Verschärfung des EU-Asylrechts: Bei Grünen und SPD regt sich Kritik
Die Ampel will die Reform des EU-Asylrechts mittragen. Von Grünen- und SPD-Abgeordneten kommt Protest, auch an der Grünen-Basis regt sich Widerstand.
Kritik wird auch innerhalb der Grünen lauter. In nur wenigen Tagen haben über 700 Mitglieder der Grünen einen Brief an die eigene Spitze unterzeichnet. „Die Berichte über die Prioritäten der deutschen Bundesregierung [haben uns] erschüttert“, heißt es darin. Und: „Wir erwarten, dass ihr […] dazu beitragt, dass Populismus nicht in Gesetzesform gegossen wird.“ Beide Schreiben liegen der taz vor.
Die EU-Innenminister beraten am Donnerstag in Luxemburg über die seit Jahren strittige Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Es geht unter anderem um die Frage, ob es Vorprüfungen von Asylanträgen an den EU-Außengrenzen geben soll. Die Ampel – inklusive der Grünen – hat sich dafür offen gezeigt, will aber durchsetzen, dass Minderjährige unter 18 und Familien mit Kindern diese Verfahren nicht durchlaufen müssen.
Entsprechend hatten sich auch Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck (beide Grüne) geäußert. Baerbock sagte, Grenzverfahren seien hochproblematisch, der EU-Kommissionsvorschlag sei aber die einzige Chance, auf absehbare Zeit zu einem „geordneten und humanen Verteilungsverfahren“ zu kommen.
Forderung nach klarem Verteilmechanismus
Die Abgeordneten von SPD und Grünen wenden sich in ihrem Papier unter anderem gegen die geplanten Verfahren an den EU-Außengrenzen. „Wir sehen die flächendeckende Einführung von Grenzverfahren kritisch, da sie haftähnliche Zustände befördern“, heißt es. Kritisiert wird auch die drohende Ausweitung der sicheren Drittstaaten. Entscheidend für den Ausgang eines Verfahrens seien dann nicht mehr die Ursachen für die Flucht, sondern der Reiseweg.
Auch könne ein gemeinsames europäisches Asylsystem nur „mit einer guten und verbindlichen Verteilung“ funktionieren. Einzelne Staaten könnten mit einer hohen Zahl von Geflüchteten an die Aufnahmegrenze kommen, „nicht aber ein ganzer Kontinent“. Deshalb müssten sich „möglichst viele Staaten beteiligen“. Danach sieht es derzeit aber nicht aus, Ungarn und Polen sind dagegen.
Initiiert hat das Papier die Organisation „Brand New Bundestag“, die sich parteiübergreifend für eine „progressive, zukunftsorientierte Politik“ einsetzt. Unterschrieben haben unter anderem die Bundestagsabgeordneten Hakan Demir, Sebastian Roloff, Carmen Wegge und Ye-One Rhie von der SPD sowie Kassem Taher Saleh, Canan Bayram, Awet Tesfaiesus und Lisa Badum von den Grünen.
„Im Mittelpunkt der GEAS-Reform muss die Einhaltung der Rechte der Geflüchteten stehen“, fordert SPD-Mann Hakan Demir. Deutschland müsse die von vielen EU-Staaten angestrebte Aufweichung des Asylrechts verhindern und das reguläre Asylverfahren der Normalfall bleiben – mit einer fairen und ausgewogenen europäischen Verteilung.
Druck von der Basis
„Viele Aspekte sind komplett unklar und hoch problematisch“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Kassem Taher Saleh. Der aktuelle Vorschlag werde auch nichts an den vielen Toten im Mittelmeer und auf den Fluchtwegen ändern. „Wir brauchen stattdessen sichere Fluchtrouten und eine staatliche Seenotrettung.“
Den Brief an die Grünen-Spitze hat Kassem Taher Saleh nicht unterschrieben. Dieser soll vor allem Dingen Ausdruck der Sorge an der Basis sein, heißt es. Unterzeichnet haben aber auch die Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina, die Fraktionsvorsitzende im thüringischen Landtag, Astrid Rothe-Beinlich, und Timon Dzienus, Co-Vorsitzender der Grünen Jugend. „Die Verhandlungsposition Deutschlands ist nicht, was sich die Ampel vorgenommen hat“, sagte Dzienus der taz. „Statt Verschärfungen braucht es mehr Unterstützung der Kommunen und der Länder an den EU-Außengrenzen.“
„Ich könnte kein Lager an EU-Außengrenzen mitvertreten, das geht mit grüner, menschenrechtsorientierter Flüchtlingspolitik nicht zusammen“, kritisierte auch die Thüringerin Rothe-Beinlich im Gespräch mit der taz. Es habe auch mit ihrer Ost-Erfahrung zu tun, dass sie grundsätzlich gegen tödliche Grenzen aufbegehre.
„Auch große Teile der Bundestagsfraktion sind besorgt“, sagte die niedersächsische Bundestagsabgeordente Karoline Otte der taz. Mitglieder der Fraktion aber hätten den Brief nicht unterschrieben, weil er sich auch an die eigene Fraktionsspitze richte. Sie selbst habe ihren Unmut in internen Gesprächsrunden bereits kundgetan. „Wir brauchen einen echten Solidaritätsmechanismus“, so Otte. „Man darf sich nicht rauskaufen können und so die Grausamkeit der libyschen Küstenwache finanzieren.“
Nouripour und Haßelmann wiegeln ab
Der Brief ist an die Minister*innen Annalena Baerbock, Robert Habeck und Lisa Paus sowie an die beiden Parteivorsitzenden und die beiden Fraktionschefinnen gerichtet. „Die Ausweitung sicherer Drittstaaten, schlechterer Rechtsschutz, verpflichtende Grenzverfahren in Haftlagern und eine massive Verschärfung des gescheiterten Dublin-Systems sind nur einige der Rechtsverschärfungen, die in der vorgeschlagenen Reform des Asylsystems angelegt sind“, heißt es darin.
Mitgliedsstaaten würden teilweise zur Inhaftierung der Schutzsuchenden verpflichtet und zusätzliche massive Möglichkeiten zu Asylrechtsverschärfungen auf nationaler Ebene erhalten. Das gemeinsame Ziel der Grünen sei ein anderes gewesen: „eine Reform, die geeignet ist, das Grundrecht auf Asyl zu schützen, menschenunwürdige Bedingungen zu beenden und für eine faire Verteilung zu sorgen“. Es sei schwer nachvollziehbar, warum die deutsche Verhandlungsposition nicht annähernd den Inhalten des Koalitionsvertrags entspreche.
„Der innerparteiliche Diskurs zeichnet uns als Partei aus“, meint Grünen-Chef Omid Nouripour als Reaktion auf den Brief. „Fakt ist, dass wir seit vielen Jahren ein dysfunktionales europäisches Asylsystem haben, das zu unhaltbaren Zuständen an den Außengrenzen führt.“ Deshalb setze man sich für eine europäische Reform ein, „aber nicht um jeden Preis“. Die Grünen, so Nouripour, machten sich für einen verpflichtenden europäischen Solidaritäts- und Verteilmechanismus stark. Vulnerable Gruppen müssen ebenso geschützt werden wie Schwangere und Familien mit Kindern gemäß UN-Kinderrechtskonvention von möglichen Grenzverfahren ausgenommen werden.
„Auch uns Grüne stellt diese Situation vor eine echte Herausforderung“, so die grüne Fraktionschefin Britta Haßelmann, die in dem Brief ebenfalls adressiert wird. „Wir wollen nach jahrelangem Stillstand, Rechtsverstößen und teilweise menschenunwürdigen Zuständen endlich das Leid an den Außengrenzen lindern und Schritte zu einer gemeinsamen europäischen Lösung gehen.“ Gleichzeitig teile sie die Sorgen derer, die das Recht auf Asyl als ein Grundrecht hochhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt