgreifen. Doch das Argument verfängt nicht. „Das ist keine akademische Frage, sondern eine konkrete Frage für viele, die davon betroffen sind“, kontert die Europa-Abgeordnete Özlem Alev Demirel. Denn mit dem Antisemitismusvorwurf würden Kritiker:innen der israelischen Regierung mundtot gemacht. Mit 213 zu 181 wird der Antrag angenommen.
Es ist eine Niederlage für die Parteispitze. Zumindest nach außen hin trägt sie es mit Fassung. „Das ist halt Demokratie und völlig in Ordnung“, sagt van Aken. „Ich hätte mir an der Frage eher eine Debatte als eine Abstimmung gewünscht, aber wenn die Mehrheit das anders sieht, bin ich damit fein.“
Andere sind das weniger. „Wie kann man etwas beschließen, was eine Angelegenheit von Wissenschaft & Analyse ist?“, empört sich Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow auf X. Das sei ein „fataler Beschluss“, twittert die Thüringer Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss. Eine Einschätzung, der sich auch Ramelows Vorgängerin Petra Pau anschließt. Die proklamierte neue Harmonie innerhalb der Linkspartei, sie ist brüchig.
Die Bochumer Bundestagsabgeordnete Cansın Köktürk freut sich über die gefassten Beschlüsse. „Die mehrheitlich beschlossenen Anträge zum Thema Palästina sind ein starkes Signal und in meinen Augen eine Selbstverständlichkeit als Menschenrechtspartei“, sagt sie der taz. „Die Linke spricht sich gemeinsam mit ihren Mitgliedern somit als einzige Partei im Bundestag offen dafür aus, Waffenlieferungen an Israel endlich zu beenden und das Schweigen über das Leid in Gaza zu brechen.“
Bundesgeschäftsführer Jannis Ehling schließt den Parteitag versöhnlich und bedankt sich für die gute Atmosphäre auf dem Parteitag. Am Ende seiner Rede erklingt die „Internationale“. Alle Delegierten stehen auf und stimmen die alte Hymne der Arbeiterbewegung an. Etliche recken die Faust. Als die Musik nach der ersten Strophe endet, singen immer noch viele weiter bis zur dritten Strophe und der Sonne, die ohne Unterlass scheint. Es ist ein wenig wie nach einem Film, wenn der Abspann läuft.
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