Bootskatastrophe auf Fluchtroute: Vorwürfe gegen die Küstenwache
Mit dem Boot flohen 700 Menschen über das Mittelmeer – 104 haben überlebt. Sie berichten, es sei gekentert, als die Küstenwache es gezogen habe.
Das mit schätzungsweise bis zu 700 Menschen besetzte Fischerboot war in der Nacht zum Mittwoch rund 50 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes in internationalen Gewässern gesunken. 78 Todesopfer wurden bisher geborgen. Die Behörden vermuten, dass das Boot sehr schnell sank. Deshalb sei es den Menschen unter Deck nicht gelungen, sich ins Freie zu retten.
Am Donnerstagabend waren von den 104 Überlebenden neun Verdächtige in der Hafenstadt Kalamata festgenommen worden. Die Ägypter gelten nach Polizeiangaben als Organisatoren der Fahrt.
Empfohlener externer Inhalt
Am Freitag wurden die Überlebenden in ein Auffanglager nördlich von Athen gebracht. Neun mutmaßliche Schleuser blieben in Kalamata in Polizeigewahrsam. Dabei handelt sich nach Angaben der Küstenwache um Ägypter. Ihnen werden fahrlässige Tötung, Menschenhandel und die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.
Mutmaßliche Schleuser festgenommen
Kriton Arsenis, ein ehemaliger EU-Abgeordneter der Pasok, sagte am Freitag nach Gesprächen mit Überlebenden, diese hätten ihm berichtet, das Boot sei gesunken, als die griechische Küstenwache es Richtung italienischer Gewässer gezogen hatte. In den sozialen Medien kursiert ein Video, das zeigen soll, wie Überlebende auch dem ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras dies bei dessen Besuch der Überlebenden am Donnerstag schildern.
Es wäre nicht der erste Fall. Immer wieder berichten Migrant:innen gegenüber Journalist:innen oder Helfer:innen von teils lebensgefährlichen Aktionen der Küstenwache. Im Juli 2022 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erstmals Griechenland wegen eines solchen Falls. Im Januar 2014 war ein Boot mit 27 Flüchtlingen vor der griechischen Insel Farmakonisi gekentert, 11 Menschen starben.
Die Überlebenden hatten angegeben, dass ein Schiff der griechischen Küstenwache mit sehr hoher Geschwindigkeit unterwegs gewesen sei, um die Flüchtlinge zurück in türkische Gewässer zu drängen. Dadurch sei das Boot mit den Geflüchteten an Bord gekentert. Die griechischen Behörden hätten nicht alles Erforderliche getan, um die Flüchtlinge zu schützen und sie einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt, so der EGMR. Außerdem seien die Umstände des Unglücks nicht ausreichend aufgeklärt worden. Griechenland musste 330.000 Euro Schadenersatz zahlen.
Küstenwache ignorierte angeblich Notruf
Unterdessen berichtete das Portal Solomon unter Berufung auf die Initiative Alarm-Phone, dass zuvor ein Notruf des am Mittwoch gesunkenen Bootes von der Küstenwache ignoriert worden war. Die hatte das nach eigenen Angaben bereits seit Dienstagmorgen erfasst – die Insassen hätten Hilfsangebote abgelehnt.
Die Initiative Alarm-Phone hatte um 17:53 Uhr am Dienstag die griechische Rettungsleitstelle per E-Mail wegen des Bootes kontaktiert. In der Mail waren die Koordinaten des überladenen Schiffes angegeben, ebenso die Information, dass sich 750 Menschen an Bord befinden, sowie eine Telefonnummer, unter der die Passagiere kontaktiert werden konnten. „Sie bitten dringend um Hilfe“, heißt es in der E-Mail, die auch an Frontex und das Hauptquartier ging. Die Küstenwache sei aber untätig geblieben.
Am Donnerstag reiste der Frontex-Direktor Hans Leijtens wegen des Unfalls zu einem Treffen mit der griechischen Küstenwache. Er wolle „besser verstehen, was geschehen sei“, schrieb Leijtens.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin