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Verlierer der Wahlrechtsreform: Siegerin muss draußen bleiben
Auch wenn die SPD am nächsten Sonntag beide Bremer Wahlkreise gewinnen sollte, wird eine der beiden Kandidat*innen nicht in den Bundestag kommen.
B remen, das heißt SPD. War immer so! Und weil das so ist, lehnen wir uns ein Stück weit aus dem Fenster und wagen einen Blick in die nahe Zukunft. Und da sehen wir – hurra, Genossen! – eine halbwegs fröhliche Wahlparty der SPD Bremen am kommenden Sonntag: Beide Bremer Direktkandidaten haben ihre Wahlkreise geholt! Ein bisschen spekulativ ist das, zugegeben: Länderumfragen gibt es nicht vor der Bundestagswahl. Aber selbst in schlechten Jahren gab es in dem aus Bremen und Bremerhaven bestehenden Zwei-Städte-Staat immer zwei Direktmandate.
Auf der kommenden Wahlparty freut man sich und lobt den guten Wahlkampf. Und natürlich gibt es fürs Plakatekleben und das Ausharren an kalten Wahlkampfständen ein großes Dankeschön von den beiden Kandidaten, dem siegreichen Uwe Schmidt, Wahlkreis 55 (Bremerhaven, Bremen-Nord und West), und der siegreichen Ulrike Hiller, Wahlkreis 54, Bremen-Stadt.
Aber, wenn bis zum 15. März die neuen Bundestagsmitglieder zu ihrer ersten Sitzung zusammenkommen, wird Hiller trotz Wahlkreissieg nicht dabei sein: Für sie ist kein Platz im Bundestag. Der Bremer Wahlkreis ist kein gemachtes Nest mehr; der Bremer Wahlkreis ist eine Sackgasse.
Das größte Parlament
Schuld ist das neue Wahlrecht. 2023 hat sich die Ampel-Regierung auf eine Reform geeinigt, endlich, endlich den Bundestag wieder auf Normalgröße zurechtzustutzen. Deutschland hat laut Bundeszentrale für politische Bildung mit aktuell 733 Bundestagsabgeordneten das größte Parlament aller Demokratien weltweit.
Schuld sind die Überhangmandate: direkt mit Hilfe der Erstimmen gewonnene Wahlkreise, die vom Zweitstimmenergebnis der jeweiligen Partei nicht gedeckt sind. Das bestimmt, wie viele Sitze jede Partei bekommt. Weil kleine Parteien seit den Neunzigern Bedeutung und Wählerstimmen gewannen, aber die Wahlkreise meist weiter an Union oder SPD gingen, hat sich die Zahl der Überhangmandate seit 1994 immer weiter erhöht.
Um eine Verzerrung der Mehrheitsverhältnisse zu vermeiden, wurden ab 2013 zudem Ausgleichsmandate eingeführt, für alle anderen Parteien. Die Zahl der Abgeordneten schoss weiter in die Höhe, der Bundestag wurde teurer, der Platz immer enger, die parlamentarische Arbeit durch mehr Abstimmungsbedarf kompliziert.
In Zukunft soll der Bundestag strikt auf 630 Abgeordnete begrenzt sein – 100 weniger als heute. Wenn es für eine Partei auf Landesebene mehr Direktmandate gibt, als ihr nach Zweitstimmenergebnis zustehen, dann werden zuerst die Wahlkreise mit den höchsten Siegen bedient. Die anderen fallen hintenüber.
Konkurrent aus der eigenen Partei
Deshalb tritt Ulrike Hiller nicht nur gegen die starke Kirsten Kappert-Gonther von den Grünen und gegen Thomas Röwekamp von der CDU in ihrem eigenen Wahlkreis Bremen I an, sondern eigentlich gegen den traditionell uneinholbaren Parteifreund aus Bremerhaven.
Ihr Wahlkreis Bremen I ist für die SPD eine sichere Bank, aber in Bremen II mit Bremerhaven, Bremen-Nord und Bremen-West, da vergeben die Menschen ihre Erststimmen noch konzentrierter an die SPD. Bei bisher jeder Wahl bekamen die Direktkandidat*innen hier mindestens vier Prozentpunkte mehr als die Kandidat*innen in Bremen-Stadt.
Natürlich halten sich beide Seiten fein zurück, diese Konkurrenz nach außen hin zu kultivieren. Sie schätze Uwe Schmidt, sagt Hiller. Er arbeite gut und kollegial mit Ulrike Hiller zusammen, sagt Schmidt. Gemeinsam werde man, das sagen beide, dafür kämpfen, dass es zwei Bremer Mandate für den Bundestag gibt.
Möglich ist auch das. Sebastian Schmugler aus der Geschäftsstelle des SPD-Landesverbands spielt in seiner Mittagspause gern ein paar Was-wäre-wenn-Gedankenspiele auf dem „Mandatsrechner“, einer Webseite, die spröde wirkt, als käme sie direkt aus den Neunzigerjahren. Nur mal angenommen, rechnet Schmugler vor, das Bremer Landesergebnis wäre so gut wie bei der letzten Bundestagswahl, dann müsste die Partei auf Bundesebene nur etwa 18 Prozent bekommen, damit beide gewonnenen Bremer Wahlkreise zu einem Mandat führen. „Das ist nicht übermäßig wahrscheinlich, aber auch weit weg von unmöglich“, sagt er.
Dass es für Bremer SPD-Verhältnisse kein ganz einfacher Wahlkampf werden würde, war ohnehin schon lange klar: Olaf Scholz an der Spitze bedeutet aktuell mehr Hypothek als Kanzler-Vorteil. Und: Hiller als Kandidatin ist neu. Denn die bisherige Bundestagsabgeordnete Sarah Ryglewski hatte im Sommer überraschend angekündigt, nicht mehr anzutreten.
Schlechte Chancen
Ryglewski, Anfang 40, ist nicht unbedingt berühmt, aber doch ziemlich einflussreich als Abgeordnete: Seit fast zehn Jahren sitzt sie im Bundestag, ab 2019 war sie Parlamentarische Staatssekretärin bei Finanzminister Olaf Scholz – mit ihm ist sie 2021 auch ins Bundeskanzleramt gewechselt, als Staatsministerin. Und auch, wenn die SPD öffentlich nicht daran glaubt: Spekuliert wurde schon, ob ihr Verzicht auf eine erneute Kandidatur nicht auch mit den schlechten Chancen einer Wiederwahl zusammenhing.
Dass die SPD unter diesen Umständen eine Kandidatin gefunden hat, die die großen Fußstapfen ausfüllen kann, ist überraschend. Ulrike Hiller kann eine klassische SPD-Geschichte erzählen von Aufstieg durch Bildung – und sie bringt eine Tonne politischer Erfahrung mit. Fast acht Jahre saß sie für die SPD in der Bremer Bürgerschaft und sieben weitere Jahre war sie „Bevollmächtigte Bremens beim Bund und für Europa“ – eine Art Botschafteramt im Rang einer Ministerin, die Bremens Interessen in Berlin und Brüssel vertritt.
Ausgeschieden aus der aktiven Politik ist sie aus persönlicher Loyalität: 2019 wurde ihr damaliger Ehemann Andreas Bovenschulte (SPD) Bürgermeister in Bremen und irgendwie war klar: Ein Ehepaar in zwei so zentralen Funktionen für den Zwei-Städte-Staat, das ging nicht.
Nun also Wahlkampf. Hiller tingelt diese Winterwochen durch die Stadt, von Podiumsdiskussion zu Fototermin, vom Wahlkampfstand mit Luftballons zur Tour durch die Stadtteile. So wie an diesem Donnerstag Ende Januar, als sie in Tenever, am äußersten Ostrand der Stadt, die Institutionen abklappert: Mütterzentrum, Frauengesundheitstreff, Secondhandladen.
Keine schlechte Voraussetzung
„Ich mag Wahlkampf“, sagt Hiller auf dem Weg zwischen zwei Einrichtungen. Es ist eigentlich schwer vorzustellen in dieser verkürzten Vorwahlzeit, in der ein Termin in den nächsten übergeht, schnell, schnell, weiter geht’s. Aber sich zu sagen, dass man Wahlkampf mag, ist sicher keine schlechte Voraussetzung.
Hiller duzt, lächelt, gibt allen die Hand und manchen ein High Five, verteilt Komplimente – und macht sich bekannt. „Wisst ihr eigentlich, wer ich bin?“, fragt sie die Frauen im Deutschkurs. „Das können wir gerne hören“, sagt eine von ihnen höflich. Hiller erzählt, wie sie selbst vor 30 Jahren in Tenever als Sozialarbeiterin tätig war, was sie in der Politik gemacht hat, wie toll hier alles ist – und dass man nicht die AfD wählen dürfe. Heraus geht sie aus dem Gespräch mit einem weiteren Wahlkampftermin im Sprachkurs, ein paar Tage später.
Viele hier im Raum dürfen wahrscheinlich nicht wählen; und auch von denen, die wählen könnten, tun es in Tenever viele nicht: Die Wahlbeteiligung liegt bei unter 50 Prozent. Wer streng nach Effizienz ginge, würde in diesen kurzen Wahlkampf vielleicht andere Zielgruppen ansprechen. „Aber das ist doch pervers, nur zu denken, wer mir was bringt“, sagt Hiller später.
Dass es schwierig werden könnte für die SPD-Frau, ist bei vielen noch nicht angekommen. Nicht bei den Sprachkurs-Teilnehmerinnen und den Verkäuferinnen vor Ort – sie kennen weder Hiller noch ihre Vorgängerin. Aber auch nicht bei den Projektleiterinnen und Stadtteilpolitikern. Der Quartiersservice gegen Vermüllung wurde gerade eingespart, es fehlen Bundesmittel. „Da solltest du dich nach der Wahl mal kümmern“, sagt Quartiersmanager Aykut Tasan. Man hoffe, dass die Probleme von Tenever auch auf Bundesebene gesehen würden, sagt ein Mitglied des Stadtteilparlaments. Und die Leiterin vom Frauengesundheitstreff fragt schon mal an, ob nicht wieder eine Frauengruppe nach Berlin eingeladen werden könnte. In den Köpfen ist klar: Die SPD-Kandidatin kommt ja rein.
AfD oder SPD
Hiller klärt auf, wenn auch etwas euphemistisch: „So ganz sicher“ sei es noch gar nicht, dass sie in den Bundestag einziehe. Dass es nach der Wahlrechtsreform weniger Sitze fürs Land Bremen gebe. Dass nach den Hochrechnungen einer an Uwe Schmidt gehe, einer an die CDU, einer an die Grünen und der letzte – tja, der ginge eben an die AfD oder die SPD. An sie.
Das echte Wahlrecht ist komplexer, die Zahl der Sitze pro Land ist nicht festgeschrieben, ein solches Entweder-oder gibt es nicht. Aber Ulrike Hiller als lebende Bremer Brandmauer, das ist eine kluge Geschichte, um die eigenen Reihen zu motivieren – und vielleicht auch sich selbst für diesen Wahlkampf auf schwerem Posten.
Besonders die Unionsparteien hatten gegen die Wahlreform in ihrer jetzigen Form protestiert. 23 Überhangmandate hatten sie im aktuellen Bundestag, die SPD 10. Ausgleichsmandate gingen an alle Parteien. Betroffen sind viele Bundesländer: In Niedersachsen, Hessen, in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg ist es wahrscheinlich, dass SPD-Direktmandate wegfallen; Baden-Württemberg und Bayern gehören zu den Ländern, in denen CDU und CSU eventuell nicht alle gewonnenen Wahlkreise besetzen können.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dass die SPD für das neue Wahlrecht gestimmt habe, obwohl es auch für viele SPD-Abgeordnete das Bundestags-Aus bedeute, sei „das Drama einer staatstragenden Partei“, findet Schmugler. Auch mal was zum eigenen Nachteil machen, „erst der Staat, dann die Köpfe“. Der stetig wachsende Bundestag sei jedenfalls nicht mehr zu vermitteln gewesen.
Kritischer sieht Sarah Ryglewski, die aktuelle Bundestagsabgeordnete, das neue Wahlrecht. „Dass die Situation entstehen kann, dass ein:e Wahlkreisgewinner:in das Mandat nicht zugeteilt bekommt, halte ich für einen Fehler“, meint sie. Was wegfalle, das sei die „besondere Verantwortung“ von Wahlkreisabgeordneten gegenüber ihren Wahlkreisen.
Ulrike Hiller schüttelt noch ein paar Hände in Tenever, dann geht es weiter, ein Fototermin in der Bürgerschaft. „Am 24. weiß ich, ob ich reingewählt bin“, sagt sie noch zu den Verkäuferinnen im Secondhandshop, „oder ob ich mein altes Leben wieder zurück habe.“
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