Niederlage für Baschar al-Assad: Zusammenbruch in Aleppo
Syriens zweitgrößte Stadt ist überraschend schnell und weitgehend kampflos an die Rebellen gefallen. Für das Regime in Damaskus ist es die größte Niederlage in 13 Jahren Bürgerkrieg.
Fotos und Videos auf sozialen Netzwerken zeigten am Freitagabend und in der Nacht zu Samstag, wie die grün-weiß-schwarz Flagge des „Freien Syrien“ an einer historischen Stätte nach der anderen gehisst oder in die Kameras gehalten wird: an zentralen Plätzen, an der Universität Aleppo, vor dem Gefängnis, dessen Tore geöffnet wurden, am Polizeihauptquartier, im Gouverneurssitz und schließlich vor der mächtigen Zitadelle, die festungsgleich auf einem Hügel über der Altstadt thront und deren Geschichte mehrere Jahrtausende zurückgeht. Assad-Denkmäler wurden gestürzt und Portraits des Diktators und des iranischen Revolutionsführers Ajatollah Khamanei, Assads wichtigstem Verbündeten neben Putin, von Wänden gerissen.
„In den Reihen der kriminellen Regimekräfte hat es einen weitgehenden Zusammenbruch gegeben“ erklärte die Kommandozentrale der Rebellen. „Unsere Kräfte haben Mut und Überlegenheit im Feld bewiesen. Wir bestätigen die Fortsetzung unserer Operationen, um die Aggression der Invasoren von allen befreiten Gebieten zurückzuschlagen“. In einer politischen Erklärung betonten die Rebellen, sie hätten nach „jahrelangen Greueltaten Assads und seine verbündeten Milizen“ die Operation „Aggression Zurückschlagen“ gestartet, „um Zivilisten zu schützen“.
Viele emotionale Szenen sind dokumentiert, auf denen die jungen Rebellenkämpfer jetzt in frisch eroberten Dörfern im Umland von Aleppo ihre Familienangehörigen wiedertreffen, nach acht Jahren Verbannung. Aleppo war eines der Zentren des friedlichen Aufstands gegen die Assad-Diktatur 2011 gewesen, als Syrer in Anlehnung an den „Arabischen Frühling“ in Tunesien, Ägypten und Libyen landesweit auf die Straße gingen, um auch in ihrem Land Freiheit und ein Ende der Gewaltherrschaft zu fordern. Das Regime walzte den Aufstand blutig nieder, auch als seine Protagonisten zu den Waffen griffen. Russland und Iran halfen Assad mit Luftwaffe, Spezialkräften und Milizen, es kamen Fassbomben und Giftgas zum Einsatz, von Aufständischen gehaltene Städte und Stadtviertel wurden belagert, ausgehungert und ständig bombardiert.
Ost-Aleppo: Ein Brennpunkt des Syrien-Kriegs
Ost-Aleppo war 2016 einer der Brennpunkte dieses Krieges, der Hunderttausende Tote forderte und Millionen von Menschen in die Flucht trieb. Im Dezember 2016 mussten die letzten Rebellenkämpfer und die sie unterstützenden Bewohner Ost-Aleppo verlassen, als Teil eines Deals – mitten im Winter ohne Versorgung und Perspektive wurden sie in Bussen aus der Truümmerlandschaft ihrer Heimatstadt in die von Rebellen gehaltene Provinz Idlib weiter westlich gebracht.
Viele schworen damals, sie würden irgendwann wieder nach Aleppo zurückkehren. Acht Jahre später ist es offenbar soweit. Diejenigen, die damals als Kinder den Horror des Krieges überlebten, sind jetzt junge Erwachsene, und sie haben Rache geschworen.
In den Jahren nach 2016 wurden immer mehr Rebellengebiete in Syrien vom Assad-Regime zurückerobert und die dortigen Kämpfer im Rahmen sogenannter „Versöhnungsabkommen“ nach Idlib gebracht. Die Rebellenenklave Idlib wurde also zum Sammelbecken von immer mehr bewaffneten Oppositionsgruppen – und immer mehr Flüchtlinge aus dem Assad-Gebiet zogen dorthin. Bei einem weiteren syrisch-russischen Feldzug 2019/20 wurde ihre territoriale Ausdehnung deutlich verkleinert. Seitdem hielt ein zwischen Russland und der Türkei ausgehandelter Waffenstillstand am Boden, aber aus der Luft ist Idlib immer wieder unter Beschuss russischer und syrischer Kampfjets geraten, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.
Rund drei Millionen Menschen leben in der Enklave zusammengedrängt auf dichtem Raum, viele in einfachen Zeltlagern mit unsicherer Versorgung, da internationale humanitäre Hilfe aufgrund der Blockade des syrischen Regimes und russischen Störmanövern im UN-Sicherheitsrat nur unzureichend über die wenigen geöffneten Grenzübergänge aus der Türkei in das Gebiet kommt. Die Covid-19-Pandemie 2020-22 und das schwere Erdbeben von 2023 verschärften die humanitäre Lage zusätzlich. 2024 gab es dann eine deutliche Zunahme von Luftangriffen Assads und seiner Verbündeten auf Idblis Zivilbevölkerung, in Reaktion auf eine deutliche Zunahme israelischer Angriffe auf von Iran genutzte militärische Einrichtungen in Syriens Regierungsgebiet.
Die Schwächung Irans und die Konzentration Russlands auf seinen Krieg gegen die Ukraine haben nun offensichtlich die Bereitschaft dieser beiden Länder verringert, Syriens Diktator bei erneuter Bedrängnis auszuhelfen. Die in Idlib tonangebende Rebellengruppe HTS (Hayat Tahrir al-Sham) hingegen hat sich in den vergangenen Jahren systematisch und sorgfältig neu politisch und militärisch aufgestellt. Sie hat sich von früheren Verbindungen zu islamistischen Al-Qaida-Netzwerken gelöst, eine eigene Staatsstruktur namens SSG (Syria Salvation Government) zur Administration ihrer Gebiete und als Ansprechpartner internationaler Hilfswerke gegründet und ein gemeinsames Militärkommando mit anderen bewaffneten Gruppen aufgebaut, das nun die Offensive gegen Assads Truppen führt.
HTS ist keine Marionette der Türkei
Anders als vielfach dargestellt ist die HTS keine Marionette der Türkei. Die Türkei ist im HTS-Gebiet nicht direkt präsent, anders als weiter nördlich direkt an der syrisch-türkischen Grenze, wo ihre Armee zusammen mit der pro-türkischen Syrian National Army (SNA) eine Pufferzone gegen syrische Kurdengebiete kontrolliert.
Historisch gesehen ist die SNA zwar die Nachfolgeorganisation der ersten demokratischen Rebellenkoalition gegen Assad, der FSA (Free Syrian Army) aus Armeedeserteuren, während die HTS Nachfolgeorganisation islamistischer Gruppen wie etwa die zum al-Qaida-Netzwerk gezählte al-Nusra-Front ist, die damals gegen die Demokratiebewegung auftrat. Diese Spaltungen schwächen und spalten den Widerstand gegen Assad weiterhin. Aber die historischen Grabenkämpfe zählen für junge Kämpfer immer weniger, und demokratische Kräfte haben es heute im HTS-Gebiet Syriens zuweilen einfacher als unter direkter Kontrolle der türkischen Armee im SNA-Gebiet. Geeint werden sie ohnehin alle durch den Wunsch nach einem Sturz des Assad-Regimes, und das erscheint jetzt in greifbarer Nähe.
Ein neuer Kriegsausbruch wurde von Beobachtern seit langem erwartet, aber das Ausmaß des HTS-geführten Rebellenvorstoßes und die Wucht ihres Erfolges hat alle überrascht. Die Rebellenoffensive begann am Mittwoch 27. November, lokalen Berichten zufolge als Reaktion auf einen Luftangriff auf eine Schule im Dorf Ariha, bei dem 15 Kinder getötet oder verletzt wurden. Aber es war eine geplante, keine spontane Operation. Schon nach wenigen Stunden meldeten die Rebellen die Einnahme einer der wichtigsten Militärbasen der Regierungsarmee westlich von Aleppo, das Hauptquartier der 46. Armeedivision, und die Tötung des höchstrangigen iranischen Revolutionsgardenkommandeurs in Syrien, General Kiyomarth Porhashmi; iranische Medien bestätigten seinen Tod und die Überführung der Leiche in die Heimat.
Danach gab es offenbar kaum noch Widerstand gegen den Vormarsch der Rebellen. Sie eroberten immer mehr Dörfer und standen am Donnerstagabend bereits am Rande der Stadt Aleppo. Zugleich schnitten sie die wichtige Autobahnverbindung ab, die Aleppo mit dem Rest des syrischen Regimegebietes verbindet, und eroberten die strategisch wichtige Stadt Sarakeb weiter südlich. In der Folge rückten Rebellenkolonnen in ein Stadtviertel Aleppos nach dem anderen ein und brachten die Millionenstadt kampflos unter ihre Kontrolle. Sie treten deutlich professioneller auf als vor 2016 und sind viel besser ausgerüstet und organisiert als früher.
Syriens Regierung hat dem kaum etwas entgegenzusetzen. Armeeeinheiten reagierten zunächst mit massivem Beschuss, aber zogen sich schnell weiträumig zurück, oft unter Hinterlassung gigantischer Mengen von Militärgerät, das den Rebellen nun in die Hände gefallen ist. Iran hält still. Befürchtete massive Gegenschläge Russlands hat es bis Samstagmittag nicht gegeben, mit Ausnahme von Luftangriffen auf zivile Ziele in der Stadt Idlib und einigen anderen Orten. Einigen Berichten zufolge zieht sich Russland geräuschlos aus dieser Region Syriens zurück. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte am Freitag, man habe die syrische Regierung aufgefordert, die Ordnung wiederherzustellen – eine elegante Art, auszudrücken, dass man selbst dafür nichts zu tun gedenkt. Am wichtigsten für Russlands Machtanspruch in Syrien sind die Militärbasen am Mittelmeer, nicht Aleppo. Am Samstag Nachmittag soll allerdings ein zentraler Platz in Aleppo bombardiert worden sein, auf dem zuvor Rebellen ihren Sieg gefeiert hatten.
Wer hat in Damaskus überhaupt noch die Macht?
Wer in Syriens Hauptstadt Damaskus überhaupt noch die Macht hat, ist zunehmend unklar. Syriens Diktator Baschar al-Assad flog bereits am Mittwoch nach Moskau und hat sich seitdem weder zu Wort gemeldet noch die Rückreise angetreten. Unbestätigten Berichten zufolge soll ihm seine Familie bereits nachgefolgt sein. Das Ende des Assad-Regimes könnte schneller eintreten, als es irgendjemand für möglich hielt.
In diesem Fall dürfte es eine Ausweitung von Machtkämpfen in Syrien geben. Am Freitag verkündeten die pro-türkischen syrischen SNA-Rebellen im Norden des Landes, auch sie würden jetzt zu den Waffen greifen, in einer eigenen Operation „Morgenröte der Freiheit“. Ihr Hauptfeind ist bisher die syrische Kurdenguerilla YPG, die Syriens Nordosten beherrscht und ein faktisches Stillhalteabkommen mit dem Assad-Regime pflegt. Am Samstag Mittag wurde gemeldet, kurdische Einheiten der YPG-geführten Koalition SDF (Syrian Democratic Forces) seien nun ebenfalls Richtung Aleppo vorgerückt und hätten den internationalen Flughafen besetzt, mutmaßlich von fliehenden Assad-Truppen übergeben, damit die Rebellen ihn nicht einnehmen. Währenddessen dehnten die HTS-Rebellen ihre Offensive weiter aus und nahmen die Luftwaffenbasis Abu Duhur und weiter südlich zahlreiche Ortschaften ein.
Putin-Gegner weltweit, die sich gegen russische Aggression verteidigen, freuen sich aber erstmal über die Befreiung Aleppos. „Der Fall von Aleppo 2016 war ein düsteres Vorspiel zu Butscha, Mariupol und Bachmut 2022“, schreibt der ehemalige Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba. „In Syrien lernten russische Piloten, wie man ukrainische Städte dem Erdboden gleichmacht. Das Versagen der Welt, sich damals gegen Putin und Assad zu stellen, war eine offene Einladung an Putin, die Ukraine zu überfallen. Der Rebellenerfolg in Aleppo ist vielversprechend… Die Lehre bleibt: Hätten die Demokratien Tyrannen von Anfang an bekämpft, statt nur Worte in die Luft zu blasen, hätten 2016 und 2022 vermieden werden können“.
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