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Antisemitismus im KulturbetriebZoff um eine Klausel

Berlins Kultursenator wehrt sich gegen Kritik an seiner verpflichtenden Erklärung gegen Antisemitismus. Er sieht sie als Beginn eines Dialogs.

Joe Chialo (CDU), Berlins Kultursenator, verteidigt seinen Vorstoß gegen Antisemitismus Foto: Britta Pedersen/dpa

BERLIN taz | Die von Kultursenator Joe Chialo eingebrachte Antidiskriminierungsklausel könnte zukünftig Grundlage für sämtliche Zuwendungen des Senats werden. Im Kulturausschuss am Montagnachmittag sagte Chialo, dass es durchaus denkbar und zu begrüßen sei, die Klausel auf alle Bereiche auszuweiten. Seiner Information nach würden sich seine „Senatskolleginnen und -kollegen damit befassen“.

Wie Ende vergangener Woche bekannt geworden war, müssen aktuell alle Künst­le­r*in­nen und Kulturschaffenden die Klausel unterzeichnen, wenn sie sich um Fördergelder der Senatsverwaltung für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt bewerben. Chialo bestätigte im Ausschuss auch, dass die Klausel ebenso für Förderung von gesellschaftlichem Engagement und Ehrenamt aus seinem Haus gelten soll. Sie gelte seit dem 21. Dezember.

Kultursenator Chialo will damit die „Prävention von Diskriminierung und Antisemitismus“ verstärken. Mit der Klausel verpflichten sich mögliche Emp­fän­ge­r*in­nen von Zuwendungen dazu, „sicherzustellen, dass die gewährten Fördergelder keinen Vereinigungen zugutekommen, die als terroristisch und/oder extremistisch eingestuft werden“. Sie bekennen sich außerdem „zu einer vielfältigen Gesellschaft und gegen jede Form von Antisemitismus“, und zwar „gemäß der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und ihrer Erweiterung durch die Bundesregierung“.

Mit einem offenen Brief hatten sich Kunst- und Kulturschaffende am Freitag gegen die Klausel und insbesondere gegen die IHRA-Definition von Antisemitismus gewandt. Sie kritisierten, diese Definition würde Kritik an Israel unmöglich machen. Die Klausel schränke daher die Kunst- und Meinungsfreiheit ein, die Un­ter­zeich­ne­r*in­nen nannten sie eine „politische Instrumentalisierung“. Sie sprachen sich stattdessen für die Antisemitismus-Definition aus der Jerusalem-Deklaration aus.

Anfang eines Diskussionsprozesses

Im Kulturausschuss verteidigte Senator Chialo die Klausel. Sie sei „präventiv, deklaratorisch und nicht verbindlich“. Und er lud zum Dialog darüber ein: „Wir stehen am Anfang von einem Diskussionsprozess“, sagte Chialo. „Wir können jetzt ins Gespräch kommen, sie modifizieren und verbessern.“ Als „Angebot im demokratischen Raum“ bezeichnete Chialo seinen Wunsch nach Dialog, und „dass die Tonalität wichtig sei, damit die Gespräche gelingen können“. Da sehe er angesichts der Reaktionen auf die Klausel „erheblichen Nachholbedarf“.

Elke Breitenbach (Linke) kritisierte Chialo im Ausschuss für sein Vorgehen. Da die Klausel schon gelte, sei es kein Gesprächsangebot. „Damit haben Sie viel Porzellan zerschlagen“, warf sie Chialo vor. „Die Beschlüsse aus der Landeskonzeption gegen Diskriminierung kann man unterschiedlich umsetzen – wir hätten es anders gemacht“, sagte sie. Ebenfalls aus der Linken kam die Frage auf, ob Chialo dem Anliegen nicht eher geschadet habe, da sein Vorstoß nun so eine breite Gegenwelle erzeugt hätte.

„Der Senatsverwaltung geht es nach meiner Wahrnehmung um politische Kontrolle der freien Kunst und Kultur“, sagte Elif Eralp, Sprecherin für Antidiskriminierung der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. „Dabei hat die Berliner Kulturlandschaft, die sich schon lange gegen Antisemitismus, Rassismus und jede Form der Diskriminierung engagiert, keinen Anlass geboten für so eine Maßnahme und so einen Generalverdacht“, sagte sie der taz.

Daniel Wesener von den Grünen sagte, seine Partei habe einen fünfseitigen Fragenkatalog zu der Klausel eingereicht: zu den Rechtsgrundlagen und Definitionen, Abweichungen vom Landeskonzept, zur Umsetzung, den Verfahren. Er bedankte sich für das Dialogangebot – und rief die anderen Fraktionen auf, ihre Fragen zu ergänzen.

Mehrheitlich genutzte Definition

Aus Sicht von im Rat der Künste zusammengeschlossenen Kulturverbänden kontraproduktiv im Kampf gegen Diskriminierung auswirken. „Wir begrüßen Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus sowie Maßnahmen gegen jede Form von Diskriminierung und Rassismus“, schrieben Koalition der Freien Szene, Berufsverband Bildender Künst­le­r*in­nen Berlin, der Landesverband freie darstellende Künste, die Initiative Neue Musik und das Festiwelt-Netzwerk Berliner Filmfestivals in einem am Montag veröffentlichten Appell.

Nach ersten juristischen Einschätzungen verfehle die aktuelle Form der Antidiskriminierungsklausel aber die angestrebten Ziele. „Sie kollidiert mit dem Grundgesetz und bringt eine mannigfaltige Rechtsunsicherheit, zweifelhafte Praktikabilität und die Gefahr der Diskriminierung mit sich.“ Mit der Klausel werde „ein gefährlicher Präzedenzfall der Gesinnungsprüfung von Einzelpersonen geschaffen, die womöglich eine auf Dauer angelegte Überprüfungspflicht nach sich zieht“, hieß es von den Verbänden.

„Der 7. Oktober 2023 war eine Zäsur“, sagte Chialo und sprach auch von der Angst, die Jüdinnen und Juden seitdem in Berlin hätten. Er habe außerdem mit Kulturschaffenden und -häusern am Donnerstag Rücksprache gehalten, und viel Zuspruch für die Klausel gehört. Die IHRA-Definition sei die Definition, die mehrheitlich genutzt werde. Und er wies darauf hin, dass auch Schleswig-Holstein bereits so eine Klausel verabschiedet habe. „Andere Länder und der Bund bereiten Ähnliches vor, mein Anliegen ist, dass wir da auch zu gemeinsamen Regelungen kommen“, sagte er.

Fast verärgert stellte Chialo im Laufe der Debatte klar: „Es gibt kein Grundrecht auf staatliche Fördermittel“. Und er machte seine Motivation deutlich: „Als Kultursenator habe ich auch die Verpflichtung zu handeln, damit öffentliche Gelder nicht in terroristische und extremistische Organisationen fließen. Und mit der Klausel handeln wir jetzt. Aber mit ausgestreckter Hand“, betonte er.

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37 Kommentare

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  • Die Definition der IHRA unterbindet oder erschwert in keiner Weise legitime, berechtigte Kritik an Entscheidungen Israelischer Regierungen, oder an Äußerungen Israelischer Politiker*innen. Wer sich über den Likut oder Netanyahu aufregen möchte, wer sich an Rassist*innen wie Itamar Ben Gvir oder Rechtsextremen wie Bezalel Smotrich aufreiben möchte, kann dies auch nach der IHRA-Definition ungehindert tun. Und auch berechtigter Kritik an der Siedlungs- und Besatzungspolitik Israels in der Westbank oder der Blockade Gaza's steht die IHRA Definition nicht im Weg.

    Was die Definition allerdings voraussetzt, ist sich in der Kritik an eine gewisse Ne­ti­quet­te zu halten, die in politischen Auseinandersetzungen eigentlich eh Usus sein sollte: Etwa nicht post-faktisch zu argumentieren, keine falschen, dämonisierenden Anschuldigungen zu machen, keine de-realisierenden Zerrbilder zu erstellen, keine entmenschlichenden oder antisemitischen Stereotype und Narrative zu nutzen, keine doppelten Standards zu verwenden.

    Das die allermeisten »Israel-Kritiker*innen« bereits hier scheitern liegt zum Einen dadran, das die »BDS/Free Palestine« Bewegung, die »MAGA-Bewegung« der Linken ist: Uninformiert und faktenresistent dafür aber hoch emotional, selbstgerecht und von Hass getrieben. Zum Anderen folgt folgt die Hetze und Hasspropaganda aber auch einer inneren Logik: Ohne Diffamierung keine Dämonisierung, ohne Dämonisierung keine Delegitimierung, ohne Delegitimierung keine Zerstörung des jüdischen Staates -- und das ist natürlich das Ziel.

    Wer davon träumt, dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung zu nehmen, wer davon träumt den Juden und Jüdinnen in der Welt den einzigen Safe Space zu nehmen, wer davon träumt den einzigen jüdischen Staat auf der Welt das Existenz- und Selbstbestimmungsrecht zu nehmen, wer davon träumt die sieben Millionen Juden und Jüdinnen die dort leben zu vertreiben oder zu ermorden der muss sich -- zurecht -- als Antisemit*in bezeichnen lassen.

  • Die Kunst- und Kulturszene kann sagen was sie will, nur eben nicht, wenn sie die Hand aufhält.

    De facto ist es so das der Staat durch die Förderung von Kulturtreibenden und zivilgesellschaftliche Organisationen auch Verfassungsfeinde und Antisemiten unterstützt und diese sich sehr offensiv gegen jegliche Form der Kontrolle von Förderungen zur Wehr setzen.

    Ähnlich wie in diesem Fall war es ja auch bei den "Demokratie leben", wo die Forderung sich dem Grundgesetz zu verpflichten für einen ähnlichen Aufruhr sorgte. Wenn selbst das Grundgesetz für diese Menschen nicht zustimmungsfähig ist, dann muss man sich garnicht erst wundern, dass eine Klausel gegen Antisemitismus ebenfalls nicht durch geht.

  • Ich sach ma so: Politische Meinungsäußerung braucht eigentlich keine Subventionen. Wer Kultur betreiben will, soll das tun, und wer dafür Fördermittel braucht, soll sie auch bekommen. Wer aber meint, Kultur gehe nur mit politischer Agitation gegen Israel, der soll das - in diesem Land - vielleicht wirklich besser auf eigene Kosten tun. Meine Stimme hat Chialo jedenfalls.

    • @Normalo:

      “Wer aber meint, Kultur gehe nur mit politischer Agitation gegen Israel, der soll das - in diesem Land - vielleicht wirklich besser auf eigene Kosten tun.”



      Auch Kritik gegen die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik in den Westbanks, auch Kritik am derzeitigen Vorgehen der israelischen Streitkräfte in Gaza kann durchaus als “Agitation gegen Israel” gewertet werden. Auf außenpolitischepolitischem Feld hat ja jüngst unsere Außenministerin bei ihrem Besuch im Westjordanland gegen eben diese Besatzungspolitik “agitiert”.



      Jedes Votum für eine Zwei-Staaten-Lösung kann daher auch als “Agitation” verstanden werden - wobei ich fairerweise einräumen muss, dass es bisher überwiegend an der palästinensischen/arabischen Seite lag, dass eine solche Lösung immer gescheitert ist. Aber Sie wissen, worauf ich hinaus will.



      Wenn Kunst nicht politisch sein darf, ist eine Streichung von Fördermitteln sicherlich konsequent, das gilt dann aber auch grundsätzlich. Schließlich gibt es noch andere, möglicherweise wichtigere gesellschaftspolitische Prioritäten, z.B. die Finanzierung der Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit - die ja übrigens von rechter Seite auch in Frage gestellt wird … aber anderes Thema.



      Könnten wir uns wenigstens darauf einigen, dass es hier um die Bekämpfung von konkreten, nachweislichen Antisemitismus gehen soll - und da steht der Kulturbetrieb natürlich genau so auf dem Prüfstand wie jeder andere gesellschaftliche Sektor ebenso -, und nicht um die Bekämpfung von lediglich schwiemelig definierter antiisraelischer “Agitation”?



      Das dürfte auch im Sinne des Berliner Kultursenators sein, der ja selbst zum Dialog über dieses Klausel eingeladen hat.

      • @Abdurchdiemitte:

        Natürlich kann und darf Kunst politisch sein, wie sie will. Aber seine Kunst so PRIMÄR politisch und unvermeidlich (heftig) israelkritisch versteht, dass er sich zwangsläufig mit der IHRA-Definition in Konflikt sieht, der soll sie gerne (in den Grenzen zu Beleidigung und/oder Volksverhetzung) auch weiter betreiben, aber bitte von mir aus nicht mit für die Kunstförderung bereitgestellten Steuergeldern. Dafür sind sie - aus meiner Sicht als Wähler - nicht da. Die sehe ich gerne mit einem Sicherheitsabstand zum Antisemitismus eingesetzt, den die IHRA-Definition ganz gut absteckt.

        Wenn aber ein Künstler Politiker sein will und sich wie ein Poltiker äußern will, soll er Politik machen. Aber dann gibt's eben auch keine Fördergelder aus Kulturtöpfen (um die sich auch Frau Baerbock für ihre "Aktionskunst" am Rednerpult meines Wissens nicht bewirbt).

  • "Die Klausel schränke daher die Kunst- und Meinungsfreiheit ein, die Un­ter­zeich­ne­r*in­nen nannten sie eine „politische Instrumentalisierung“."

    Das Bezeichnende an der Debatte ist, dass man sich bei der Antidiskriminierungsklausel (die ja auch gegen Rassismus und Queerfeindlichkeit gerichtet ist) allein an daran stört, dass darin explizit auch der Antisemitismus aufgenommen worden ist. Klar, Rassismus und Queerfeindlichkeit lehnt man, darauf lässt man sich gerne verpflichten (und zwar völlig unabhängig davon, dass man hier mindestens dieselben Definitionsprobleme hat), aber das bisschen Hass auf Israel, das wird man sich doch noch gönnen dürfen.

    • @Schalamow:

      “… aber das bisschen Hass auf Israel, das wird man sich doch noch gönnen dürfen.”



      Zunächst einmal grundsätzlich: dass künstlerische Inhalte, die offensichtlich oder verdeckt zu Hass und Gewalt aufrufen, dieses glorifizieren oder verharmlosen, staatlicherseits finanziell gefördert werden, stößt sicherlich genau so auf meine wie Ihre Ablehnung. Das gilt natürlich auch für antisemitische Inhalte.



      Die Kritik gegen die Berliner Kulturklausel richtet sich jedoch dagegen, dass somit jedwede Kritik an Israel denunziert werden KANN - ob es beispielsweise um Äußerungen rechter israelischer Regierungsmitglieder, die durchaus als genozidal gewertet werden können, das Bombardement der israelischen Streitkräfte in Gaza oder die gewalttätigen Übergriffe jüdischer Siedlernationalisten gegen palästinensische Bauern im Westjordanland geht. Wie es zuletzt unsere Außenministerin bei ihrem Staatsbesuch in Israel getan hat.



      Dabei spielt es keine Rolle, ob Herr Chialos Vorstoß einen Maulkorb für antiisraelische/israelkritische Inhalte explizit intendiert. Seine Äußerungen lassen glücklicherweise nicht darauf schließen, ich betrachte sie vielmehr als Gesprächsangebot.



      Wenn Sie Israel-Kritik - auch in der künstlerischen Ausdruckform - GRUNDSÄTZLICH verbieten lassen wollen, sagen Sie das auch bitte offen so. Und denunzieren niemanden als Antisemiten, der es möglicherweise nicht ist.

      • @Abdurchdiemitte:

        "Die Kritik gegen die Berliner Kulturklausel richtet sich jedoch dagegen, dass somit jedwede Kritik an Israel denunziert werden KANN..."

        Nein! @Kriebs unten hat das ja schon detailliert zurecht gerückt.

        Hier wird immer wieder und aus durchsichtigem Grund der gleiche Strohmann in die Debatte eingeführt: Man dürfe Israel nicht mehr kritisieren, sonst werde man als Antisemit beschimpft. Aber spätestens seit der letzten documenta oder auch den Vorgängen um das Berlin Kulturzentrum Oyoun ist doch wohl auch dem letzten klar geworden, dass in einem bestimmten Teil des Kulturmilieus selbst offensichtlicher Antisemitismus geleugnet oder zur "Israelkritik" umgedeutet wird. Und wissend um das Meinungsklima in der eigenen Klientel möchte man genau das ungestört weiter betreiben können, ohne um die Fördergelder fürchten zu müssen.

        Sie und ich haben uns hier ja beide schon mehrfach kritisch zu bestimmten Erscheinungen der israelischen Politik geäußert und sind uns da ja auch vielfach einig. Wenn man will, kann man nämlich seine Kritik eben auch so vorbringen, dass nicht einmal ein Hauch von Antisemitismus sichtbar wird. Aber manchen anderen Leuten wiederum scheint das ja notorisch schwer zu fallen. Wenn Sprache und Inhalt aber regelmäßig aus dem Ruder laufen, dann muss man sich halt schon den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen.

        • @Schalamow:

          Ich habe ja in meiner Erwiderung auf @Kriebs auf ein Beispiel aus der eigenen Familiengeschichte verwiesen. Mit diesem antisemitischen Ausbruch eines meiner Altvorderen habe ich (in meiner jugendlichen Naivität) seinerzeit nicht gerechnet, ich war schockiert.



          Allerdings bin ich damals zu der Einschätzung gekommen, wenn bei Leuten - noch dazu eigenen Familienangehörigen - , von denen man annahm, sie hätten sich glaubhaft von der NS-Vergangenheit gelöst, noch nach Jahrzehnten ein derartiger antisemitischer Outburst möglich ist, wie sehr der Antisemitismus dann doch wohl ein Problem der bürgerlichen Mitte sein muss - und nicht ausschließlich ein gesellschaftlich randständiges der politischen Extreme.



          Und wohl deshalb hatte ich - wann immer wenn es um das Thema Antisemitismus ging - eher so bürgerlich-gesetzte Typen wie Sarrazin, Aiwanger oder Maaßen vor Augen. Dass Antisemitismus freilich sehr facettenreich daherkommt und insofern durchaus auch ein linkes Thema ist, hatte ich lange nicht so auf dem Schirm. Aber man lernt ja nie aus.

  • "Sie sprachen sich stattdessen für die Antisemitismus-Definition aus der Jerusalem-Deklaration aus."

    --> Liest man sich die JDA durch, weiß man auch sofort warum:

    Man will einfach weiter "From the river to the sea" brüllen, was nach der Antisemitismus-Definition der Jerusalem Declaration nicht antisemitisch ist:

    "It is not antisemitic to support [...] “between the river and the sea,” [...] in whatever form." (jerusalemdeclaration.org/)

    Ginge es nur um Kritik an Israel lässt dies die IHRA ausdrücklich zu:

    "Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden." (www.holocaustremem...on-antisemitismus).

    Genau das ist der springende Punkt: Kritik an israelischer Politik (Siedlungsbau, rechtsnationale Regierung, Demokratie- und Justitzumbau zur Autokratie) ist nach der IRHA-Definition unproblematisch möglich. Nur auf das Brüllen der (absolut antisemitischen) Parole "From the river to the sea" müsste man halt verzichten.

    Dass das nicht einmal der Minimalkonsens des Berliner Kulturbetriebs ist, zeigt, dass man hier eigentlich noch großflächiger überprüfen müsste, wem man da eigentlich Fördermittel überweist.

    • @Kriebs:

      Der Streit darüber, welches nun die “bessere” Antisemitismus-Definition sei - die der IHRA oder der JDA - scheint mir doch mehr akademischer Natur zu sein. Ich unterstelle mal, dass die Verfasser beider Schriften ein ernsthaftes Anliegen haben, die Probleme mit dem Antisemitismus zu identifizieren und eine Strategie dagegen zu entwickeln.



      Wenn wir hier, in diesem Kontext, also über den “richtigen” Antisemitismus-Begriff diskutieren, sollten wir darauf verzichten, andere Beteiligte des Antisemitismus zu denunzieren bzw. zu unterstellen, sie würden ihn fördern, verharmlosen usw. Das ist meine eindringliche Bitte! Und ich denke auch, dass das im Sinne von Herrn Chialo ist.



      Worum es beim Thema Antisemitismus tatsächlich geht, wurde mir als junger Mensch auf sehr persönliche Weise bewusst, als 1980 (?) im deutschen Fernsehen die Serie “Holocaust” ausgestrahlt wurde und mein bisher von mir bewunderter Großvater - weil überzeugter SPD-Wähler und Anhänger der Friedensbewegung -, schäumte und es zum Entsetzen der anwesenden Familienmitglieder aus ihm herausbrach, das sei alles gelogen und ein jüdisch-amerikanisches Propaganda-Machwerk.

      • @Abdurchdiemitte:

        "Worum es beim Thema Antisemitismus tatsächlich geht, [...]"

        --> Ein wunderbares Beispiel für Verharmlosung von Antisemitismus. "Nur der Holocaust ist Antisemitismus, nichts anderes".

        Antisemitismus fängt nicht erst bei der Shoa an, und endete auch nicht mit der Befreiung der KZs. Es gibt im Alltag eine Vielzahl antisemitischer Vorfälle.

        "[...] sollten wir darauf verzichten, andere Beteiligte des Antisemitismus zu denunzieren bzw. zu unterstellen, sie würden ihn fördern, verharmlosen usw. Das ist meine eindringliche Bitte!"

        --> Ich unterstelle gar nichts. Wenn man sich die Vorgänge im Berliner Oyoun ansieht, dann ist Antisemitismus meiner Ansicht das richtige Urteil:

        "[...] stellte das Oyoun der „Palästina Kampagne“ seine Räumlichkeiten zur Verfügung – einer Gruppe, die den Terror der Hamas am 7. Oktober für gerechtfertigt hält und sogar unterstützt. Die Massaker verklärt sie zum „Befreiungskampf gegen Siedlerkolonialismus“, der „bedingungslose Solidarität“ verdiene. " (www.tagesspiegel.d...oun-10864342.html).

        Sorry, aber wer "bedingungslose Solidarität" mit den Hamas-Schlächtern vom 07.10.23 erklärt, hat sich meines Erachtens das Urteil Antisemit redlich verdient.

        Und wer solchen Antisemiten eine Bühne gibt (das Oyoun), hat mindestens kein Problem mit Antisemitismus. Und allein das ist ein veritables Problem.

        • @Kriebs:

          „Nur der Holocaust ist Antisemitismus, nichts anderes.“



          Moment! Da unterstellen Sie mir etwas, was ich überhaupt nicht gesagt habe, was ich so nicht vertreten würde und mit dem Beispiel auch nicht aussagen wollte. Missverständnis oder Absicht?



          Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist für die meisten Deutschen meiner Generation (den Enkeln der Tätergeneration) wahrscheinlich der zentrale Bezugs- und Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus.



          Ohne diese Geschichte würden die antisemitischen Entgleisungen eines Schülers Hubert Aiwanger Jahrzehnte später im bayerischen Landtagswahlkampf möglicherweise überhaupt nicht skandalisiert worden sein. Es wäre nur eine der vielen (alltags)rassistischen „Geschmacklosigkeiten“ - auch seitens gewählter deutscher Politiker - , mit der sich viele Nicht-Bio-Deutsche aufgrund ihrer Herkunft, Religionszugehörigkeit etc. fast ständig konfrontiert sehen.



          Wie man als Jude mit deutscher Staatsangehörigkeit durchaus darüber genervt sein darf, gefragt zu werden, wie man es mit der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern halte, darf man als deutscher Staatsangehöriger mit türkischen Wurzeln auch angefressen über die Frage sein, wie man es denn mit Erdogan oder den Kurden halte. Oder wie es komme, dass man als Sinto nicht mal Geige spielen könne. Auch solche „harmlosen“ Fragen könnten ja Ausfluss einer antisemitischen/rassistischen Gesinnung sein.



          Jetzt gab es in dem Aiwanger-Pamphlet ja klare Anspielungen auf die Shoa. Das skandalisierte Schriftstück stammt aus dem Jahr 1986. Etwa zu der Zeit kursierten an deutschen Schulhöfen auch jene „Türkenwitze“, deren eindeutige Aussage war, dass die Türken noch das vor sich hätten, was die Juden schon hinter sich haben. Erinnern Sie sich?

  • Das Problem mit dieser Klausel ist, dass diese auch legitime Kritik an Israel selbst erfassen kann und wird.

    Wie ja schon die Zensur in vielen Kommentarbereichen zeigt, geht Kritik nur, wenn vorher ellenlange Einleitungen erfolgen warum Israel was auch immer alles darf, um dann erst zum Punkt zu kommen. Das nimmt in vielen Bereichen geradezu groteske Züge an.

    Generell bin ich der Meinung, das einzige was in der Region hilft wäre eine 2 Staaten Lösung, weil das schlicht eine Perspektive für beide Seiten eröffnet.

    • @insLot:

      In der Region Berlin? Hatten wir schon, war doof.



      Es geht in dem Artikel um Kulturförderung und nicht um Israel oder den nahen Osten.

    • @insLot:

      Grundsätzlich teile ich Ihre Bedenken und ich frage mich, ob eine derartige Klausel geeignet sein kann, das Problem mit dem Antisemitismus gesellschaftspolitisch anzugehen. Wie auch staatsbürgerliche Bekenntnisse zum Existenzrecht Israels, wie etwa der Gedanke, ein solches Bekenntnis als Staatsräson implementieren zu wollen.



      Derartige Vorstellungen sind wohl eher Ausfluss eines gewissen, engstirnig ordnungspolitisch orientierten Denkens - wiederum “typisch” für CDU-Politiker - , mit dem man dann meint, Probleme irgendwie lösen oder zumindest einhegen zu können. Um nicht missverstanden zu werden: Herrn Chialo möchte ich die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen durchaus zugestehen, wenn er meint, mit derartigen ordnungs-/rechtspolitischen Vorstellungen den Antisemitismus erfolgreich bekämpfen zu können (ebenso den taz-Foristen, die sich mit ihren Kommentaren hier schon hinter seine Linie eingeordnet haben).



      Ins Fäustchen lachen dürften sich allerdings auch Leute von der Sorte Aiwanger, Maaßen oder diverse Vertreter der AfD, wenn mittels dieser Debatte das Problem des Antisemitismus als überwiegend eines des Kulturbetriebes identifiziert oder ausschließlich an Linke und migrantische Muslime adressiert wird.



      Feindbildpflege nennt sich sowas … die Idee, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist und daher uns alle angeht, soll dabei erst gar nicht aufkommen.

      • @Abdurchdiemitte:

        Seit wann ist denn Kulturbetrieb per se links? Wenn z. B. Lisa Eckhart (ok, die IST technisch gesehen immerhin Migrantin/ SPÖ-Flüchtige... ;-)) Geld vom Berliner Senat haben will, wird auch sie das Ding unterschreiben müssen.

  • Es gibt eine Studie, die festgestellt hat das die Klausel unpräzise formuliert ist. Raum für Auslegung lässt. Raum für Auslegung öffnet den Raum für Willkür. Also kann die Klausel keine Grundlage sein,da keine klare Sichtweise formuliert wurde.

    • @fmraaynk:

      Wie heißt denn diese Studie, bzw. hätten Sie einen Link dazu?

      Wie wir ja aus dem Gutachtenunwesen wissen, kann man mit etwas "gutem Willen" für fast alles eine Begründung finden. Da wüßte ich schon gerne etwas mehr über die Studie und ihre Macher.

      • @ PeWi:

        Hier gibt es etwas dazu:



        verfassungsblog.de...liche-beurteilung/

        • @Moritz Pierwoss:

          Danke für Ihren Link, wie auch an @FMRAAYNK für seinen Verweis auf die Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Solche Beiträge können erheblich zur Versachlichung der Debatte beitragen - wenn es denn gewünscht ist. Da habe ich allerdings leider so meine Zweifel.

  • Also erst mal finde ich es richtig, dass keine Subventionen an Antisemiten, Rassisten und sonstige Menschenfeinde gegeben werden. Einen Rechtsanspruch auf öffentliche Gelder- Steuergelder hat niemand..Wenn es stimmt, dass die Antisemitismusdefinintion auch so vom Bundestag , dem Vorgängersenat zu Grunde gelegt wird, verstehe ich die Aufregung nicht ganz. Ich denke keiner möchte eine Berliner“dokumenta“ erleben.Schwierig wird es erst, wenn jede künstlerische Äußerung haarspalterisch seziert wird, ob sie nicht als antsemitisch, rassistisch gedeutet werden kann. Aber dafür gibt es doch eine kritische Öffentlichkeit.

  • Ich finde diese Klausel um die es hier geht hinter keinem der angegebenen Links.

    Worüber reden wir hier eigentlich?

  • Ich hoffe stark, dass Chialo damit antisemitisches Porzellan zerschlägt.

    Dass die Linke es anders gemacht hätte, ist keine Frage.

    Vermutlich hätte sie es gar nicht gemacht.

    Sie war ja nun lange genug in der Regierung, wo sie etwas hätte machen können.

    Und einen Grund muss es ja geben, dass Rt-grün-rot abgewäht wurde.

    Ist es denn wirklich ein Schaden, wenn eine Maßnahme gegen Antisemitismus eine starke Gegenwelle erfährt?

    Oder ist es im Sinne des Erfinders, damit das Thema Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs findet?

    Es ist schon spannend, wie gerade die Linkspartei sich Maßnahmen gegen Antisemitismus in den Weg stellt und ihre Sprecherin für Antidiskriminierung keinen Anlass böte.

    Als wären Künstler über Antisemitismus erhaben.

    Antisemitisch sind natürlich immer nur die anderen

    Aus der letzten documenta haben ja wohl doch nicht so viele gelernt.

    Das muss man sich mal vorstellen:

    Der erste Schwarze Kultursenator - ein CDU-Senator - konzeptioniert eine Maßnahme gegen Antisemitismus, und die Linke stellt sich dagegen mit der Behauptung, das sei ja ein Generalverdacht.

    Schräge Zeiten.

    Hätte ich vor 20 Jahren nicht für möglich gehalten.

  • Ich halte das Vorgehen von Joe Chialo für gut und richtig. Dass die IHRA-Definition von Antisemitismus "Kritik an Israel" unmöglich mache, ist ein Märchen.

    Die Liste der Unterzeichner des offenen Briefs ist laut Artikel inzwischen aus dem Netz verschwunden. Kein Wunder. Ich habe die Liste gesehen, als sie noch zugänglich war. Dort gab es eine Vielzahl von Phantasieunterschriften; "Adolf Hitler" und "Albert Speer", der Berliner Regierende Bürgermeister Wegner und auch der Name von Joe Chialo selbst waren auf der Liste zu finden. Wie viele der Unterzeichner tatsächlich Künstler waren, ist schwer nachzuvollziehen. Offenbar konnte sich da jeder Witzbold ungeprüft eintragen.

  • Vom CDU-Senator wird quasi das Motto

    "Wes' Brot ich ess', des Lied ich sing!"

    umgedreht in:

    "Wes Lied ich sing, des Brot ich ess'!"

    Besser macht es das nicht.

  • Wenn eine Klausel unterschrieben werden muss, um eine Förderung zu erhalten, ist sie sehr wohl verbindlich. Es sei denn er meint damit, ein reines Lippenbekenntnis würde ihm reichen. Als Gesprächsgrundlage eignet sich eine verpflichtend eingeführte Klausel auch nicht. Das sind keine überzeugenden Argumente. Hatte er keine inhaltlichen Argumente für diese statt der alternativen Definition?

    • @Iguana:

      Die alternative Definition ist ggf. unzureichend und die in der Klausel festgehaltene jene, die die Bundesrepublik auch offiziell anwendet.

      Reicht das?

  • Die Klausel schränkt Kunst- und Meinungsfreiheit selbstverständlich nicht ein, da kein Künstler ein irgendwie geartetes Anrecht darauf hat, vom Staat finanziell gefördert oder unterstützt zu werden. Das die Vergabe solcher Förderung an Bedingungen geknüpft ist, ist daher auch keine Einschränkung irgendwelcher Grundrechte. Es steht ja weiterhin jedem frei, sich künstlerisch so zu betätigen, wie es ihm beliebt, aber das Geld muss man dann einfach wo anders auftreiben

    • @Christian29:

      Die Förderung der Kunst setzt die Einhaltung der geltenden Gesetze voraus und das muss auch reichen. Kulturzuschüsse des Bundes sind ein verwalterischer Overkill, das wissen alle, die schon mal damit gearbeitet haben. Wenn nun jede Vergabe- oder Durchleitungsstelle noch ein Kriterium oben drauf setzt, kommt immer weniger Förderung bei der Kunst an. So wird es bald keine Bundeskulturförderung mehr geben - oder stillschweigend gedultete Vertragsverstösse. Was ist da besser?

      • @Albrecht Thomas:

        Einfach auf Antisemitismus verzichten, ist kein Hexenwerk. Wenn man das für eine große Hürde hält hat man wahrscheinlich den richtigen Adressaten für die Klausel gefunden.

      • @Albrecht Thomas:

        Rassisten mit Steuergeld unterstützen ist aber auch nicht schön.

  • Wenn das erst der Anfang ist, dann folgt als nächstes wohl die Verpflichtung auf die "christlich-jüdische Leitkultur".

    • @HRMe:

      Exakt.

    • @HRMe:

      Zumindest für Leute mit doppelter Staatsbürgerschaft und Ausländern steht etwas in der Art im Gespräch, ja.