Innenminister:innen zu EU-Asylreform: Schicksalsträchtiger Gipfel
Nach jahrelangem Streit wollen die EU-Innenminister eine Reform des Asylrechts beschließen. Wie blicken einzelne Mitgliedsstaaten auf das Vorhaben?
S eit Jahren schiebt die Europäische Union eine Reform des Asylrechts vor sich her. Alle Versuche, zwischen Ankunfts- und Aufnahmeländern zu vermitteln und die Flüchtlinge fairer auf die 27 EU-Staaten zu verteilen, sind bislang gescheitert. Doch nun naht die Stunde der Wahrheit: An diesem Donnerstag will der schwedische EU-Vorsitz eine Entscheidung erzwingen. Beim Treffen der Innenminister in Luxemburg soll sie fallen.
Die Chancen stünden „fifty-fifty“, sagt ein EU-Diplomat in Brüssel. Es gebe ein „Momentum“, meint ein anderer. Festlegen wollte sich am Mittwoch niemand. Dafür steht zu viel auf dem Spiel: Es geht nicht nur um den Erhalt des Schengen-Systems der Reisefreiheit, um den Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bangt. Es geht auch um den Schutz der Außengrenzen – und um die Glaubwürdigkeit der EU.
Diesmal soll sich nicht wiederholen, was die Gemeinschaft 2015 in die Krise stürzte: Damals hat die EU zwar einen Beschluss gefasst – doch Ungarn, Polen und viele andere Staaten haben ihn nicht umgesetzt. Um diesen Worst Case zu verhindern, sollen die Innenminister diesmal nicht bloß – wie bereits 2015 – mit qualifizierter Mehrheit abstimmen, wodurch eine Blockade per Veto verhindert wird.
Der schwedische Ratsvorsitz versucht auch, auf alle möglichen Wünsche und Bedenken einzugehen. Im Gespräch sind nicht nur die in Deutschland umstrittenen Asylverfahren an den Außengrenzen. Auf dem Tisch liegen auch jährliche Obergrenzen, ein Solidaritätsmechanismus mit Ausgleichszahlungen für Verweigerer – im Gespräch sind 20.000 Euro pro Person – sowie EU-Zuschüsse für den Ausbau von Grenzanlagen.
Man müsse einen Mittelweg zwischen „Solidarität“ und „Verantwortung“ finden und sich zugleich bemühen, das Hauptankunftsland Italien zu entlasten, so ein Diplomat. Das sei ein schwieriger Balanceakt. Doch selbst wenn ein Deal gelingen sollte, so wäre die Reform noch längst nicht in trockenen Tüchern. Denn am Ende muss sich der Ministerrat auch noch mit dem EU-Parlament einigen.
Das Parlament will jedoch weitergehen als der Rat. Es fordert eine echte „europäische Lösung“, die auch verbindliche Quoten für die Umverteilung der Asylbewerber enthalten könnte. Die EU stellt sich auf lange und harte Verhandlungen ein – das Treffen in Luxemburg ist nur der Start in einen heißen Sommer. Im Herbst beginnt bereits der Europawahlkampf; dann dürfte eine Einigung noch schwieriger werden.
Doch wie blicken einzelne Mitgliedsländer auf die geplante EU-Asylreform? Ein Überblick.
In Polen wirkt die Angstkampagne bis heute
Wenn in Polen von „Asyl“ oder „Kriegsflüchtlingen“ die Rede ist, denkt kaum jemand an die Millionen Ukrainerinnen, die seit Kriegsbeginn mit ihren Kindern ins Land gekommen sind. Denn Polens Behörden gaben ihnen einen zunächst auf 18 Monate befristete Aufenthaltsstatus mit Krankenversicherung und sofortiger Arbeitserlaubnis. Ähnlich werden die belarussischen Oppositionellen, die in Polen seit Jahren Schutz suchen, behandelt. Meist finden sie sofort Arbeit in der IT-Branche oder als Ärzte und Pflegepersonal in polnischen Krankenhäusern.
2015 gewannen die Nationalpopulisten von der Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit einer Angstkampagne gegen Geflüchtete die Parlamentswahlen. So kippte die damalige Hilfsbereitschaft der Polen in ihr Gegenteil um. Ganz wie von den PiS-Propagandisten gewollt, lehnten die Polen plötzlich mehrheitlich jede Solidarität mit Ländern wie Griechenland oder Italien ab.
Das zieht sich bis heute. Die meisten Polen lehnen jede EU-weite Umverteilung von Geflüchteten ab. Offiziell begründet die Regierung in Warschau dies mit dem besonderen Freiheitsverständnis der Polen. Jeder solle frei wählen dürfen, wo er nach geglückter und anerkannter Flucht leben wolle. Polen jedenfalls werde niemanden festhalten, den es in ein anderes Land ziehe.
Deutschland für Änderungen bei Familien
Deutschland unterstützt die Pläne der EU-Kommission im Kern, das gilt auch für die grünen Minister*innen. Nur bei Detailfragen tritt Bundesinnenministerin Nancy Faeser für Änderungen ein. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob Familien ebenfalls die Prüfverfahren an den EU-Außengrenzen durchlaufen sollen. Die Pläne der EU-Kommission sehen derzeit Ausnahmen nur für Familien mit Kindern unter 12 Jahren vor, die Bundesregierung will, dass das auch für Jugendliche bis 18 Jahre gilt.
Innerhalb der SPD- und Grünenfraktionen im Bundestag gibt es zwar Unmut über die geplante EU-Asylrechtsverschärfung und die Position der Bundesregierung, doch nur wenige Abgeordnete äußern das bisher öffentlich. Zumindest bei den Grünen macht aber die Basis Druck. Scharfer Protest kam zuletzt auch von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen wie ProAsyl oder Amnesty International.
Die Politik der offenen Arme ist in Schweden vorbei
Spätestens nachdem im vergangenen Herbst in Stockholm die neue Regierung ihr Amt angetreten hatte, war es in Schweden mit einer einigermaßen menschenwürdigen Flüchtlingspolitik vorbei. Um überhaupt das Amt des Ministerpräsidenten antreten zu können, war Ulf Kristersson gezwungen, für sein Regierungsprogramm praktisch komplett die migrationspolitischen Vorstellungen der rechten Schwedendemokraten zu übernehmen, auf deren parlamentarische Unterstützung er angewiesen ist.
Die Einrichtung von grenznahen Asylzentren, in denen Migranten bereits auf ihren Schutzstatus hin überprüft werden sollen, ist damit ganz im Sinne Stockholms. Für humanitäre Ausnahmen, wie sie die Bundesregierung fordert, darf sie sich dagegen keine schwedische Unterstützung erwarten. Zwingend für Stockholm ist auch, dass es keine obligatorische Umverteilung der Asylsuchenden, sondern nur eine schwammige „Solidarität“ geben soll. Einen „Zwangsmechanismus“ lehnen die Schwedendemokraten ab.
Wenig Beachtung in Tschechien
Trotz seiner schicksalsträchtigen Agenda steht das Treffen der EU-Innenminister in Tschechien nicht im öffentlichen Diskurs, dem Innenminister Vit Rakusan scheint die Reise nach Luxemburg nicht einmal eine Pressemitteilung wert. Während seiner EU-Ratspräsidentschaft 2022 hat Tschechien seine Karten allerdings schon offen auf den Tisch gelegt: Prag will eine verstärkte Kontrolle der EU-Außengrenzen, eine bessere Kooperation mit Serbien und die Einführung eines Konzepts der „flexiblen Solidarität“.
Italien fühlt sich im Stich gelassen
„Italien wird allein gelassen“: Ministerpräsidentin Giorgia Meloni greift immer wieder zu diesem Satz, wenn es um Migrationspolitik geht, und sie steht mit dieser Sicht keineswegs allein da – über alle Parteiengrenzen hinweg geben sich Politiker*innen überzeugt, dass ihr Land nicht die notwendige Unterstützung durch Europa erfahre, um mit den Migrationsbewegungen übers Mittelmeer fertig zu werden.
Gerne fällt auch ein zweites Wort, das von der „emergenza“, dem Notstand, mit dem Italien auf diesem Feld konfrontiert sei. In der Tat stellt die zentrale Mittelmeerroute, von Libyen und Tunesien aus Richtung Norden, einen der Hauptmigrationswege dar. Und: Tatsächlich stechen immer wieder Schiffe von der Türkei und Ägypten aus Richtung Süditalien in See.
Meloni hatte im Herbst 2022 die Wahl auch mit dem Versprechen gewonnen, mit der „illegalen“ Zuwanderung werde unter ihr Schluss ein. Allein, das Versprechen konnte sie nicht halten: Im laufenden Jahr kamen bisher etwa 52.000 Migrant*innen übers Mittelmeer, 2,5-mal so viele wie im selben Zeitraum 2022.
Von „Notstand“ kann jedoch angesichts einer solchen Zahl keineswegs die Rede sein, auch weil weiterhin ein Gutteil der Ankommenden weiter zieht, etwa nach Deutschland, Frankreich oder Skandinavien. So hat das Forschungsinstitut ISPI errechnet, dass von rund einer Million Flüchtlingen, die in den vergangenen zehn Jahren übers Mittelmeer ankamen, nur die Hälfte Italien als Transitland nutzte.
Trotzdem hat Meloni den Kampf aufgenommen und zuallererst den NGOs ihre Arbeit erschwert. Wann immer diese Menschen aus dem Meer retten, wird ihnen ein Hafen im Norden des Landes zugewiesen – die Seenotretter*innen sind so tagelang aus dem Verkehr gezogen. Auch die Migrant*innen bekamen Roms harte Hand zu spüren: Ihnen wurde die Möglichkeit gestrichen, als Fälle anerkannt zu werden, denen humanitärer Schutz zusteht, wenn sie nicht als klassische Asylfälle anerkannt wurden.
Zielführend sind solche Maßnahmen nicht, und das weiß die postfaschistische Regierungschefin genau. Von der EU fordert sie deshalb Ressourcen, um nicht anerkannte Flüchtlinge in deren Heimatländer zurückzuschicken. Italien kommt bisher über jährlich rund 6.000 Rückführungen nicht hinaus, vor allem nach Tunesien, dem einzigen Land, mit dem das Rücknahmeabkommen funktioniert.
Roms grundlegende Haltung: Die Probleme sollen bei der Abfahrt der Migrant*innen gelöst werden, und nicht erst bei der Ankunft. Einem Prüfverfahren von Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen wie für die Brüsseler Asylreform diskutiert steht man folglich positiv gegenüber. Zugleich soll Brüssel Ressourcen bereitstellen, damit Länder wie Libyen die Abfahrten der Migrant*innen verhindern. Am Dienstag besuchte Meloni dazu Tunesien. Ginge es nach ihr, sagte sie beim Treffen mit Präsident Kais Saied, werde sie bald schon nach Tunis zurückkehren – dann in Begleitung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
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